Verkehrsrecht

3 C 3/20

Aktenzeichen  3 C 3/20

Datum:
17.3.2021
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:BVerwG:2021:170321U3C3.20.0
Spruchkörper:
3. Senat

Leitsatz

Zur Klärung von Zweifeln an der Fahreignung ist ein medizinisch-psychologisches Gutachten beizubringen, wenn der Betroffene bei einer einmaligen Trunkenheitsfahrt mit einem Kraftfahrzeug zwar eine Blutalkoholkonzentration (BAK) von weniger als 1,6 Promille aufwies, bei ihm aber trotz einer BAK von 1,1 Promille oder mehr keine alkoholbedingten Ausfallerscheinungen festgestellt wurden. Bei solchen Anhaltspunkten für eine überdurchschnittliche Alkoholgewöhnung und eine damit einhergehende erhöhte Wiederholungsgefahr begründen sonst Tatsachen die Annahme von Alkoholmissbrauch (§ 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a Alt. 2 FeV).

Verfahrensgang

vorgehend Hessischer Verwaltungsgerichtshof, 22. Oktober 2019, Az: 2 A 641/19, Urteilvorgehend VG Kassel, 12. November 2018, Az: 2 K 1637/18.KS, Urteil

Tenor

Das Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 22. Oktober 2019 wird geändert. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Kassel vom 12. November 2018 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens.

Tatbestand

1
Der Kläger begehrt die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis.
2
Er wurde am 12. November 2016 um 02:40 Uhr als Fahrer eines Pkw im Rahmen einer Verkehrskontrolle überprüft. Da die Polizeibeamten Alkoholgeruch bemerkten, wurde beim Kläger um 03:15 Uhr eine Blutprobe entnommen; sie wies eine Blutalkoholkonzentration von 1,3 Promille auf. Im “Vorläufigen Blutalkoholgutachten” des Instituts für Rechtsmedizin des Universitätsklinikums Gießen und Marburg wird ergänzend ausgeführt, dass die Rückrechnung auf den Zeitpunkt des Vorfalls je nach dem zugrunde gelegten Rückrechnungswert eine Blutalkoholkonzentration von mindestens 1,35 Promille und maximal 1,62 Promille ergebe.
3
Das Amtsgericht Kassel verurteilte den Kläger wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr (§ 316 Abs. 1 und 2 StGB) rechtskräftig zu einer Geldstrafe, entzog ihm die Fahrerlaubnis (§§ 69, 69a StGB) und ordnete für die Neuerteilung eine Sperrfrist von neun Monaten an.
4
Im Mai 2017 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Neuerteilung der Fahrerlaubnis. Sie forderte ihn daraufhin gestützt auf § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a der Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV) auf, ein medizinisch-psychologisches Gutachten zur Frage beizubringen, ob er trotz der Hinweise auf Alkoholmissbrauch im Sinne der Anlage 4 ein Fahrzeug der Gruppe 1 sicher führen könne und nicht zu erwarten sei, dass er ein Kraftfahrzeug unter einem die Fahrsicherheit beeinträchtigenden Alkoholeinfluss führen werde. Der Kläger sei nach seinen Angaben im Strafverfahren selbst über den hohen Promillewert erschrocken gewesen und habe sich nicht betrunken gefühlt. Bei der Polizeikontrolle und der ärztlichen Untersuchung habe er keine alkoholbedingten Ausfallerscheinungen gezeigt. Damit lägen zusätzliche Tatsachen vor, die die Annahme künftigen Alkoholmissbrauchs begründeten. Es sei nicht auszuschließen, dass sich der Kläger auch künftig fahrtüchtig fühlen werde, obwohl er alkoholbedingt nicht in der Lage sei, ein Fahrzeug sicher zu führen.
5
Nachdem der Kläger ein solches Gutachten nicht innerhalb der gesetzten Frist beigebracht hatte, lehnte die Beklagte seinen Antrag mit Bescheid vom 19. Dezember 2017 gestützt auf § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV ab. Dass er das von ihm zu Recht geforderte medizinisch-psychologische Gutachten nicht vorgelegt habe, zeige, dass er Mängel verbergen wolle, die seine Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausschlössen.
6
Seine nach erfolglosem Widerspruch erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht Kassel abgewiesen. Die Beklagte habe zu Recht angenommen, dass zusätzliche Tatsachen die Annahme künftigen Alkoholmissbrauchs begründeten und damit die Voraussetzungen von § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a Alt. 2 FeV erfüllt seien. Nach den Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung sei von Alkoholmissbrauch u.a. dann auszugehen, wenn es – wie beim Kläger – zu einer einmaligen Fahrt unter hoher Alkoholkonzentration (ohne weitere Anzeichen einer Alkoholwirkung) gekommen sei. Von einem hohen Blutalkoholwert, dessen Erreichen oder Überschreiten auf hohe Trinkfestigkeit schließen lasse, sei ab 1,3 Promille auszugehen. Der Kläger habe ein Kraftfahrzeug mit einer Blutalkoholkonzentration von mindestens 1,35 Promille geführt. Der Verdacht einer Alkoholproblematik werde durch zusätzliche Tatsachen erhärtet. Nach den von der Polizei bei der Verkehrskontrolle getroffenen Feststellungen und dem ärztlichen Untersuchungsbericht seien beim Kläger trotz seines hohen Alkoholisierungsgrads nahezu keine alkoholbedingten Ausfallerscheinungen feststellbar gewesen.
7
Auf die Berufung des Klägers hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof die erstinstanzliche Entscheidung geändert, die angegriffenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, dem Kläger die beantragte Fahrerlaubnis ohne vorherige Beibringung eines medizinisch-psychologischen Fahreignungsgutachtens zu erteilen. Zur Begründung wird ausgeführt: Allein das Fehlen von Ausfallerscheinungen bei der einmaligen Alkoholfahrt des Klägers mit einer Blutalkoholkonzentration von 1,3 Promille genüge nicht, um als sonstige Tatsache im Sinne von § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a Alt. 2 FeV die Anforderung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens zu rechtfertigen. Diese Bestimmung sei eine Auffangregelung für Fallkonstellationen, die nicht unter § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b bis e FeV fielen. Inhalt und Grenzen ergäben sich aus dem Vergleich mit den dort erfassten anderen Fallgruppen, in denen im Zusammenhang mit Alkohol die Anordnung einer medizinisch-psychologischen Begutachtung vorgesehen sei. Eine Alkoholmissbrauch kennzeichnende hohe Alkoholkonzentration werde vom Verordnungsgeber auch beim Fehlen alkoholbedingter Ausfallerscheinungen an den in § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c FeV genannten Wert von 1,6 Promille gekoppelt. Entscheidend für die Anforderung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens nach einer Alkoholauffälligkeit im Straßenverkehr sei die Rückfallwahrscheinlichkeit. § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c FeV liege die Erwartung zugrunde, bei einer einmaligen Trunkenheitsfahrt mit einer Blutalkoholkonzentration unter 1,6 Promille führten bereits die Strafe und die Fahrerlaubnisentziehung dazu, dass der mit der Trunkenheitsfahrt dokumentierte Alkoholmissbrauch nicht mehr bestehe. Über die Absenkung dieses Grenzwertes müsse der Verordnungsgeber entscheiden. Der Verkehrsgerichtstag habe im Jahr 2016 gefordert, nach einer einmaligen Auffälligkeit im Straßenverkehr bereits ab 1,1 Promille die Anordnung einer medizinisch-psychologischen Untersuchung vorzusehen. Diesen Vorschlag habe der Verordnungsgeber bislang nicht aufgegriffen.
8
Zur Begründung ihrer Revision macht die Beklagte geltend: § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a Alt. 2 FeV sei so zu verstehen, dass diese Bestimmung, wenn es – wie hier – nur zu einer einmaligen Alkoholfahrt mit einer Blutalkoholkonzentration unter 1,6 Promille gekommen sei, die Anforderung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens gestatte, wenn zusätzliche konkrete Anzeichen für Alkoholmissbrauch vorlägen. Aus der Systematik der Buchstaben b und c folge nicht, dass eine einmalige Trunkenheitsfahrt mit einer Blutalkoholkonzentration unter 1,6 Promille im Rahmen des Buchstaben a Alternative 2 überhaupt keine Berücksichtigung finden dürfe; vielmehr dürfe dieser Umstand in eine Gesamtschau einbezogen werden. Das Bundesverwaltungsgericht habe anerkannt, dass das Fehlen von Ausfallerscheinungen, das auf eine gewisse Giftfestigkeit schließen lasse, ein relevanter Anhaltspunkt sein könne. Beim Kläger seien keine Ausfallerscheinungen aufgetreten. Das belege eine hohe Alkoholgewöhnung und spreche dafür, dass er auch in der Zukunft nicht fähig sei, seine Alkoholisierung zutreffend einzuschätzen.
9
Der Kläger verteidigt das angegriffene Urteil.
10
Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht trägt in Übereinstimmung mit dem Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur vor: Auch wenn – wissenschaftlich gesehen – das Fehlen von Ausfallerscheinungen bei einer Blutalkoholkonzentration von 1,3 Promille gegebenenfalls für eine hohe Alkoholgewöhnung sprechen könne, sei dieser Umstand nicht als zusätzliche Tatsache im Sinne von § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a Alt. 2 FeV zu werten. Der Vorrang des Buchstaben c greife auch bei einem Fehlen von Ausfallerscheinungen. Mit der dort vorgenommenen Absenkung des Promillewertes habe die Anordnung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens ab einer Blutalkoholkonzentration von 1,6 Promille auch bei Ersttätern ohne weitere Auffälligkeiten ermöglicht werden sollen. Über die Forderung des Verkehrsgerichtstags, den im Buchstaben c genannten Promillewert auf 1,1 Promille zu senken, habe das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur noch nicht abschließend entschieden. Das erfordere eine umfassende Diskussion, die noch nicht abgeschlossen sei; das Thema werde voraussichtlich in der nächsten Legislaturperiode abschließend bearbeitet.


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