Verkehrsrecht

Entziehung der Fahrerlaubnis nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem

Aktenzeichen  Au 7 K 19.1424

Datum:
2.12.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
LSK – 2019, 31207
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
StVG § 4 Abs. 5 S. 1 Nr. 3, S. 5, S. 6, Abs. 6 S. 2, S. 3
VwZVG Art. 3
ZPO § 180

 

Leitsatz

Dass die zur Entziehung der Fahrerlaubnis führende Tat bereits vor der Ermahnung bzw. Verwarnung begangen war, aufgrund erst späterer Rechtskraft und darauffolgender Mitteilung an die Fahrerlaubnisbehörde aber erst zeitlich nach der Ermahnung bzw. Verwarnung berücksichtigt wurde, führt nicht zu einer Punktereduzierung. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch die Beklagte durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Gemäß § 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) konnte die Entscheidung mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung ergehen.
I.
Die Anfechtungsklage ist nach Auslegung des klägerischen Begehrens gemäß § 88 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) zulässig. Der uneingeschränkt formulierte Klageantrag soll sich hiernach gleichwohl nicht gegen die Androhung des Zwangsgeldes richten. Da der Kläger den Führerschein gemäß Aktenvermerk bereits am 30. August 2019 bei der Fahrerlaubnisbehörde abgeliefert hat, würde es sich hierbei um einen unzulässigen Antrag handeln. Das angedrohte Zwangsgeld kann aufgrund der Ablieferung nicht mehr fällig werden. Die Zwangsgeldandrohung hat sich damit erledigt. Ein Rechtsschutzbedürfnis zur Überprüfung ihrer Rechtmäßigkeit bestünde damit nicht (vgl. VG München, B.v. 4.12.2015 – M 1 S 15.4366 – Rn. 18, juris). Durch die Ablieferung des Führerscheins nicht erledigt hat sich hingegen die Verpflichtung zur Abgabe desselben in Nr. 2 des Bescheids, denn diese stellt den Rechtsgrund für das vorläufige Behaltendürfen dieses Dokuments für die Fahrerlaubnisbehörde dar (BayVGH, B.v. 12.2.2014 – 11 CS 13.2281 – juris).
II.
Die so ausgelegte, zulässige Anfechtungsklage ist aber unbegründet, da der angegriffene Bescheid vom 26. August 2019 rechtmäßig ist und den Kläger daher nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1. Bedenken gegen die formelle Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids bestehen nicht und wurden auch nicht vorgetragen.
2. Die in Nr. 1 des Bescheids getroffene Entziehungsentscheidung ist auch materiell rechtmäßig, denn die Fahrerlaubnisbehörde ging beim Erlass des Bescheids zutreffend von einem Stand von 8 Punkten im Fahreignungsregister (FAER) aus.
Im Rahmen der gerichtlichen Prüfung fahrerlaubnisrechtlicher Entziehungsverfügungen ist nach ständiger Rechtsprechung auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der abschließenden Entscheidung der handelnden Verwaltungsbehörde abzustellen (vgl. BVerwG, U.v. 27.9.1995 – 11 C 34.94 – BVerwGE 99, 249 = juris, Rn. 9, und B.v. 22.1. 2001 – 3 B 144.00 – juris, Rn. 2). Da ein Widerspruchsverfahren hier nicht durchgeführt wurde, ist dies der Zeitpunkt des Erlasses des streitgegenständlichen Entziehungsbescheids vom 26. August 2019, d.h. der Tag der Bekanntgabe am 27. August 2019.
a) Maßgebliche Rechtsgrundlage für die Entziehung der Fahrerlaubnis ist § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG. Danach gilt der Inhaber einer Fahrerlaubnis als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen und die Fahrerlaubnis ist ihm zu entziehen, wenn sich acht oder mehr Punkte im FAER ergeben. Nach § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG ergeben sich Punkte mit der Begehung der Straftat oder Ordnungswidrigkeit, sofern sie rechtskräftig geahndet wird. Nach § 4 Abs. 5 Satz 5 StVG ist für das Ergreifen der Maßnahmen auf den Punktestand abzustellen, der sich zum Zeitpunkt der Begehung der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Straftat oder Ordnungswidrigkeit ergeben hat. Damit hat der Gesetzgeber das in der Rechtsprechung entwickelte sog. Tattagprinzip normiert. Es kommt hier also auf den Punktestand am 7. Februar 2019 an. Durch die am 7. Februar 2019 begangene Ordnungswidrigkeit, die seit 24. April 2019 rechtskräftig geahndet ist und mit einem Punkt bewertet wurde, hat der Kläger am 7. Februar 2019 acht Punkte im FAER erreicht. Hierzu wird auf die Übersicht oben unter I.2. Bezug genommen. Eine spätere Veränderung des Punktestands wäre für die Fahrerlaubnisentziehung im Übrigen unerheblich, da spätere Verringerungen des Punktestands aufgrund von Tilgungen unberücksichtigt bleiben (§ 4 Abs. 5 Satz 7 StVG). Zum maßgeblichen Zeitpunkt waren indes sämtliche Ordnungswidrigkeiten noch nicht tilgungsreif.
b) Der Kläger hat hierbei das Stufensystem des § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG ordnungsgemäß durchlaufen und daher keinen Anspruch auf eine Punktereduzierung nach § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG, sodass ihm die Fahrerlaubnis gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG (zwingend) zu entziehen war.
aa) So wurde dem Kläger beim Stand von vier Punkten im FAER mit Schreiben der Fahrerlaubnisbehörde vom 12. März 2019 eine Ermahnung als erste Maßnahmenstufe (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 StVG) erteilt. Die Möglichkeit zur Punktereduzierung durch ein Fahreignungsseminar hat der Kläger nicht wahrgenommen. Beim Stand von sechs Punkten im FAER wurde sodann mit Schreiben vom 16. April 2019 die Verwarnung als zweite Stufe (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG) ergriffen.
bb) Beide Schreiben wurden dem Kläger entgegen seiner Ansicht ordnungsgemäß im Wege der Ersatzzustellung gemäß Art. 3 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 VwZVG i.V.m. § 180 Zivilprozessordnung (ZPO) bereits durch das – mit Postzustellungsurkunde nachgewiesene – Einlegen in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten zugestellt, sodass es auf die strittige Tatsache, ob die Ehefrau die beiden Schreiben an den Kläger weitergegeben habe, nicht ankommt. Mit der Einlegung gilt das Schriftstück als zugestellt (§ 180 S. 2 ZPO). Im Übrigen wird hier auf die Begründung der Beklagten vom 8. Oktober 2019 Bezug genommen.
cc) Die Fahrerlaubnisbehörde ging ferner zum Zeitpunkt der Ermahnung am 12. März 2019 zu Recht von vier Punkten und zum Zeitpunkt der Verwarnung am 16. April 2019 zu Recht von sechs Punkten aus, da ihr die übrigen Taten jeweils erst später, d.h. nach Ermahnung bzw. Verwarnung bekannt wurden. Dass die zur Entziehung führende Tat vom 7. Februar 2019 somit bereits vor der Ermahnung bzw. Verwarnung begangen war, aufgrund erst späterer Rechtskraft und darauffolgender Mitteilung an die Fahrerlaubnisbehörde aber erst zeitlich nach der Ermahnung bzw. Verwarnung berücksichtigt wurde, führt nicht zu einer Punktereduzierung gemäß § 4 Abs. 6 Sätze 3 und 2 StVG, vgl. § 4 Abs. 5 Satz 6 Nr. 1 StVG.
Spätestens seit der zum 5. Dezember 2014 in Kraft getretenen erneuten Gesetzesänderung bezüglich des StVG ist für das Ergreifen von Maßnahmen nach rechtskräftiger Ahndung der Zuwiderhandlung nicht mehr ausschließlich auf den sich für den betreffenden Tattag ergebenden Punktestand abzustellen. Maßgebend für die Rechtmäßigkeit einer Maßnahme nach § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG und eine Verringerung des Punktestandes nach § 4 Abs. 6 Sätze 3 und 2 StVG sind die im Fahrerlaubnisregister eingetragenen und der Fahrerlaubnisbehörde im Zeitpunkt des Ergreifens der Maßnahme nach § 4 Abs. 8 StVG übermittelten Zuwiderhandlungen. Nach neuer Rechtslage sollen im Rahmen des Fahreignungs-Bewertungssystems bei Fahrerlaubnisinhabern, die sich durch eine Anhäufung von innerhalb kurzer Zeit begangenen Verkehrsverstößen als ungeeignet erwiesen haben, die Verkehrssicherheit und das Ziel, die Allgemeinheit vor ungeeigneten Fahrern zu schützen, Vorrang vor dem Erziehungsgedanken haben. Für das Fahreignungs-Bewertungssystem des § 4 StVG soll es nicht mehr darauf ankommen, dass eine Maßnahme den Betroffenen vor der Begehung weiterer Verstöße erreicht und ihm die Möglichkeit der Verhaltensänderung einräumt, bevor es zu weiteren Maßnahmen kommen darf. Die Erziehungswirkung liegt – laut dem Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur zur Begründung der vorgeschlagenen und im Gesetzgebungsverfahren angenommenen Änderungen des Regierungsentwurfs – dem Gesamtsystem als solchem zu Grunde, während die Stufen in erster Linie der Information des Betroffenen dienen. Die Maßnahmen stellen somit lediglich eine Information über den Stand im System dar. Die Prüfung der Behörde, ob die Maßnahme der vorangehenden Stufe bereits ergriffen worden ist, ist vom Kenntnisstand der Behörde bei der Bearbeitung zu beurteilen und beeinflusst das Entstehen von Punkten nicht (BT-Drs. 18/2775 S. 9 f.). Umgesetzt wird dieser vom Gesetzgeber gewollte Systemwechsel insbesondere durch § 4 Abs. 5 Satz 6 Nr. 1 und § 4 Abs. 6 Satz 4 StVG (vgl. zum Ganzen BVerwG, U.v. 26.01.2017 – 3 C 21/15 – juris Rn. 22 ff.). Streng nach dem Tattagprinzip wären zum Zeitpunkt der Ergreifung der Maßnahme der Ermahnung nach der insgesamt letzten Tat vom 18. Februar 2019 zwar bereits acht Punkte verwirklicht gewesen, sodass grundsätzlich bereits der Punktestand für eine Entziehung erfüllt gewesen wäre. Allerdings hatte die Fahrerlaubnisbehörde zu diesem Zeitpunkt noch keine Kenntnis von den übrigen Taten, sodass die ausgesprochene Ermahnung die korrekte Maßnahme darstellte. Die Einbeziehung dieser Tat in die Berechnung des für die Maßnahme der Entziehung maßgeblichen Punktestandes wird hierdurch ausdrücklich nicht gehindert gemäß § 4 Abs. 5 Satz 6 Nr. 1 StVG. Da somit beide vorhergehenden Maßnahmen-Stufen ordnungsgemäß durchlaufen worden sind, kommt es nicht zu einer Punktereduzierung wegen Nichtergreifens einer vorhergehenden Maßnahme nach § 4 Abs. 6 Sätze 3 und 2 StVG (vgl. zum Ganzen VG Augsburg, B.v. 8.7.2019 – Au 7 S 19.751, bestätigt vom BayVGH, B.v. 23.9.2019 – 11 CS 19.1542).
dd) Nach der Ermahnung vom 12. März 2019 bzw. der Verwarnung vom 16. April 2019 kam der Kläger zu keinem Zeitpunkt mehr auf einen Punktestand der niedrigeren Stufe, sodass eine erneute Maßnahmendurchführung wegen Zurückfallens auf einen geringeren Punktestand nicht zu erfolgen hatte. Vielmehr beging er alle sieben Ordnungswidrigkeiten innerhalb von nur ca. einem Jahr.
c) Es ist darauf hinzuweisen, dass die Entziehung der Fahrerlaubnis ab einem Stand von acht Punkten zwingend ist und der Fahrerlaubnisbehörde insoweit keinerlei Ermessensspielraum bleibt. Nicht gefolgt werden kann daher der Ansicht der Beklagten, dass ihr für die Entziehung der Fahrerlaubnis zwar kein Entschließungs-, aber ein Auswahlermessen zustehe (s. S. 7 des Bescheides). Der Gesetzeswortlaut des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG ist ebenso wie der des allgemeinen § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG insoweit eindeutig. Die Ausführungen zu den Möglichkeiten von Beschränkungen und Auflagen gehen daher von vornherein fehl. Der Kläger wird seine Fahrerlaubnis auf jeden Fall erst wieder erhalten, wenn er eine Frist von sechs Monaten nach Ablieferung des Führerscheins abgewartet (§ 4 Abs. 10 Sätze 1 und 3 StVG) und in der Regel ein positives Gutachten einer Begutachtungsstelle für Fahreignung beigebracht hat (§ 4 Abs. 10 Satz 4 StVG).
3. Folglich ist auch die auf die Entziehung gestützte Anordnung zur Ablieferung des Führerscheins in Nr. 2 des Bescheids nach § 3 Abs. 2 Satz 3 StVG, § 47 Abs. 1 Sätze 1 und 2 FeV rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
III.
Als unterliegende Partei trägt der Kläger die Kosten des Verfahrens nach § 154 Abs. 1 VwGO.
IV.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 2, Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 der Zivilprozessordnung (ZPO).


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