Verkehrsrecht

Entziehung der Fahrerlaubnis wegen nicht fristgerechter Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens, Gefährdung des Straßenverkehrs, Nötigung

Aktenzeichen  11 CS 21.2171

Datum:
28.1.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 954
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
StVG § 2 Abs. 4 S. 1, 8
StVG § 3 Abs. 1 S. 1, Abs. 4
FeV § 11 Abs. 3, Abs. 8
FeV § 46 Abs. 1 S. 1, Abs. 3

 

Leitsatz

Verfahrensgang

AN 10 S 21.944 2021-07-26 Bes VGANSBACH VG Ansbach

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Entziehung seiner Fahrerlaubnis der Klassen A und B (mit Unterklassen).
Mit rechtskräftigem Strafbefehl vom 20. Februar 2019 verhängte das Amtsgericht Schwandorf gegen den Antragsteller wegen fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs in Tateinheit mit Nötigung eine Geldstrafe sowie ein Fahrverbot von vier Monaten. Nach den Feststellungen des Amtsgerichts fuhr der Antragsteller am 14. September 2018 mit seinem Pkw auf der Bundesautobahn A6 zwischen der Anschlussstelle Schmidgaden und dem Kreuz Oberpfälzer Wald auf der rechten Fahrspur. Hinter ihm befand sich der Fahrer eines Wohnmobils (Geschädigter), nachdem beide zuvor einen vor ihnen fahrenden Lkw überholt hatten. Als der Antragsteller bemerkte, dass der Geschädigte zum Überholen eines weiteren vor ihm fahrenden Lkw ansetzte und auf die linke Spur wechselte, sodass es dem Antragsteller nicht zeitgleich möglich war, ebenfalls die Spur zu wechseln, fuhr er auf den rechten Standstreifen und überholte den Lkw dort parallel zum Geschädigten. Nach Abschluss des Überholmanövers zog der Antragsteller zurück auf die rechte Spur, obwohl für ihn erkennbar der Geschädigte im Begriff war, sich ebenfalls wieder rechts einzuordnen. Dies hatte, wie der Antragsteller zumindest billigend in Kauf nahm, zur Folge, dass der Geschädigte abrupt auf die linke Spur ausweichen musste und das Wohnmobil fast umkippte, fast gegen die Mittelleitplanke stieß und nur durch Zufall nicht beschädigt wurde. Hierdurch wollte der Antragsteller den Geschädigten für sein vorangegangenes Verhalten im Straßenverkehr maßregeln.
Unter Bezugnahme auf diesen Sachverhalt forderte die Antragsgegnerin den Antragsteller mit Schreiben vom 11. Mai 2020 auf, ein medizinisch-psychologisches Gutachten beizubringen.
Nachdem innerhalb der bis zum 2. April 2021 verlängerten Frist kein Gutachten vorgelegt wurde, entzog die Antragsgegnerin dem Antragsteller mit Bescheid vom 27. April 2021 die Fahrerlaubnis und forderte ihn unter Androhung unmittelbaren Zwangs auf, den Führerschein unverzüglich, spätestens innerhalb einer Woche ab Zustellung des Bescheids abzugeben. Ferner ordnete sie die sofortige Vollziehung dieser Verfügungen an.
Hiergegen ließ der Antragsteller fristgerecht Klage (AN 10 K 21.945) erheben und einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO stellen, den das Verwaltungsgericht Ansbach mit Beschluss vom 26. Juli 2021 ablehnte. Die Klage bleibe voraussichtlich ohne Erfolg. Die Antragsgegnerin habe nach § 11 Abs. 8 FeV auf die mangelnde Eignung des Antragstellers zum Führen von Kraftfahrzeugen schließen müssen, da dieser das rechtmäßig geforderte Gutachten nicht vorgelegt habe.
Zur Begründung der Beschwerde, der die Antragsgegnerin entgegentritt, lässt der Antragsteller ausführen, der Entziehung stehe die Bindungswirkung des Strafbefehls entgegen. Das Absehen von einer Entziehung der Fahrerlaubnis enthalte inzident die Feststellung der Fahreignung. Der Entzug im Anschluss an das Fahrverbot komme einer Doppelbestrafung gleich. Zudem fehle ein unmittelbarer zeitlicher Zusammenhang zwischen der Tat und der Gutachtensanordnung.
Wegen des weiteren Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
II.
Die Beschwerde hat in der Sache keinen Erfolg. Es kann dahinstehen, ob die Beschwerdebegründung sich hinreichend mit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzt und insoweit den Anforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO genügt. Selbst wenn man von einer Erfüllung des Darlegungserfordernisses und damit einer zulässigen Beschwerde ausgeht, ist diese nicht begründet. Denn aus den im Beschwerdeverfahren vorgetragenen Gründen, auf deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Sätze 1 und 6 VwGO), ergibt sich nicht, dass die Entscheidung des Verwaltungsgerichts zu ändern und die aufschiebende Wirkung der Klage wiederherzustellen oder anzuordnen wäre.
1. Geeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen ist, wer die notwendigen körperlichen und geistigen Anforderungen erfüllt und nicht erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder gegen Strafgesetze verstoßen hat (§ 2 Abs. 4 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes [StVG] in der Fassung der Bekanntmachung vom 5.3.2003 [BGBl I S. 310, 919], im maßgeblichen Zeitpunkt des Bescheiderlasses zuletzt geändert durch Gesetz vom 3.12.2020 [BGBl I S. 2667], § 11 Abs. 1 Sätze 1 bis 3 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr vom 13.12.2010 [Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV, BGBl I S. 1980], im maßgeblichen Zeitpunkt zuletzt geändert durch die zum Teil zum 1.4.2021 in Kraft getretene Verordnung vom 16.11.2020 [BGBl I S. 2704]).
Erweist sich jemand als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen, so hat ihm die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen (§ 3 Abs. 1 Satz 1 StVG, § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV). Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken gegen die Eignung begründen, so kann die Fahrerlaubnisbehörde die Beibringung eines Fahreignungsgutachtens anordnen (§ 2 Abs. 8 StVG, § 46 Abs. 3 i.V.m. § 11 Abs. 2 bis Abs. 6 FeV). Unter anderem kann die Beibringung eines Gutachtens einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung (medizinisch-psychologisches Gutachten) zur Klärung von Eignungszweifeln angeordnet werden bei einer erheblichen Straftat, die im Zusammenhang mit der Kraftfahreignung steht, insbesondere wenn Anhaltspunkte für ein hohes Aggressionspotenzial bestehen oder die erhebliche Straftat unter Nutzung eines Fahrzeugs begangen wurde (§ 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 6 FeV), und bei Straftaten, die im Zusammenhang mit der Kraftfahreignung stehen, insbesondere wenn Anhaltspunkte für ein hohes Aggressionspotential bestehen (§ 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 7 FeV).
Weigert sich der Betroffene, sich untersuchen zu lassen, oder bringt er der Fahrerlaubnisbehörde das von ihr geforderte Gutachten nicht fristgerecht bei, darf diese bei ihrer Entscheidung auf die Nichteignung des Betroffenen schließen (§ 11 Abs. 8 Satz 1 FeV). Der Schluss aus der Nichtvorlage eines angeforderten Fahreignungsgutachtens auf die fehlende Fahreignung ist gerechtfertigt, wenn die Anordnung formell und materiell rechtmäßig, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig war (stRspr, vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2016 – 3 C 20.15 – BVerwGE 156, 293 = juris Rn. 19 m.w.N.). Bei feststehender Ungeeignetheit ist die Entziehung der Fahrerlaubnis zwingend, ohne dass der Fahrerlaubnisbehörde ein Ermessensspielraum zukäme. Dies gilt auch bei Nichtvorlage eines zu Recht geforderten Fahreignungsgutachtens.
2. Das Beschwerdevorbringen beschränkt sich im Wesentlichen auf die Frage, ob der Strafbefehl des Amtsgerichts Schwandorf vom 20. Februar 2019 dem Schluss aus der Nichtvorlage des angeforderten Gutachtens auf die fehlende Eignung des Antragstellers entgegensteht. Das hat das Verwaltungsgericht zu Recht verneint.
a) Will die Fahrerlaubnisbehörde in einem Entziehungsverfahren einen Sachverhalt berücksichtigen, der Gegenstand der Urteilsfindung in einem Strafverfahren gegen den Inhaber der Fahrerlaubnis gewesen ist, so kann sie gemäß § 3 Abs. 4 Satz 1 StVG zu dessen Nachteil vom Inhalt des Urteils insoweit nicht abweichen, als es sich auf die Feststellung des Sachverhalts oder die Beurteilung u.a. der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen bezieht. Dabei gilt die in § 3 Abs. 4 Satz 1 StVG angeordnete Bindungswirkung nicht nur für die Maßnahme der Entziehung selbst, sondern nach ihrem Sinn und Zweck für das gesamte Entziehungsverfahren unter Einschluss der vorbereitenden Maßnahmen, sodass in derartigen Fällen die Behörde schon die Beibringung eines Gutachtens nicht anordnen darf. Mit dieser Vorschrift soll die sowohl dem Strafrichter (vgl. § 69 StGB) als auch der Verwaltungsbehörde (vgl. § 3 Abs. 1 StVG) eingeräumte Befugnis, bei fehlender Kraftfahreignung die Fahrerlaubnis zu entziehen, so aufeinander abgestimmt werden, dass Doppelprüfungen unterbleiben und die Gefahr widersprechender Entscheidungen ausgeschaltet wird. Der Vorrang der strafrichterlichen vor der behördlichen Entscheidung findet seine innere Rechtfertigung darin, dass auch die Entziehung der Fahrerlaubnis durch den Strafrichter als Maßregel der Besserung und Sicherung keine Nebenstrafe, sondern eine in die Zukunft gerichtete, aufgrund der Sachlage zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung zu treffende Entscheidung über die Gefährlichkeit des Kraftfahrers für den öffentlichen Straßenverkehr ist. Insofern deckt sich die dem Strafrichter übertragene Befugnis mit der Ordnungsaufgabe der Fahrerlaubnisbehörde. Allerdings ist die Verwaltungsbehörde an die strafrichterliche Eignungsbeurteilung nur dann gebunden, wenn diese auf ausdrücklich in den schriftlichen Urteilsgründen getroffenen Feststellungen beruht und wenn die Behörde von demselben und nicht von einem anderen, umfassenderen Sachverhalt als der Strafrichter auszugehen hat. Die Bindungswirkung lässt sich nur rechtfertigen, wenn die Verwaltungsbehörde den schriftlichen Urteilsgründen sicher entnehmen kann, dass überhaupt und mit welchem Ergebnis das Strafgericht die Fahreignung beurteilt hat. Andere Erkenntnisquellen kommen aus Gründen der Rechtsklarheit nicht in Betracht. Deshalb entfällt die Bindungswirkung, wenn das Strafurteil überhaupt keine Ausführungen zur Kraftfahreignung enthält oder wenn jedenfalls in den schriftlichen Urteilsgründen unklar bleibt, ob das Strafgericht die Fahreignung eigenständig beurteilt hat (vgl. zum Ganzen BVerwG, U.v. 15.7.1988 – 7 C 46.87 – BVerwGE 80, 43 = juris Rn. 10 f.; B.v. 11.10.1989 – 7 B 150.89 – juris Rn. 2; BayVGH, B.v. 15.3.2021 – 11 CS 20.2867 – DAR 2021, 647 = juris Rn. 24). Diese Grundsätze gelten auch, wenn das Strafgericht einen Strafbefehl erlässt (§ 3 Abs. 4 Satz 2 StVG). Um den Eintritt einer Bindung überprüfen zu können, verpflichtet § 267 Abs. 6 Satz 2 i.V.m. § 409 Abs. 1 Satz 3 StPO den Strafrichter zu einer besonderen Begründung, wenn er im Strafbefehl von der Entziehung der Fahrerlaubnis absieht, obwohl dies – wie hier (§ 69 Abs. 2 Nr. 1 StGB) – nach der Art der Straftat in Betracht gekommen wäre (vgl. auch BVerwG, U.v. 15.7.1988, a.a.O. Rn. 11; Maur in Karlsruher Kommentar zur StPO, 8. Aufl. 2019, § 409 Rn. 10).
b) Demnach stand hier die Bindungswirkung nach § 3 Abs. 4 StVG der Anordnung, ein Gutachten beizubringen, nicht entgegen. Der Strafbefehl des Amtsgerichts Schwandorf vom 20. Februar 2019 enthält keine Ausführungen zur Fahreignung des Antragstellers und einer Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 StGB, sondern verhält sich allein zur Frage eines Fahrverbots (§ 44 StGB). Ihm lässt sich damit bereits nicht entnehmen, ob das Strafgericht eine eigenständige Eignungsbeurteilung in dem von § 3 Abs. 4 StVG vorausgesetzten Sinn überhaupt vorgenommen hat. Die vom Antragsteller daraus gezogene Schlussfolgerung, das Strafgericht habe die Fahreignung stillschweigend bejaht, findet nach den vorgenannten Grundsätzen keine Stütze im Gesetz (vgl. dazu auch BayVGH, B.v. 7.8.2008 – 11 CS 08.1854 – BayVBl 2009, 111 = juris Rn. 39 f.; B.v. 8.1.2015 – 11 CS 14.2389 – juris Rn. 15; B.v. 15.3.2021, a.a.O. Rn. 25; OVG NW, B.v. 21.7.2004 – 19 B 862/04 – DAR 2004, 721 = juris Rn. 11 ff.; OVG NW, B.v. 1.8.2014 – 16 A 2960/11 – juris Rn. 6 ff.; SächsOVG, B.v. 2.7.2017 – 3 B 95/17 – DAR 2017, 650 = juris Rn. 14 ff.; OVG Hamburg, B.v. 7.7.1994 – Bs VII 93/94 – VRS 89, 151 = juris Rn. 3 f.; NdsOVG, U.v. 10.12.1970 – VI OVG A 89/70 – NJW 1971, 956; Koehl in MüKo StVR, 1. Aufl. 2016, § 3 StVG Rn. 81; Dauer in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Aufl. 2021, § 3 StVG Rn. 59).
c) Entgegen der Auffassung des Antragstellers verstößt die Entziehung der Fahrerlaubnis nicht deswegen gegen das Verbot der Doppelbestrafung (ne bis in idem; Art. 103 Abs. 3 GG), weil gegen ihn wegen der Tat bereits ein Fahrverbot verhängt worden ist. Die Entziehung der Fahrerlaubnis wegen der Nichteignung des Betroffenen ist eine präventive Maßnahme der Gefahrenabwehr und dient nicht der Sanktionierung eines Verhaltens (vgl. BVerfG, B.v. 18.11.1966 – 1 BvR 173/63 – BVerfGE 20, 365 = juris Rn. 17 ff.; VGH BW, B.v. 12.9.2005 – 10 S 1642/05 – ZfS 2006, 175 = juris Rn. 5; BayVGH, B.v. 3.11.2021 – 11 CS 21.1000 – BeckRS 2021, 33592 Rn. 37).
3. Soweit der Antragsteller einen unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang zwischen Tatbegehung und Gutachtensanordnung vermisst und daher wohl Eignungszweifel verneinen möchte, hat das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt, dass Taten verwertbar sind und dem Betroffenen vorgehalten werden können, soweit sie – wie hier – im Fahreignungsregister noch nicht getilgt und nicht tilgungsreif sind (vgl. BVerwG, U.v. 9.6.2005 – 3 C 21.04 – NJW 2005, 3440 = juris Rn. 25 f.; BayVGH, B.v. 16.9.2020 – 11 CS 20.1061 – juris Rn. 18). Dem hat der Antragsteller nichts Substantielles entgegengesetzt.
4. Die Beschwerde war demnach mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. den Empfehlungen in Nr. 1.5 Satz 1, Nr. 46.1, 46.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.
5. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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