Verkehrsrecht

Punkteberechnung bei Tilgung von nach altem Recht bewerteten Zuwiderhandlungen

Aktenzeichen  11 CS 17.909

Datum:
13.6.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
StVG StVG § 4 Abs. 2 S. 3, Abs. 5, Abs. 10 S. 4, § 65 Abs. 3 Nr. 2, 4, Nr. 6
GKG GKG § 63 Abs. 3 S. 1 Nr. 2
StVG StVG § 4 Abs. 9

 

Leitsatz

Für die Rechtmäßigkeit der Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Erreichens der 8-Punkte-Grenze nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem kommt es nicht auf den Punktestand im Zeitpunkt des Bescheiderlasses an. Für die kraft Gesetzes sofort vollziehbare Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 4 Abs. 9 StVG) hat die Behörde vielmehr auf den Punktestand abzustellen, der sich zum Zeitpunkt der Begehung der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Straftat oder Ordnungswidrigkeit ergeben hat. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

AN 10 S 17.254 2017-04-05 Bes VGANSBACH VG Ansbach

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Unter Abänderung von Nr. III des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 5. April 2017 wird der Streitwert für das Verfahren in beiden Rechtszügen auf jeweils 7.500,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gegen den Sofortvollzug der Entziehung seiner Fahrerlaubnis und der Pflicht zur Ablieferung seines Führerscheins.
Mit Bescheid vom 5. Januar 2017 entzog die Antragsgegnerin dem Antragsteller die Fahrerlaubnis (Nr. 1), verpflichtete ihn zur Abgabe des Führerscheins spätestens innerhalb einer Woche nach Zustellung des Bescheids (Nr. 2), ordnete hinsichtlich dieser Verpflichtung die sofortige Vollziehung an (Nr. 4) und drohte für den Fall der nicht fristgerechten Abgabe des Führerscheins unmittelbaren Zwang an (Nr. 3). Der Antragsteller habe nach der letzten Mitteilung des Kraftfahrt-Bundesamts neun Punkte im Fahreignungs-Bewertungssystem erreicht. Bei der Ermittlung der Punktzahl sei auf den Zeitpunkt der Begehung der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Straftat oder Ordnungswidrigkeit abzustellen. Die 8-Punkte-Grenze habe der Antragsteller mit der Tat vom 6. November 2014 erreicht. Mit der letzten eingetragenen Tat vom 5. November 2015 ergäben sich insgesamt neun Punkte.
Über die gegen den Bescheid eingereichte Klage hat das Verwaltungsgericht Ansbach, soweit ersichtlich, noch nicht entschieden. Mit Beschluss vom 5. April 2017 hat es den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Entziehung der Fahrerlaubnis und auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Verpflichtung zur Ablieferung des Führerscheins abgelehnt.
Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Antragstellers, der die Antragsgegnerin entgegentritt. Zur Begründung macht der Antragsteller geltend, er sei Taxifahrer und alleiniger Unterhalter der Familie. Für die Ermittlung des Punktestands sei nicht auf den Tag der zum Erreichen der 8-Punkte-Grenze führenden Zuwiderhandlung abzustellen, sondern auf den Punktestand im Zeitpunkt des Bescheiderlasses. Zu diesem Zeitpunkt habe das Fahreignungsregister einen Stand von lediglich vier Punkten ausgewiesen. Der Antragsteller habe darauf vertrauen dürfen, dass aufgrund früherer, inzwischen getilgter Zuwiderhandlungen letztlich keine Konsequenzen zu erwarten seien. Außerdem habe die Antragsgegnerin den Punktestand fehlerhaft berechnet. Die Eintragung hinsichtlich der Geschwindigkeitsüberschreitung vom 10. Juni 2009 sei zum 27. Oktober 2014 zu tilgen, die Eintragung hinsichtlich der unerlaubten Handynutzung vom 24. Juli 2009 zum 1. September 2014. Diese Tilgungen müssten rückwirkend zu einer Verminderung des Punktestands nach altem Recht vor der Umstellung des Punktesystems zum 1. Mai 2014 führen, um eine Verzerrung des Punktestands zu Lasten des Antragstellers zu verhindern. Somit ergebe sich im Zeitpunkt der Umrechnung zum 1. Mai 2014 ein Stand von lediglich zwölf statt 16 Punkten, der zu einem Stand von lediglich fünf und nicht sieben Punkten nach neuem Recht führe.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und die vorgelegten Behördenakten verwiesen.
II.
Die zulässige Beschwerde hat in der Sache keinen Erfolg. Aus den im Beschwerdeverfahren vorgetragenen Gründen, auf deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Sätze 1 und 6 VwGO), ergibt sich nicht, dass der angefochtene Bescheid rechtswidrig wäre.
1. Entgegen der Beschwerdebegründung kommt es für die Rechtmäßigkeit der Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Erreichens der 8-Punkte-Grenze nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem nicht auf den Punktestand im Zeitpunkt des Bescheiderlasses an. Als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen mit der zwingenden Folge der Entziehung der Fahrerlaubnis gilt der Inhaber einer Fahrerlaubnis vielmehr, sobald sich in der Summe acht oder mehr Punkte ergeben.
Nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) in der Bekanntmachung vom 5. März 2003 (BGBl I S. 310, 919), im Zeitpunkt des Bescheiderlasses zuletzt geändert durch Gesetz vom 28. November 2016 (BGBl I S. 2722), gilt der Inhaber einer Fahrerlaubnis als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen, wenn sich acht oder mehr Punkte nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem ergeben und er vorher das Stufensystem (Ermahnung und Verwarnung) korrekt durchlaufen hat. Für die kraft Gesetzes sofort vollziehbare Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 4 Abs. 9 StVG) hat die Behörde auf den Punktestand abzustellen, der sich zum Zeitpunkt der Begehung der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Straftat oder Ordnungswidrigkeit ergeben hat (§ 4 Abs. 5 Satz 5 StVG). Punkte ergeben sich mit der Begehung der Straftat oder Ordnungswidrigkeit, sofern sie rechtskräftig geahndet wird (§ 4 Abs. 2 Satz 3 StVG). Bei der Berechnung des Punktestands werden Zuwiderhandlungen unabhängig davon berücksichtigt, ob nach deren Begehung bereits Maßnahmen ergriffen worden sind, und nur dann berücksichtigt, wenn deren Tilgungsfrist zu dem in § 4 Abs. 5 Satz 5 StVG genannten Zeitpunkt noch nicht abgelaufen war (§ 4 Abs. 5 Satz 6 StVG). Spätere Verringerungen des Punktestands auf Grund von Tilgungen bleiben unberücksichtigt (§ 4 Abs. 5 Satz 7 StVG).
Damit hat die Antragsgegnerin zu Recht unberücksichtigt gelassen, dass der Punktestand des (zuvor korrekt verwarnten) Antragstellers nach Erreichen der 8-Punkte-Grenze mit der Ordnungswidrigkeit vom 6. November 2014 (Geschwindigkeitsüberschreitung, bewertet mit einem Punkt aufgrund des Bußgeldbescheids vom 7.1.2015, rechtskräftig seit 15.3.2015) durch spätere Tilgungen von Eintragungen aus den Jahren 2011 bis 2013 vor Erlass des Bescheids vom 7. Januar 2017 wieder unter die 8-Punkte-Grenze gesunken ist. Dieser Umstand hat nicht zur Wiedererlangung der Fahreignung geführt (§ 4 Abs. 5 Satz 7 StVG). Vielmehr setzt der Nachweis, dass die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen wiederhergestellt ist, im Wiedererteilungsverfahren in der Regel die Beibringung eines Gutachtens einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung voraus (§ 4 Abs. 10 Satz 4 StVG).
2. Auch die Punkteberechnung durch die Antragsgegnerin hinsichtlich der Ordnungswidrigkeiten vom 10. Juni 2009 und vom 24. Juli 2009 ist im Hinblick auf deren Tilgung zum 1. September 2014 bzw. 27. Oktober 2014 nicht zu beanstanden. Zwar weist der Antragsteller insoweit zu Recht darauf hin, dass durch die Tilgung dieser Zuwiderhandlungen, die nach dem früheren, mit Ablauf des 30. April 2014 außer Kraft getretenen Punktsystem mit drei (Geschwindigkeitsüberschreitung vom 10.6.2009) bzw. einem (unerlaubte Handynutzung vom 24.7.2009) Punkt bewertet worden waren, eine Neuberechnung der erreichten Stufe nach § 65 Abs. 3 Nr. 4 StVG zum 1. Mai 2014 durchzuführen war. Das ergibt sich aus § 65 Abs. 3 Nr. 6 StVG, wonach nachträgliche Veränderungen des Punktestands nach § 65 Abs. 3 Nr. 2 StVG (Tilgung von Zuwiderhandlungen, die vor dem 1.5.2014 im Verkehrszentralregister gespeichert wurden) oder § 65 Abs. 3 Nr. 5 StVG (Punkteabzüge und Aufbauseminare nach früherem Recht) zu einer Aktualisierung der nach der Tabelle zu § 65 Abs. 3 Nr. 4 StVG erreichten Stufe im Fahreignungs-Bewertungssystem führen. Eine solche Tilgung verringert somit rückwirkend den zum 1. Mai 2014 in das neue Fahreignungs-Bewertungssystem zu überführenden Punktestand. Dieser kann sich allerdings – wie hier – durch später begangene, nach neuem Recht bewertete Zuwiderhandlungen wieder erhöhen (vgl. die amtliche Gesetzesbegründung, BT-Drs. 17/12636, S. 51; s. auch VG Schwerin, U.v. 18.11.2016 – 4 A 4074/15 SN – juris Rn. 20 ff.; VG Düsseldorf, B.v. 1.7.2015 – 6 L 1812/15 – juris Rn. 24 ff.).
Das Kraftfahrt-Bundesamt, die Antragsgegnerin und das Verwaltungsgericht haben den Punktestand des Antragstellers aufgrund der eingetretenen Tilgungen korrekt berechnet. Ohne Berücksichtigung der Tilgungen ergab sich zum 1. Mai 2014 ein Stand von 16 Punkten nach altem Recht, der gemäß § 65 Abs. 3 Nr. 4 StVG in einen Stand von 7 Punkten nach neuem Recht zu überführen war. Die Antragsgegnerin hat jedoch aufgrund der Tilgungen zum 1. September 2014 und 27. Oktober 2014 den zu überführenden Punktestand neu berechnet und ist nach Abzug von insgesamt vier Punkten zutreffend von zwölf Punkten nach altem Recht ausgegangen, was einen Stand von nunmehr fünf Punkten nach neuem Recht ergibt (vgl. die Anlage zur Verwarnung vom 4.12.2014, Bl. 75 ff. der Behördenakte; ebenso das Verwaltungsgericht, BA S. 7 oben). Auch das Kraftfahrt-Bundesamt hat in seinen Schreiben vom 29. Oktober 2014 (Bl. 54 ff. der Behördenakte) und vom 15. Januar 2016 (Bl. 100 ff. der Behördenakte) zutreffend einen aktualisierten Stand von zwölf Punkten nach früherem Recht und fünf Punkten nach neuem Recht zum 1. Mai 2014 zugrunde gelegt. Zu diesen fünf Punkten sind jedoch durch vier weitere, jeweils mit einem Punkt nach neuem Recht bewertete Zuwiderhandlungen des Antragstellers insgesamt vier Punkte hinzugekommen. Hierdurch hat der Antragsteller die 8-Punkte-Grenze überschritten mit der Folge, dass ihm zwingend und unabhängig von späteren Tilgungen die Fahrerlaubnis zu entziehen war.
3. Schließlich steht der Entziehung der Fahrerlaubnis auch nicht entgegen, dass zwischen der letzten zum Erreichen der 8-Punkte-Grenze führenden Zuwiderhandlung und dem erlassenen Bescheid längere Zeit verstrichen ist. Aus welchen Gründen die Antragsgegnerin nach der Mitteilung des Kraftfahrt-Bundesamts vom 15. Januar 2016 nicht früher eingeschritten ist, lässt sich den Behördenakten nicht entnehmen. Wie bereits ausgeführt, ist jedoch die Entziehung der Fahrerlaubnis bei Erreichen der 8-Punkte-Grenze zwingend. Auf schutzwürdiges Vertrauen darauf, die Antragsgegnerin werde gleichwohl von einer solchen Maßnahme absehen, kann sich der Antragsteller nicht berufen. Für eine solche Annahme hat ihm die Antragsgegnerin keinerlei Veranlassung gegeben. Allein der Zeitablauf begründet insoweit kein schutzwürdiges Vertrauen. Vielmehr musste er aufgrund der Verwarnung vom 4. Dezember 2014 bei weiteren Zuwiderhandlungen mit der Entziehung der Fahrerlaubnis rechnen.
4. Die Beschwerde war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47, § 52 Abs. 1 i.V.m. § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG und den Empfehlungen in Nrn. 1.5 Satz 1, 46.3 und 46.10 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (abgedruckt in Kopp/Schenke, VwGO, 22. Aufl. 2016, Anh. § 164 Rn. 14). Die Befugnis zur Abänderung des Streitwerts ergibt sich aus § 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG. Entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts war der Antragsteller im Zeitpunkt des Bescheiderlasses nicht nur Inhaber einer Fahrerlaubnis der Klasse B, sondern auch Inhaber einer (bis 6.3.2017 befristeten) Fahrerlaubnis zur Fahrgastbeförderung. Letztere ist durch die Entziehung der Fahrerlaubnis der Klasse B kraft Gesetzes erloschen (§ 48 Abs. 10 Satz 2 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr [Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV]). Somit ergibt sich nach Nrn. 46.3 und 46.10 des Streitwertkatalogs ein Streitwert von insgesamt 15.000,- Euro, der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nach Nr. 1.5 Satz 1 des Streitwertkatalogs zu halbieren ist. Die Fahrerlaubnis der Klassen A und A1, die der Antragsteller ebenfalls besaß (vgl. Bl. 85 der Behördenakte), wirkt sich hingegen nicht streitwerterhöhend aus, da sie mit den Schlüsselzahlen 79.03 und 79.04 der Anlage 9 zur FeV versehen war und daher nur dreirädrige Fahrzeuge und Fahrzeugkombinationen aus dreirädrigen Fahrzeugen und einem Anhänger mit einer zulässigen Gesamtmasse von höchstens
750 kg betraf (vgl. insoweit BayVGH, B.v. 30.1.2014 – 11 CS 13.2342 – BayVBl 2014, 373 Rn. 22).
5. Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


Ähnliche Artikel


Nach oben