Verkehrsrecht

Zur Frage einer Verwirkung bei Entziehung der Fahrerlaubnis

Aktenzeichen  11 CS 20.1509, 11 C 20.1510

Datum:
21.10.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 30398
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5, § 166 Abs. 1 S. 1
ZPO § 114 Abs. 1 S. 1
StVG § 3 Abs. 2 S. 3, § 4 Abs. 5 S. 1 Nr. 3
FeV § 40, § 47 Abs. 1 S. 1
Anlage 13 zur FeV

 

Leitsatz

1. Verwirkung ist anzunehmen, wenn seit der Möglichkeit der Geltendmachung des Rechts längere Zeit verstrichen ist (Zeitmoment) und besondere Umstände hinzutreten, die die verspätete Geltendmachung als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen lassen (Umstandsmoment). Das ist insbesondere der Fall, wenn der Betroffene infolge eines bestimmten Verhaltens der Behörde darauf vertrauen durfte, dass diese das Recht nach so langer Zeit nicht mehr geltend machen werde (Vertrauensgrundlage), er ferner tatsächlich darauf vertraut hat, dass das Recht nicht mehr ausgeübt werde (Vertrauenstatbestand) und sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat, dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde (Anschluss BVerwG BeckRS 2017, 102215; BeckRS 2005, 28703). (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ob eine solche Verwirkung bei sicherheitsrechtlichen Befugnisse, die nicht im Ermessen der Behörde stehen (hier: Fahrerlaubnisentzug), überhaupt in Betracht kommt, wird offengelassen (Fortführung VGH München BeckRS 2019, 6084). (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

W 6 S 20.684, W 6 K 20.692 2020-06-09 Bes VGWUERZBURG VG Würzburg

Tenor

I. Die Beschwerde im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes (11 CS 20.1509) wird zurückgewiesen.
II. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren 11 CS 20.1509 wird abgelehnt.
III. Die Beschwerde gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Klage- und Antragsverfahren (11 C 20.1510) wird zurückgewiesen.
IV. Der Antragsteller trägt die Kosten der Beschwerdeverfahren.
V. Der Streitwert im Verfahren 11 CS 20.1509 wird auf 8.750,- EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragssteller wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Entziehung seiner Fahrerlaubnis der Klassen A, A1, A2, AM, B, BE, C, CE, C1, C1E, L und T und die Versagung von Prozesskostenhilfe.
Mit Schreiben vom 22. Juli 2013 verwarnte das Landratsamt Main-Spessart den Antragsteller bei einem Stand von zehn Punkten nach dem alten Punktesystem.
Am 1. Mai 2014 wurden die Eintragungen zu seiner Person im vormaligen Verkehrszentralregister von zehn auf vier Punkte im Fahreignungsregister umgestellt. Nach Eintragung von vier weiteren mit jeweils einem Punkt zu bewertenden Verkehrsordnungswidrigkeiten verwarnte das Landratsamt Main-Spessart den Antragsteller mit Schreiben vom 14. Juli 2015 gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG erneut.
Mit Schreiben vom 3. August 2016 teilte das Kraftfahrt-Bundesamt dem Landratsamt Main-Spessart mit, dass für den Antragsteller im Fahreignungsregister 73 Punkte ein-
getragen seien. Eine rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilung vom 21. Juni 2016 wegen fahrlässigen Fahrens trotz Fahrverbots in 33 Fällen (Datum der letzten Tat: 23.7.2015) habe zu einer Eintragung von 66 Punkten geführt. In der Behördenakte findet sich unter einer Punkteaufstellung von insgesamt 73 Punkten der handschriftliche Vermerk „alle Verstöße vor der letzten Maßnahme begangen, derzeit keine Maßnahme“.
Am 25. Juli 2019 beantragte der Antragsteller beim Landratsamt Würzburg (im Folgenden: „Landratsamt“) die Verlängerung der Geltungsdauer seiner befristeten Lkw-Fahrerlaubnis sowie die Eintragung der Schlüsselzahl 95 nach Anlage 9 der FeV (§ 5 Abs. 2 BKrFQV). Aus den Anlagen zu den Schreiben des Kraftfahrt-Bundesamts vom 26. und 31. Juli 2019 ging jeweils hervor, dass für ihn 66 Punkte im Fahreignungsregister eingetragen waren. Der neue Führerschein wurde ihm am 8. August 2019 ausgestellt.
Ende Januar 2020 erkundigte sich der Antragsteller telefonisch nach seinem Punktestand im Fahreignungsregister. Daraufhin stellte das Landratsamt fest, dass zum Tattag des 23. Juli 2015 für ihn 73 Punkte im Fahreignungsregister eingetragen waren und hörte ihn mit Schreiben vom 12. März 2020 zu der beabsichtigten Entziehung der Fahrerlaubnis an.
Mit Bescheid vom 6. Mai 2020 entzog das Landratsamt dem Antragsteller die Fahrerlaubnis und forderte ihn unter Anordnung des Sofortvollzugs und der Androhung eines Zwangsgelds auf, seinen Führerschein spätestens innerhalb einer Woche nach Zustellung des Bescheids abzugeben. Dem kam der Antragsteller am 14. Mai 2020 nach.
Am 18. Mai 2020 ließ er beim Verwaltungsgericht Würzburg einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes stellen und nachfolgend Klage erheben, über die noch nicht entschieden ist. Ferner wurde die Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung des Prozessbevollmächtigten für das Antrags- und Klageverfahren beantragt. Zur Begründung wurde ausgeführt, die Entziehung der Fahrerlaubnis sei offensichtlich rechtswidrig. Vom Antragsteller gehe keine konkrete unmittelbar drohende Gefahr für den öffentlichen Straßenverkehr aus. Hintergrund des Fahrerlaubnisentzugs sei, dass der Antragsteller im Jahr 2015 in Unkenntnis eines Fahrverbots seiner Tätigkeit als Berufskraftfahrer nachgegangen sei. Nach seiner Überzeugung habe er wirksam Einspruch gegen den Bußgeldbescheid eingelegt. Erst am 24. Juli 2015 sei im Rahmen einer Polizeikontrolle festgestellt worden, dass ein Fahrverbot bestehe. Der Antragsgegner habe seit der strafgerichtlichen Verurteilung nichts veranlasst und dem Antragsteller 2019 regulär die Fahrerlaubnis verlängert. Allein aufgrund einer Nachfrage habe sich das Landratsamt mit dem Vorgang erneut befasst. Ferner sei der Maßnahmenkatalog des § 4 StVG nicht ordnungsgemäß durchlaufen worden. Die Verwarnung vom 14. Juli 2015 habe das Strafurteil vom 21. Juni 2016 nicht berücksichtigt. Außerdem scheide die Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Verwirkung aus. Das Strafurteil sei seit 2016 bekannt gewesen, die Akte des Antragstellers archiviert und nichts weiter veranlasst worden. Der Antragsteller habe daher darauf vertrauen dürfen, dass das Landratsamt von der nur theoretisch bestehenden Möglichkeit einer Fahrerlaubnisentziehung keinen Gebrauch machen werde. Im Übrigen gehe vom Antragsteller keine Gefahr aus. Er sei seit fünf Jahren nicht aufgefallen. Die beruflichen und privaten Folgen des Fahrerlaubnisentzug seien erheblich. Er werde arbeitslos und könne das Umgangsrecht mit seinen drei Kindern nicht mehr wahrnehmen.
Mit Beschluss 9. Juni 2020 lehnte das Verwaltungsgericht den Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO und die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Antrags- und Klageverfahren ab. Der Inhaber einer Fahrerlaubnis gelte nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen, wenn – wie im Fall des Antragstellers – acht oder mehr Punkte im Fahreignungsregister eingetragen seien. Das Verfahren nach § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG sei eingehalten worden. Nach der Einführung des Fahreignungsbewertungssystems habe der Antragsteller mit einem umgerechneten Punktestand von vier Punkten automatisch die erste Maßnahmestufe erreicht, ohne dass eine Ermahnung nach neuem Recht erforderlich gewesen wäre. Er sei mit Schreiben vom 22. Juli 2013 verwarnt worden, was ab dem 1. Mai 2014 einer Ermahnung nach neuem Recht entspreche. Die nach altem Recht vorgenommenen Maßnahmen würden insoweit angerechnet, als sie einer der nunmehr zu ergreifenden Maßnahmen vorgelagerten Stufe entsprächen. Demgemäß sei der Antragsteller gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG aufgrund des erstmaligen Erreichens von acht Punkten im Fahreignung-Bewertungssystem verwarnt und darauf hingewiesen worden, dass bei Erreichen oder Überschreiten von acht Punkten die Fahrerlaubnis zu entziehen sei. Der Punktestand sei gemäß § 4 Abs. 6 Satz 3 Nr. 2 StVG zutreffend auf sieben Punkte reduziert worden. Die aufgrund der strafgerichtlichen Verurteilung vom 21. Juni 2016 eingetragenen Punkte seien gemäß § 29 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Buchst. a StVG fünf Jahre ab Rechtskraft, d.h. am 21. Juni 2021 zu tilgen. Allein aufgrund dieser Eintragung sei die Acht-Punkte-Grenze des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG weit überschritten. Es komme daher nicht entscheidungserheblich darauf an, ob in alleiniger Anwendung des Tattagprinzips sämtliche zuvor geahndeten Verstöße zu Recht berücksichtigt worden seien oder ob sie dem Antragsteller aufgrund des Verwertungsverbots in § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG zum Zeitpunkt der Behördenentscheidung nicht mehr hätten vorgehalten werden dürfen. Das Recht zur Entziehung der Fahrerlaubnis sei auch nicht verwirkt gewesen, da es an einem Vertrauenstatbestand fehle. Zwar sei bis zur Einleitung des Entziehungsverfahrens im März 2020 eine längere Zeitspanne verstrichen. Es fehlten jedoch weitere Umstände, die ein schutzwürdiges Vertrauen darauf begründen könnten, die Behörde werde von ihrer Befugnis auch künftig keinen Gebrauch machen. Sie sei lediglich untätig gewesen und irrtümlich davon ausgegangen, dass keine Maßnahmen nach § 4 Abs. 5 StVG zu ergreifen seien. Die Verlängerung der Fahrerlaubnis im August 2019 ändere hieran nichts, da es sich lediglich um die – vom Antragsteller als Berufskraftfahrer vorzunehmenden – Verlängerung der befristeten C-Klassen gehandelt habe. Der Zeitablauf habe die bestehende Fahrungeeignetheit nicht beseitigt, die von Gesetzes wegen mit Erreichen von acht Punkten eingetreten sei. Daher sei es unerheblich, ob die Behörde von Amts wegen oder wie hier erst auf Nachfrage des Antragstellers tätig geworden sei und den Punktestand im Fahreignungs-Bewertungssystem überprüft habe. Gerade aufgrund der eindeutigen Regelung in § 4 Abs. 10 Satz 1 i.V.m. Satz 4 StVG, wonach der Betroffene die Wiederherstellung seiner Fahreignung ausschließlich durch die Vorlage eines positiven Gutachtens nachweisen könne, vermöge der bloße Zeitablauf nichts an der fehlenden Fahreignung zu ändern. Mangels hinreichender Erfolgsaussichten sei auch die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Antrags- und Klageverfahren abzulehnen.
Hiergegen richten sich die Beschwerden des Antragstellers, denen der Antragsgegner entgegentritt. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Antragsgegner habe seine Befugnis zur Entziehung der Fahrerlaubnis verwirkt. Der Antragsteller habe wegen des Zeitablaufs darauf vertrauen dürfen, dass der Antragsgegner von seiner Befugnis keinen Gebrauch mehr mache. Die maßgeblichen Verstöße hätten vom 22. Juni bis 23. Juli 2015 stattgefunden und auf einer fehlerhaften Einschätzung des Antragstellers über die Wirksamkeit und den Beginn eines Fahrverbots beruht. Das Landratsamt habe von den Eintragungen im Fahrerlaubnisregister seit 31. Oktober 2016 Kenntnis gehabt, dennoch dem Antrag auf Verlängerung der Fahrerlaubnis am 8. August 2019 stattgegeben und hiermit bestätigt, dass der Antragsteller seine Fahreignung nachgewiesen habe und keine Tatsachen vorlägen, die die Annahme rechtfertigten, dass eine sonstige Erteilungsvoraussetzung fehle. Es habe inzident über die Ausübung von Maßnahmen nach Maßgabe von § 4 StVG entschieden und sei davon ausgegangen, zu derartigen Maßnahmen nicht befugt zu sein. Der Antragsteller habe jedenfalls davon ausgehen dürfen, dass die Behörde von der ihr ggf. zustehenden Befugnis keinen Gebrauch mehr mache. In Anbetracht der Nichtausübung der Maßnahmen bezogen auf den Tattag vor fast fünf Jahren und der eigenen Annahme des Landratsamts, keine Maßnahmen ergreifen zu dürfen, sowie der ausdrücklichen Gewährung der Verlängerung seien das Zeit- und Umstandsmoment erfüllt. Im Vertrauen auf die Nichtausübung der potenziell bestehenden Befugnisse nach § 4 StVG habe der Antragsteller die Verlängerung der Fahrerlaubnis im Juli 2019 beantragt. Jedenfalls im Rahmen einer Abwägung habe eine Entscheidung zugunsten des Antragstellers getroffen werden müssen. Ein Interesse an der sofortigen Vollziehung einer Entscheidung, die bereits im Jahr 2016 hätte getroffen werden müssen, könne nicht glaubhaft begründet werden. Der Antragsteller gefährde durch seine Teilnahme am Straßenverkehr nicht die Verkehrssicherheit. Seit dem Jahr 2015 seien keine Eintragungen mehr erfolgt. Nicht aufgrund einer behördeninternen Entscheidung, sondern aufgrund eines Auskunftsersuchens des Arbeitgebers des Antragstellers sei der Vorgang wieder aufgegriffen worden.
Ferner begehrt der Antragsteller Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren gegen die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes.
Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
II.
1. Die zulässige Beschwerde gegen die Ablehnung des Antrags gemäß § 80 Abs. 5 VwGO, die den Darlegungsanforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO gerade noch genügt, ist unbegründet.
Aus den vorgetragenen Gründen, auf deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Sätze 1 und 6 VwGO), ergibt sich nicht, dass die Entscheidung des Verwaltungsgerichts zu ändern und die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen oder wiederherzustellen wäre.
Nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. März 2003 (BGBl I S. 310, 919), im Zeitpunkt des Bescheiderlasses zuletzt geändert durch Gesetz vom 5. Dezember 2019 (BGBl I S. 2008), gilt der Inhaber einer Fahrerlaubnis als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen und die Fahrerlaubnis ist zu entziehen, wenn sich acht oder mehr Punkte nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem (§ 40 i.V.m. Anlage 13 zur Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV – vom 13.12.2010 [BGBl I S. 1980], im maßgeblichen Zeitpunkt zuletzt geändert durch Verordnung vom 20.4.2020 [BGBl I S. 814]) ergeben. Hierbei handelt es sich um eine unwiderlegliche Vermutung (BVerwG, U.v. 25.9.2008 – 3 C 21.07 – BVerwGE 132, 57 = juris Rn. 16; BayVGH, B.v. 7.1.2014 – 11 CS 13.2005 – DAR 2014, 281 = juris Rn. 13; Dauer in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 45. Aufl. 2019, § 4 StVG Rn. 32, 76, 100), die bis zu dem in der Regel durch ein medizinisch-psychologisches Gutachten zu führenden Nachweis der Wiedererlangung der Fahreignung gilt (§ 4 Abs. 10 Satz 4 StVG). Die Entziehung der Fahrerlaubnis, für die der Behörde kein Ermessensspielraum eingeräumt ist, ist kraft Gesetzes sofort vollziehbar (§ 4 Abs. 9 StVG).
Die Einwände des Antragstellers richten sich nicht gegen die Berechnung des Punktestands, sondern allein gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Fahrerlaubnisbehörde habe ihre Befugnis zur Entziehung der Fahrerlaubnis trotz Kenntnis der Eintragungen im Fahrerlaubnisregister seit Ende Oktober 2016 und Verlängerung der Fahrerlaubnis im August 2019 nicht verwirkt, sowie gegen den Sofortvollzug des Fahrerlaubnisentzugs.
Das Verwaltungsgericht hat die Voraussetzungen der Verwirkung zu Recht als nicht erfüllt angesehen. Somit kann weiter offenbleiben, ob eine Verwirkung sicherheitsrechtlicher Befugnisse, die nicht im Ermessen der Behörde stehen, überhaupt in Betracht kommt (vgl. BayVGH, B.v. 15.3.2019 – 11 CS 19.199 – juris Rn. 13; B.v. 22.10.2014 – 11 C 14.386 – juris Rn. 20).
Eine Verwirkung als Hauptanwendungsfall des venire contra factum proprium (Verbot widersprüchlichen Verhaltens) ist anzunehmen, wenn seit der Möglichkeit der Geltendmachung des Rechts längere Zeit verstrichen ist (Zeitmoment) und besondere Umstände hinzutreten, die die verspätete Geltendmachung als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen lassen (Umstandsmoment). Das ist insbesondere der Fall, wenn der Betroffene infolge eines bestimmten Verhaltens der Behörde darauf vertrauen durfte, dass diese das Recht nach so langer Zeit nicht mehr geltend machen werde (Vertrauensgrundlage), er ferner tatsächlich darauf vertraut hat, dass das Recht nicht mehr ausgeübt werde (Vertrauenstatbestand) und sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat, dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde (stRspr, vgl. BVerwG, U.v. 30.8.2018 – 2 C 10.17 – BVerwGE 163, 36 = juris Rn. 21; B.v. 20.1.2017 – 8 B 23.16 – NVwZ-RR 2017, 430 = juris Rn. 14; U.v. 27.7.2005 – 8 C 15.04 – NVwZ 2005, 1334 = juris Rn. 25; U.v. 13.5.1993 – 9 C 37.92 – BayVBl 1993, 663 = juris Rn. 19; U.v. 7.2.1974 – 3 C 115.71 – BVerwGE 44, 339 = juris Rn. 18; BayVerfGH, B.v. E.v. 17.7.2020 – Vf. 23-VII-19 – juris Rn. 26; OVG NW, B.v. 21.7.2020 – 6 A 26/18 – juris Rn. 33 jeweils m.w.N.).
Im vorliegenden Fall fehlt es jedenfalls an einem Vertrauenstatbestand, da es keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass dem Antragsteller bewusst war, dass die Behörde – mit Blick auf eine bei ihm entstandene, als schützenswert angesehene und auch tatsächlich schützenswerte Vertrauensposition – von der Entziehung der Fahrerlaubnis abgesehen hat. Daher kann dahinstehen, ob die Verlängerung der C-Klassen des Antragstellers durch die einem Rechtsirrtum unterliegende Behörde überhaupt geeignet war, eine hinreichende Grundlage für ein dahingehendes Vertrauen zu schaffen. Entgegen der Auffassung des Antragstellers führt die Fahrerlaubnisbehörde bei der Verlängerung einer Fahrerlaubnis keine vollständige Eignungsprüfung durch (Gesetzesbegründung zu § 4 Abs. 3 Satz 4 StVG in BT-Drs. 17/13452, S. 7; vgl. auch § 4 Abs. 3 Satz 4 Nr. 2 StVG). Nach der obergerichtlichen Rechtsprechung setzt der Vertrauenstatbestand beim Betroffenen ein Bewusstsein voraus, dass der Behörde eine bestimmte Befugnis – hier zur Entziehung der Fahrerlaubnis – zustehe. Denn nur dann kann der Betroffene bei Untätigkeit der Behörde aufgrund längeren Zeitablaufs darauf vertrauen, sie werde von dieser Befugnis keinen mehr Gebrauch machen (BVerwG, U.v. 13.5.1993 a.a.O. Rn. 19; U.v. 7.2.1974 a.a.O. Rn. 18; siehe auch BVerwG, U.v. 24.7.2008 – 7 A 2.07 – NVwZ 2009, 599 = juris Rn. 25; U.v. 20.12.1999 – 7 C 42.98 – BVerwGE 110, 226 juris Rn. 28 a.E.; U.v. 9.12.1998 – 3 C 1.98 – BVerwGE 108, 93 = juris Rn. 39; BAG, U.v. 25.4.2001 – 5 AZR 497/99 – NJW 2001, 2907 = juris Rn. 20), hier also darauf vertrauen, ihm werde die Fahrerlaubnis nicht mehr entzogen. Aus der im Rahmen der Anhörung abgegebenen Stellungnahme des Antragstellers vom 13. März 2020 wird hingegen deutlich, dass ein derartiges Bewusstsein bei ihm nicht vorhanden war. Denn dort hat er seiner Meinung Ausdruck verliehen, das Strafgericht habe auch darüber entschieden, dass er die Fahrerlaubnis, auf die er beruflich angewiesen sei, behalten dürfe, und ihn „dafür“ zu einer hohen Geldstrafe verurteilt. Bei der beabsichtigten Entziehung der Fahrerlaubnis handle es sich um einen Irrtum.
Ferner fehlen Anhaltspunkte für eine Betätigung des – hier nicht gegebenen – Vertrauens. Dabei müssten die Dispositionen des Betroffenen kausal verknüpft sein mit dem Verhalten des Berechtigten, hier der Fahrerlaubnisbehörde, denn eine verzögerte Rechtsausübung verdient die Qualifizierung als treuwidrig nur dann, wenn die zunächst gezeigte Untätigkeit den anderen Teil zu bestimmten Reaktionen veranlasst hat (BVerwG, U.v. 9.12.1998 a.a.O. Rn. 40; U.v. 16.5.1991 – 4 C 4.89 – NVwZ 1991, 1182 = juris Rn. 28 m.w.N.; U.v. 20.1.1977 – V C 18.76 – BVerwGE 52, 16 = juris Rn. 18). Es ist indessen weder dargelegt noch erkennbar, dass der Antragsteller sich im Hinblick auf die behördliche Untätigkeit so eingerichtet hat, dass ihm durch die erst einige Jahre später erfolgte Entziehung der Fahrerlaubnis ein unzumutbarer Nachteil entstanden ist, der also über den mit jeder Entziehung der Fahrerlaubnis verbundenen Nachteil hinausgegangen sein müsste. In Anbetracht der Tilgungsbestimmungen (§ 29 StVG) dürfte sich die mehrjährige Untätigkeit des Antragsgegners letztlich sogar als Vorteil für den Antragsteller erweisen.
Soweit der Antragsteller sich gegen die gerichtliche Annahme eines überwiegenden Vollzugsinteresses wendet, ist nach § 4 Abs. 9 StVG von Gesetzes wegen das Überwiegen des öffentlichen Interesses an der sofortigen Vollziehbarkeit der Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Überschreitens des maßgeblichen Punktestands zu vermuten (vgl. Schoch in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand Januar 2020, § 80 Rn. 153). Bestehen wie hier keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Maßnahme, ist die sofortige Vollziehung regelmäßig gerechtfertigt (Hoppe in Eyermann, VwGO, § 80 Rn. 91; Schoch, a.a.O. Rn. 384; BVerwG, B.v. 19.5.1994 – 3 C 11.94 – Buchholz 310 § 80 VwGO Nr. 57 = juris Rn. 9). Auch wenn man den sofortigen Verlust der Fahrerlaubnis als schwerwiegende, nicht umkehrbare Vollzugsfolge erachtet, bei der es ausnahmsweise einer über die offensichtliche Rechtmäßigkeit der Maßnahme hinausgehenden Rechtfertigung bedarf (Hoppe, a.a.O.; vgl. auch NdsOVG, B.v. 15.10.2019 – 12 ME 162/19 – juris Rn. 15 m.w.N.), kann im Hinblick auf den hohen Rang der womöglich betroffenen Rechtsgüter anderer Verkehrsteilnehmer nicht angenommen werden, dass ein überwiegendes Interesse eines unstreitig fahrungeeigneten Fahrerlaubnisinhabers, der den maßgeblichen Punktestand gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG um ein Vielfaches überschritten hat, an der Teilnahme am Straßenverkehr besteht. Bei § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG handelt es sich, wie bereits ausgeführt, um eine unwiderlegliche Vermutung (zur Vereinbarkeit der Vorschrift mit höherrangigem Recht vgl. BayVGH, B.v. 17.1.2005 – 11 CS 04.2955 – ZfSch 2005, 209 = juris Rn. 34 ff.). Dabei steht der Behörde auch keine von § 40 FeV i.V.m. Anlage 13 zur FeV abweichende Bewertung der Zuwiderhandlung zu, deren Begehung und rechtskräftige Ahndung gemäß § 4 Abs. 2 Satz 2 StVG zur Entstehung der Punkte führt. Nach § 40 FeV sind dem Fahreignungs-Bewertungssystem die in Anlage 13 zur FeV bezeichneten Zuwiderhandlungen mit der dort jeweils festgelegten Bewertung zu Grunde zu legen. Welche Bedeutung einer Zuwiderhandlung für die Fahreignung beizumessen ist, liegt im Rahmen der Einschätzungsprärogative des Gesetz- bzw. Verordnungsgebers. Ein Verstoß dieser Vorschriften gegen höherrangiges Recht wird mit der Beschwerde nicht dargetan.
Da auch die Klage gegen die akzessorische Ablieferungspflicht gemäß § 3 Abs. 2 Satz 3 StVG, § 47 Abs. 1 Satz 1 FeV keine Aussicht auf Erfolg hat und der Antragsteller von seiner Fahrerlaubnis vorläufig keinen Gebrauch machen darf, ist kein überwiegendes privates Interesse am vorläufigen Besitz des Führerscheins anzuerkennen, auch wenn die sofortige Vollziehung dieser Verpflichtung nicht von Gesetzes wegen, sondern erst aufgrund einer behördlichen Anordnung gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO sofort vollziehbar ist. Vielmehr überwiegt das öffentliche Interesse, den durch den Führerschein vermittelten Rechtsscheins zu beseitigen und dessen missbräuchliche Verwendung zu verhindern.
Die Beschwerde war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 3, § 52 Abs. 1, 2 GKG i.V.m. den Empfehlungen in Nr. 1.5, 46.1, 46.3 und 46.4 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (vgl. BayVGH, B.v. 30.9.2016 – 11 CS 16.1750 – juris Rn. 11).
2. Da die beabsichtigte Rechtsverfolgung aus den vorstehenden Gründen zu keinem Zeitpunkt eine hinreichende Aussicht auf Erfolg bot (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1, § 121 Abs. 2 ZPO), waren ungeachtet der wirtschaftlichen Verhältnisse des Antragstellers auch der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung des Prozessbevollmächtigten abzulehnen und die Beschwerde gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe im erstinstanzlichen Klage- und Antragsverfahren zurückzuweisen. Insoweit konnte auch ohne Vorliegen eines Nichtabhilfebeschlusses entschieden werden (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, § 148 Rn. 5, 8a). Wie sich u.a. aus den angegebenen Fundstellen ergibt, sind die Voraussetzungen der Verwirkung im öffentlichen Recht in der ständigen Rechtsprechung der Obergerichte hinreichend geklärt. Der Antragsteller hat sie der Beschwerdebegründung (Seite 2) selbst zugrunde gelegt. Die Anwendung dieser Rechtsprechung im konkreten Fall hat keine schwierige Rechts- oder Tatfrage aufgeworfen, die die Bewilligung von Prozesskostenhilfe rechtfertigen würde.
Auch im Beschwerdeverfahren gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe hat der Antragsteller gemäß § 154 Abs. 2 VwGO die Kosten zu tragen. Anders als im Prozesskostenhilfeverfahren erster Instanz fallen im Beschwerdeverfahren Gerichtskosten an, wobei eine Kostenerstattung nicht stattfindet (§ 166 VwGO, § 127 Abs. 4 ZPO). Eine Streitwertfestsetzung ist im Hinblick auf die nach § 3 Abs. 2 GKG i.V.m. Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses zum GKG anfallende Festgebühr von 60,- EUR jedoch entbehrlich.
3. Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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