Verwaltungsrecht

Aufenthaltserlaubnis für gut integrierte jugendliche und heranwachsende Ausländer

Aktenzeichen  2 M 113/21

Datum:
22.12.2021
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt 2. Senat
Dokumenttyp:
Beschluss
ECLI:
ECLI:DE:OVGST:2021:1222.2M113.21.00
Normen:
§ 25a Abs 1 AufenthG 2004
§ 60a Abs 2 S 1 AufenthG 2004
§ 60a Abs 5 S 2 AufenthG 2004
Spruchkörper:
undefined

Leitsatz

Erfüllt der Ausländer die besonderen Erteilungsvoraussetzungen des § 25a AufenthG (juris: AufenthG 2004) und legt er einen gültigen Pass vor, widerspricht es dem Zweck der Regelung über die Legalisierung des Aufenthalts gut integrierter Jugendlicher und Heranwachsender, die Duldung wegen des Wegfalls der Passlosigkeit zu widerrufen und den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG (juris: AufenthG 2004) abzulehnen.(Rn.18)

Verfahrensgang

vorgehend VG Magdeburg 3. Kammer, 10. August 2021, 3 B 162/21 MD, Beschluss

Tenor

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Magdeburg vom 10. August 2021 – 3 B 162/21 MD – geändert.
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, Abschiebungsmaßnahmen gegen den Antragsteller bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens zur Erteilung der beantragten Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25a AufenthG zu unterlassen.
Die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen trägt der Antragsgegner.
Der Streitwert wird für das erstinstanzliche Verfahren – insoweit in Abänderung des erstinstanzlichen Beschlusses – und für das Beschwerdeverfahren auf jeweils 2.500 € festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt die Aussetzung seiner Abschiebung bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25a AufenthG.
Der am (…) 2000 geborene Antragsteller ist russischer Staatsangehöriger. Im Jahr 2013 reiste er zusammen mit seinen Eltern und Geschwistern in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo die Familie Asylanträge stellte, die letztlich mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 11. September 2017 abgelehnt wurden. Die hiergegen erhobene Klage wurde mit Urteil des Verwaltungsgerichts Magdeburg vom 25. Juni 2018 – 3 A 353/17 MD – abgewiesen. Der hiergegen eingelegte Antrag auf Zulassung der Berufung wurde mit Beschluss des Senats vom 31. Juli 2019 – 2 L 99/18.Z – abgelehnt.
Seit August 2019 bereitet der Antragsgegner die Abschiebung des Antragstellers vor. Mit Schreiben vom 14. August 2019 teilte er dem Antragsteller mit, dass dieser ausreisepflichtig sei, und wies ihn auf die Passpflicht sowie die Mitwirkungspflicht gemäß § 48 Abs. 3 AufenthG hin (BA A Bl. 132). Die Gültigkeit des Passes des Antragstellers war am 10. Juli 2018 abgelaufen (BA A Bl. 111). Am 30. August 2019 erklärte der Antragsteller, nicht freiwillig ausreisen zu wollen, da er in Deutschland zur Schule gehe und sein Abitur mache. Seit dem 3. September 2019 ist er im Besitz einer Duldung wegen Passlosigkeit, die regelmäßig verlängert wurde. Im Jahr 2019 wurde der Antragsteller zweimal wegen Diebstahls angeklagt (BA A Bl. 120 f. und Bl. 123 f.). Zu einer Verurteilung kam es offenbar nicht.
Mit Schreiben vom 14. Oktober 2019 beantragte der Antragsteller bei dem Antragsgegner die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG. Der Antragsteller hatte von 2014 bis 2018 die Sekundarschule W. K. in A-Stadt besucht und mit dem erweiterten Realschulabschluss abgeschlossen (BA A Bl. 150 – 165). Im Schuljahr 2018/2019 besuchte er die Einführungsphase des Fachgymnasiums in der Fachrichtung Wirtschaft im Berufsschulzentrum des Landkreises A-Stadt – Europaschule -. Mit Zeugnis vom 3. Juli 2019 wurde er versetzt (BA A Bl. 166 – 169).
Mit Schreiben vom 13. November 2019 teilte der Antragsgegner mit, dass er beabsichtige, den Antrag abzulehnen, da der Antragsteller keinen Pass besitze. Mit Schreiben vom 10. Juni 2020 setzte der Antragsgegner dem Antragsteller eine letzte Frist für die Vorlage eines Passes bis zum 24. Juni 2020. Hierauf erklärte der Antragsteller mit Schreiben vom 17. Juni 2020, dass er erst am 24. Juni 2020 einen Termin in der Russischen Botschaft habe, um den Passantrag zu vervollständigen. Sofern der Antragsgegner nicht bereit sei, den Antrag zurückzustellen, bis der Pass vorliege, werde der Antrag zurückgenommen und später erneut gestellt. Hierauf teilte der Antragsgegner mit E-Mail vom 19. Juni 2020 mit, er wolle auf das Angebot zurückkommen und „die Anträge als zurückgenommen erklären“ (BA A Bl. 186).
Anfang 2021 bat die Firma N. den Antragsgegner, dem Antragsteller eine „Arbeitserlaubnis“ zu erteilen, da sie ihn sonst nicht einstellen könne. Dieser sei auch als Azubi in ihrem Unternehmen geplant.
Am 18. Mai 2021 erteilte der Antragsgegner dem Antragsteller eine bis zum 30. September 2021 befristete Duldung mit dem Zusatz „Beschäftigung gestattet“ (BA A Bl. 196). Am gleichen Tag legte der Antragsteller einen am 27. Juli 2020 ausgestellten und bis zum 27. Juli 2030 gültigen russischen Pass vor, den der Antragsgegner einbehielt (BA A Bl. 199 ff.). Auf der Rückseite der Passkopie befindet sich in der Akte ein undatierter Vermerk mit dem InhaltAbschiebung weiterführen“. Am 21. Juni 2021 teilte die Polizeiinspektion A-Stadt dem Antragsgegner mit, dass die Abschiebung des Antragstellers sowie seines jüngeren Bruders K. A. am 29. Juni 2021 erfolgen solle. Die Abholzeit sei 2:00 Uhr (BA A Bl. 204). Am 29. Juni 2021 kam es zur Abschiebung des Bruders des Antragstellers. Der Antragsteller wurde in seiner Wohnung nicht angetroffen und daher nicht abgeschoben.
Am 30. Juni 2021 bat die Firma N. um Mitteilung, ob sie den Antragsteller ab dem 1. August 2021 als Auszubildenden einstellen könne. Am 1. Juli 2021 übersandte sie den von ihr am 29. Juni 2021 unterzeichneten Ausbildungsvertrag. Hiernach sollte der Antragsteller vom 1. August 2021 bis zum 31. Juli 2023 von der N. im Ausbildungsberuf „Verkäufer (Lebensmittel, allgemeines Sortiment / Kassensystemdaten und Kundenservice)“ ausgebildet werden. Als zuständige Berufsschule wurde die Berufsbildende Schule II des Landkreises A-Stadt angegeben.
Am 1. Juli 2021 hat der Antragsteller beim Verwaltungsgericht im Verfahren 3 B 162/21 MD einen Eilantrag gestellt, mit dem er Abschiebungsschutz bis zum Abschluss des Verfahrens auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG begehrt hat. Mit Schreiben vom 8. Juli 2021 hat der Antragsgegner erklärt, dass bis zur Entscheidung des Gerichts über dieses vorläufige Rechtsschutzbegehren von Vollstreckungsmaßnahmen abgesehen werde. Bevor über den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG entschieden werden könne, sei im Verwaltungsverfahren die Duldung zu widerrufen, da keine Duldungsgründe mehr vorlägen, und zwar mit Anordnung der sofortigen Vollziehung (§ 60a Abs. 5 AufenthG). Dann entfalle die Möglichkeit der Erwerbstätigkeit und es erfolge die Ablehnung des Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG.
Mit Bescheid vom 19. Juli 2021 hat der Antragsgegner die Duldung des Antragstellers unter Anordnung der sofortigen Vollziehung widerrufen und zur Begründung ausgeführt, der Antragsteller habe am 18. Mai 2021 einen gültigen Nationalpass vorgelegt, so dass keine Gründe mehr vorlägen, die Abschiebung weiterhin auszusetzen. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung hat der Antragsgegner damit begründet, dass wegen der Dauer eines Widerspruchs- und Klageverfahrens zu erwarten sei, dass andere Sachverhalte einträten, die eine Aussetzung der Abschiebung nach sich ziehen würden. Ein Hinzuwarten, bis derartige Sachverhalte eingetreten seien, sei aus Gründen der Einhaltung der Rechtsordnung des Bundesrepublik Deutschland nicht hinnehmbar.
Mit Bescheid vom 21. Juli 2021 hat der Antragsgegner den Antrag des Antragstellers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25a AufenthG abgelehnt und zur Begründung ausgeführt, der Antragsteller sei kein geduldeter Ausländer. Der Anspruch auf Erteilung einer Duldung gemäß § 60a AufenthG sei mit Vorlage des Nationalpasses weggefallen und die Duldung sei mit Schreiben vom 19. Juli 2021 widerrufen worden.
Mit zwei Schreiben vom 28. Juli 2021 hat der Antragsteller gegen die Bescheide des Antragsgegners vom 19. und 21. Juli 2021 Widerspruch eingelegt.
Zudem hat der Antragsteller am 28. Juli 2021 beim Verwaltungsgericht im Verfahren 3 B 183/21 MD einen Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO gestellt, mit dem er die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen den Widerruf seiner Duldung begehrt hat.
Mit Beschluss vom 10. August 2021 hat das Verwaltungsgericht den Antrag des Antragstellers im Verfahren 3 B 162/21 MD abgelehnt und zur Begründung ausgeführt, der Antragsteller habe keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Der Antragsteller habe weder einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25a AufenthG noch einen Anspruch auf Erteilung einer Ausbildungsduldung gemäß § 60c Abs. 1 Nr. 2 AufenthG. Im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung handele es sich bei dem Antragsteller nicht um einen „geduldeten Ausländer“ i.S.v. § 25a AufenthG. Eine Duldung habe er seit dem 19. Juli 2021 nicht mehr inne. Die aus den von ihm vorgelegten Unterlagen teilweise hervorgehenden Integrationsleistungen könnten die fehlende Duldung nicht ausgleichen. Es bestünden auch Zweifel daran, dass sich der Antragsteller aufgrund seiner bisherigen Lebensverhältnisse in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland einfügen könne, da er mit mehreren Ladendiebstählen polizeilich auffällig geworden sei. Materielle Duldungsgründe i.S.v. § 60a AufenthG seien ebenfalls nicht glaubhaft gemacht. Aufgrund des gültigen russischen Reisepasses des Antragstellers sei der zeitweise vorliegende – einzige – Duldungsgrund der Passlosigkeit entfallen. Es bestehe die tatsächliche Möglichkeit des Flugverkehrs zur Abschiebung des Antragstellers in seine Heimat. Es lägen auch keine Duldungsgründe nach § 60c AufenthG vor. Es sei bereits nicht ersichtlich, dass der Antragsteller beim Antragsgegner einen Antrag auf Ausbildungsduldung gestellt habe. In Betracht komme allein eine Ausbildungsduldung nach § 60c Abs. 1 Nr. 2 AufenthG für geduldete Ausländer. Selbst wenn die Übermittlung des von der Firma N. am 29. Juni 2021 unterschriebenen Ausbildungsvertrages am 30. Juni 2021 an den Antragsgegner als Antrag auf Erteilung einer Ausbildungsduldung zu werten wäre, bliebe das Begehren des Antragstellers ohne Erfolg. Denn der Erteilung einer Ausbildungsduldung stehe der Versagungsgrund des § 60c Abs. 2 Nr. 5 Buchst. d AufenthG entgegen. Danach werde eine Ausbildungsduldung nicht erteilt, wenn zum Zeitpunkt der Antragstellung konkrete Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung, die in einem hinreichenden sachlichen und zeitlichen Zusammenhang zur Aufenthaltsbeendigung stünden, bevorstünden. Diese konkreten Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung stünden bevor, wenn den in Buchst. a bis c genannten Maßnahmen vergleichbare konkrete Vorbereitungsmaßnahmen zur Abschiebung des Ausländers eingeleitet worden seien, es sei denn, es sei von vornherein absehbar, dass diese nicht zum Erfolg führten. Der Antragsgegner habe noch vor der Übermittlung des Ausbildungsvertrages am 30. Juni 2021 bzw. dem Zeitpunkt der Beantragung vorläufigen Rechtsschutzes am 1. Juli 2021 (vergleichbar) konkrete Maßnahmen zur Vorbereitung der Abschiebung des Antragstellers getroffen. Er habe bereits bei der Vorlage des Passes entschieden, die Abschiebung weiterzuführen, und einen konkreten Abholtag für die Abschiebungsmaßnahme, nämlich den 29. Juni 2021, festgesetzt, für den alle Vorbereitungen getroffen worden seien. Bei der erfolgten Abschiebung des Bruders des Antragstellers in die Russische Föderation am 29. Juni 2021 seien auch konkrete Maßnahmen zur Abschiebung des Antragstellers getroffen worden, die über Vorfeldmaßnahmen hinausgegangen seien. Damit entfalle der geltend gemachte Anspruch auf Ausbildungsduldung. Aus dem Vortrag des Antragstellers ergebe sich schließlich auch kein Anspruch auf Erteilung einer Verfahrensduldung. Deren Voraussetzungen lägen nicht vor.
Mit weiterem Beschluss vom 10. August 2021 hat das Verwaltungsgericht auch den Antrag des Antragstellers im Verfahren 3 B 183/21 MD abgelehnt und zur Begründung ausgeführt, soweit sich der Antragsteller gegen den mit Bescheid vom 19. Juli 2021 verfügten Widerruf der ihm am 18. Mai 2021 mit dem Vermerk „Erlischt mit dem Beginn der Abschiebungsmaßnahme“ erteilten, bis 30. September 2021 gültigen Duldung wende, seien keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieses Bescheides dargelegt oder ersichtlich. Gemäß § 60a Abs. 5 Satz 2 AufenthG werde die Aussetzung der Abschiebung widerrufen, wenn die der Abschiebung entgegenstehenden Gründe entfielen. Der einzige Grund für die Duldung des Antragstellers sei dessen Passlosigkeit gewesen. Da der Antragsteller den ihm am 27. Juli 2020 ausgestellten russischen Reisepass am 18. Mai 2021 vorgelegt habe, sei die Passlosigkeit entfallen. Die Voraussetzungen für den Widerruf der Duldung nach § 60a Abs. 5 Satz 2 AufenthG aufgrund des Entfallens der Passlosigkeit des Antragstellers und mangels Vorliegens anderweitiger Duldungsgründe seien daher gegeben.
II.
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Magdeburg vom 10. August 2021 – 3 B 162/21 MD – ist zulässig und begründet. Die dargelegten Gründe gebieten die Änderung der erstinstanzlichen Entscheidung.
Der Antrag des Antragstellers, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, Abschiebungsmaßnahmen gegen ihn bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens zur Erteilung der beantragten Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25a AufenthG zu unterlassen, hat Erfolg. Der Antragsteller hat sowohl einen Anordnungsanspruch (dazu 1) als auch einen Anordnungsgrund (dazu 2) glaubhaft gemacht.
1. Der Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG löst keine Fiktionswirkung nach § 81 AufenthG und damit kein vorläufiges Bleiberecht aus. Auch die Erteilung einer Duldung für die Dauer eines Aufenthaltsgenehmigungsverfahrens kommt grundsätzlich nicht in Betracht, wenn ein Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels – wie hier – ein Bleiberecht in Form einer Fiktion nach § 81 Abs. 3 oder 4 AufenthG nicht ausgelöst hat. Die Erteilung einer Duldung widerspräche der in den genannten Vorschriften zum Ausdruck gekommenen gesetzlichen Wertung, für die Dauer eines Aufenthaltsgenehmigungsverfahrens nur unter bestimmten Voraussetzungen ein Bleiberecht zu gewähren (vgl. Beschluss des Senats vom 10.Juni 2021 – 2 M 65/21 – juris Rn. 10). Hiervon ist jedoch zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG ist eine Ausnahme zu machen, wenn allein durch eine vorläufige Aussetzung der Abschiebung der Erhalt des geltend gemachten und bestehenden Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG sichergestellt werden kann (vgl. BayVGH, Beschluss vom 18. März 2021 – 19 CE 21.363 – juris Rn. 7; Hecker, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand: 1. Oktober 2021, § 25a AufenthG Rn. 3).
Eine solche Ausnahmesituation ist hier gegeben, da der Antragsteller das Vorliegen der Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG glaubhaft gemacht hat. Maßgebend für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz, hier also der Zeitpunkt der Entscheidung des Senats (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Mai 2013 – 1 C 17.12 – juris Rn. 13). Da § 25a Abs. 1 AufenthG jedoch eine strikte Altersgrenze enthält, ist für den Fall, dass der Betroffene im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt diese Altersgrenze bereits überschritten hat, zusätzlich zu prüfen, ob sämtliche Erteilungsvoraussetzungen auch im Zeitpunkt der Vollendung des 21. Lebensjahres vorgelegen haben, um sicherzustellen, dass die von Gesetzes wegen vorgesehene Antragsfrist nicht durch eine lang andauernde Rechtsverfolgung umgangen wird (vgl. Röcker, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Auflage 2020, § 25a AufenthG Rn. 9).
Es ist überwiegend wahrscheinlich, dass dem Antragsteller ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a Abs. 1 AufenthG zusteht. Die besonderen Erteilungsvoraussetzungen des § 25a Abs. 1 Satz 1 AufenthG liegen voraussichtlich vor (a). Soweit die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 und 2 AufenthG nicht vollständig erfüllt sind, ist das Ermessen des Antragsgegners aus § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG voraussichtlich zugunsten des Antragstellers auf Null reduziert (b). Anhaltspunkte für eine der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a Abs. 1 AufenthG entgegenstehende atypische Fallkonstellation sind nicht ersichtlich (c).
a) Die Voraussetzungen des § 25a Abs. 1 Satz 1 AufenthG liegen voraussichtlich vor.
Nach § 25a Abs. 1 Satz 1 AufenthG soll einem jugendlichen oder heranwachsenden geduldeten Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn er sich seit vier Jahren ununterbrochen erlaubt, geduldet oder mit einer Aufenthaltsgestattung im Bundesgebiet aufhält (Nr. 1), er im Bundesgebiet in der Regel seit vier Jahren erfolgreich eine Schule besucht oder einen anerkannten Schul- oder Berufsabschluss erworben hat (Nr. 2), der Antrag auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vor Vollendung des 21. Lebensjahres gestellt wird (Nr. 3), es gewährleistet erscheint, dass er sich aufgrund seiner bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland einfügen kann (Nr. 4) und keine konkreten Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Ausländer sich nicht zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland bekennt (Nr. 5).
(1) Der am (…) 2000 geborene Antragsteller ist zwar inzwischen 21 Jahre alt und damit weder Jugendlicher noch Heranwachsender im Sinne des § 25a Abs. 1 Satz 1 AufenthG (vgl. § 1 Abs. 2 JGG). Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG ist gleichwohl nicht ausgeschlossen, weil sämtliche Erteilungsvoraussetzungen – wie noch darzulegen ist – schon im Zeitpunkt der Vollendung des 21. Lebensjahres am … 2021 vorgelegen haben.
(2) Der Antragsteller ist ein geduldeter Ausländer i.S.d. § 25a Abs. 1 AufenthG.
Geduldet ist ein Ausländer, wenn ihm eine rechtswirksame Duldung erteilt worden ist oder wenn er einen Rechtsanspruch auf Duldung hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 2019 – 1 C 34.18 – juris Rn. 24; VGH BW, Beschluss vom 3. Juni 2020 – 11 S 427/20 – juris Rn. 20). Ausreichend hierfür ist auch eine im Hinblick auf das schwebende Verfahren erteilte Duldung (sogenannte Verfahrensduldung), da § 25a Abs. 1 Satz 1 AufenthG lediglich das Vorliegen einer Duldung (oder einen Anspruch auf eine solche) verlangt, ohne dabei nach verschiedenen Duldungsgründen zu differenzieren (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 2019 – 1 C 34.18 – a.a.O. Rn. 28 zu § 25b AufenthG; VGH BW, Beschluss vom 3. Juni 2020 – 11 S 427/20 – a.a.O. Rn. 27 zu § 25a AufenthG). Die im Ansatz zutreffende Erwägung, es sei nicht Zweck eines behördlichen oder gerichtlichen Verfahrens, das dem Erlass bzw. der Überprüfung einer Entscheidung diene, die Voraussetzungen für eine positive Entscheidung erst herbeizuführen, steht dem nicht entgegen (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 2019 – 1 C 34.18 – a.a.O. Rn. 29).
Hiernach handelt es sich bei dem Antragsteller um einen geduldeten Ausländer. Das war auch im Zeitpunkt der Vollendung seines 21. Lebensjahres am … 2021 der Fall. Zwar hat der Antragsgegner mit Bescheid vom 19. Juli 2021 die dem Antragsteller am 18. Mai 2021 erteilte Duldung widerrufen. Im Beschwerdeverfahren hat der Antragsgegner jedoch mit Schreiben vom 9. September 2021 zugesichert, bis zum rechtskräftigen Abschluss des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens zur Erteilung der beantragten Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25a AufenthG keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen zu vollziehen. Damit hat er der Sache nach eine Verfahrensduldung ausgesprochen, die am … 2021 wirksam war. Vor diesem Hintergrund bedarf es an dieser Stelle keiner Vertiefung, ob der Antragsteller auch einen Anspruch auf Erteilung einer Verfahrensduldung hatte.
(3) Die Antragsteller hat sich bei Vollendung seines 21. Lebensjahres am … 2021 auch seit vier Jahren ununterbrochen erlaubt, geduldet oder mit einer Aufenthaltsgestattung im Bundesgebiet aufgehalten.
Der erlaubte, geduldete oder gestattete Aufenthalt muss ununterbrochen vier Jahre im Bundesgebiet bestanden haben, wobei Aufenthaltszeiten auf unterschiedlicher Rechtsgrundlage kumulierbar sind (vgl. VG Darmstadt, Urteil vom 31. August 2012 – 6 K 1808/11.DA – juris Rn. 17). Hierbei kommt es nicht darauf an, ob der Ausländer durchgehend im Besitz einer Bescheinigung nach § 60a Abs. 4 AufenthG oder einer Bescheinigung über die Aufenthaltsgestattung nach § 63 AsylG war. Entscheidend ist, dass die Ausreisepflicht nicht vollziehbar war, d.h. dass der Jugendliche oder Heranwachsende einen Rechtsanspruch auf eine Aufenthaltsgestattung oder Duldung hatte (vgl. VG Darmstadt, Urteil vom 31. August 2012 – 6 K 1808/11.DA – a.a.O. Rn. 19). Darüber hinaus muss sich der Ausländer im maßgeblichen Zeitraum tatsächlich im Bundesgebiet aufgehalten haben und darf nicht „untergetaucht“ gewesen sein (vgl. OVG SH, Beschluss vom 14. Januar 2019 – 4 MB 126/18 – juris Rn. 6; Röcker, in: Bergmann/Dienelt, a.a.O., § 25a AufenthG Rn. 11).
Diese Vorgaben erfüllt der Antragsteller. Er lebt seit 2014 im Bundesgebiet. Nach den vorgelegten Verwaltungsvorgängen war er vom 22. Juni 2017 bis zum 21. September 2017 im Besitz einer Duldung, dann vom 30. November 2017 bis zum 6. März 2018, vom 13. März 2018 bis zum 15. Mai 2018, vom 31. Mai 2018 bis zum 30. August 2018, vom 4. September 2018 bis zum 5. Februar 2019, vom 14. Februar 2019 bis zum 19. März 2019, vom 16. April 2019 bis zum 11. Juni 2019 und vom 20. Juni 2019 bis zum 2. September 2019 im Besitz einer Aufenthaltsgestattung sowie vom 3. September 2019 bis zum 14. Januar 2020, vom 21. Januar 2020 bis zum 14. Januar 2021 und vom 17. Januar 2021 bis zum Widerruf der Duldung am 19. Juli 2021 wiederum im Besitz einer Duldung i.S.d. § 60a Abs. 2 Satz1 AufenthG. Es ist davon auszugehen, dass der Antragsteller während des hier in den Blick genommenen Zeitraums vom 22. Juni 2017 bis zum 19. Juli 2021 durchgehend einen Anspruch auf eine Duldung bzw. auf eine Aufenthaltsgestattung besessen und das Bundesgebiet nicht verlassen hat. Auch für die Zeit nach dem Widerruf der Duldung am 19. Juli 2021 bis zur Vollendung seines 21. Lebensjahres am … 2021 lag eine Duldung (oder ein Anspruch auf eine solche) vor. Für die Zeit ab dem 9. September 2021 folgt dies aus der vom Antragsgegner erklärten Verfahrensduldung. In der Zwischenzeit vom 19. Juli 2021 bis zum 9. September 2021 hatte der Antragsteller jedenfalls einen Anspruch auf eine Verfahrensduldung.
Eine Verfahrensduldung kann für die Dauer von Verwaltungs- oder gerichtlichen Verfahren zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG geboten sein, wenn eine Aussetzung der Abschiebung notwendig ist, um die für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erforderlichen und tatsächlich gegebenen tatbestandlichen Voraussetzungen für die Dauer des Aufenthaltserlaubniserteilungsverfahrens aufrecht zu erhalten und so sicherzustellen, dass eine aufenthaltsrechtliche Regelung einem möglicherweise Begünstigten zugutekommen kann (vgl. Beschluss des Senats vom 14. Oktober 2009 – 2 M 142/09 – juris Rn. 8 zu § 104a Abs. 1 AufenthG; NdsOVG, Beschluss vom 22. August 2017 – 13 ME 213/17 – juris Rn. 3 m.w.N.). Je besser insoweit die Erfolgsaussichten sind, desto eher werden die Voraussetzungen für eine Verfahrensduldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG (effektiver Rechtsschutz als rechtliches Abschiebungshindernis) oder zumindest nach § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG (Ermessensduldung) erfüllt sein (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 2019 – 1 C 34.18 – a.a.O. Rn. 30).
Hiernach war dem Antragsteller für die Zeit ab dem 19. Juli 2021 eine Verfahrensduldung zu erteilen. Er erfüllte zu diesem Zeitpunkt sämtliche besonderen Erteilungsvoraussetzungen des § 25a Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Bis zu diesem Zeitpunkt wurde er wegen Passlosigkeit gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG geduldet. Zudem erfüllte er die von § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG geforderte vierjährige Aufenthaltszeit. Auch die übrigen Voraussetzungen des § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 bis 5 AufenthG waren – wie noch zu zeigen ist – erfüllt. Soweit die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 und 2 AufenthG nicht vollständig erfüllt waren, war das vom Antragsgegner nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG auszuübende Ermessen – wie ebenfalls noch darzulegen ist – zugunsten des Antragstellers auf Null reduziert. In dieser Situation war dem Antragsteller zur Sicherung eines effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 GG für die Dauer des Verfahrens auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG eine Verfahrensduldung zu erteilen. Einen möglichen Anspruch auf Erteilung einer solchen Aufenthaltserlaubnis kann der Antragsteller nach einer Abschiebung in sein Heimatland nicht mehr geltend machen, da hierfür Voraussetzung ist, dass er sich seit mindestens vier Jahren ununterbrochen im Bundesgebiet aufgehalten hat. Der vom Antragsgegner stattdessen – unter Hinweis auf die Vorlage des Nationalpasses durch den Antragsteller – verfügte Widerruf der Duldung und anschließende Ablehnung der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG missachtet die bereits nach § 25a AufenthG entstandene Rechtsposition des Antragstellers und ist deshalb rechtswidrig.
Im Ergebnis hat sich der Antragsteller im Zeitpunkt der Vollendung seines 21. Lebensjahres am … 2021 seit vier Jahren ununterbrochen erlaubt, geduldet oder mit einer Aufenthaltsgestattung im Bundesgebiet aufgehalten, so dass die Anforderungen des § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG erfüllt sind.
(4) Auch die Voraussetzungen des § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG liegen vor. Zwar besucht der Antragsteller keine Schule mehr, da das Ausbildungsverhältnis bei der Firma N. aufgrund des Widerrufs der Duldung beendet wurde, so dass auch nicht mehr von einem Besuch der Berufsschule ausgegangen werden kann. Der Antragsteller hat jedoch im Bundesgebiet einen anerkannten Schulabschluss erworben. Hierzu zählen insbesondere die Abschlüsse der allgemeinbildenden Schulen (vgl. Hecker, in: Kluth/Heusch, a.a.O., § 25a AufenthG Rn. 7). Diese Anforderung erfüllt der Antragsteller, da er mit dem Abschlusszeugnis der Sekundarschule W. K. in A-Stadt vom 22. Juni 2018 einen erweiterten Realschulabschluss erworben hat. Ein Abschluss des Fachgymnasiums in der Fachrichtung Wirtschaft – über die Einführungsphase hinaus – ist hingegen nicht ersichtlich.
(5) Der Antragsteller hat den Antrag auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis auch vor Vollendung des 21. Lebensjahres gestellt. Maßgeblich für die Wahrung der Altersgrenze ist allein der Zeitpunkt der Antragstellung (vgl. Röcker, in: Bergmann/Dienelt, a.a.O., § 25a AufenthG Rn. 14). Diese erfolgte am … 2019. An diesem Tag wurde der Antragsteller 19 Jahre alt. Der Antragsteller hat seinen Antrag auch nicht mit dem Schreiben vom 17. Juni 2020 zurückgenommen. Vielmehr hat er hierin lediglich angekündigt, den Antrag zurückzunehmen, sofern der Antragsgegner nicht bereit sei, den Antrag zurückzustellen, bis der Pass vorliege. Zu einer Rücknahme des Antrags ist es jedoch – soweit ersichtlich – nicht gekommen.
(6) Zudem erscheint gewährleistet, dass der Antragsteller sich aufgrund seiner bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland einfügen kann. Die nach § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG erforderliche Erwartung, dass der Ausländer sich aufgrund seiner bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse in sozialer, wirtschaftlicher und rechtlicher Hinsicht in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland einfügen kann, erfordert eine positive Integrationsprognose. Geboten ist eine die konkreten individuellen Lebensumstände des ausländischen Jugendlichen oder Heranwachsenden berücksichtigende Gesamtbetrachtung, etwa der Kenntnisse der deutschen Sprache, des Vorhandenseins eines festen Wohnsitzes und enger persönlicher Beziehungen zu dritten Personen außerhalb der eigenen Familie, des Schulbesuchs und des Bemühens um eine Berufsausbildung und Erwerbstätigkeiten, des sozialen und bürgerschaftlichen Engagements sowie der Akzeptanz der hiesigen Rechts- und Gesellschaftsordnung (vgl. Beschluss des Senats vom 17. Oktober 2016 – 2 M 73/16 – juris Rn. 5; VGH BW, Beschluss vom 3. Juni 2020 – 11 S 427/20 – a.a.O. Rn. 33 m.w.N.). Diese Prognose ist aufgrund der bisherigen Integrationsleistungen zu erstellen. Nach diesen Maßstäben fällt die Integrationsprognose für den Antragsteller positiv aus. Er ist (erstmals) mit 12 Jahren im Jahr 2013 nach Deutschland gekommen und lebt seit der Überstellung nach Polen und der Wiedereinreise nach Deutschland im Jahr 2014 inzwischen seit 7 Jahren hier, verfügt über einen festen Wohnsitz, hat einen erweiterten Realschulabschluss erworben und die begründete Aussicht, bei der Firma N. eingestellt und im Ausbildungsberuf „Verkäufer (Lebensmittel, allgemeines Sortiment / Kassensystemdaten und Kundenservice)“ ausgebildet zu werden.
Der Umstand, dass der Antragsteller im Jahr 2019 zweimal wegen Diebstahls angeklagt wurde, steht einer positiven Integrationsprognose nicht entgegen. Zwar wird man bei straffällig gewordenen Jugendlichen oder Heranwachsenden regelmäßig nicht von einer positiven Integrationsprognose ausgehen können (vgl. Beschluss des Senats vom 17. Oktober 2016 – 2 M 73/16 – a.a.O. Rn. 5). Insoweit ist jedoch eine differenzierte Betrachtung angezeigt. Auch wenn strafrechtliche Verfehlungen unabhängig vom Vorliegen einer strafgerichtlichen Verurteilung auf eine mangelhafte Akzeptanz der hiesigen Rechts- oder Gesellschaftsordnung hindeuten, so ist es doch geboten, jeweils anhand der Erkenntnisse im konkreten Einzelfall zu überprüfen, ob die strafrechtliche Verfehlung eine positive Integrationsprognose ausschließt (vgl. Röcker, in: Bergmann/Dienelt, a.a.O., § 25a AufenthG Rn. 15). Hiernach stehen die dem Antragsteller vorgeworfenen Straftaten einer positiven Integrationsprognose nicht entgegen, zumal sich die Straftaten im Bagatellbereich bewegen, es offenbar nicht zu einer Verurteilung gekommen ist und der Antragsteller durch den Abschluss eines Ausbildungsvertrages mit der Firma N. seine Bereitschaft gezeigt hat, sich in die hiesigen Lebensverhältnisse einzufügen.
(7) Es bestehen schließlich keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller sich nicht zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland bekennt (§ 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 AufenthG).
b) Zwar sind die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 und 2 AufenthG teilweise nicht erfüllt. Das Ermessen des Antragsgegners gemäß § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG ist jedoch voraussichtlich zugunsten des Antragstellers auf Null reduziert.
(1) Soweit der Antragsteller derzeit zur Sicherstellung des eigenen Lebensunterhalts auf öffentliche Leistungen angewiesen sein sollte, steht dies der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25a Abs. 1 AufenthG nicht entgegen. Zwar befreit die Sonderregelung des § 25a Abs. 1 Satz 2 AufenthG nur solange von der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung der Sicherung des Lebensunterhalts gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, wie der Jugendliche oder der Heranwachsende sich in einer schulischen oder beruflichen Ausbildung oder einem Hochschulstudium befindet. Außerhalb der von § 25a Abs. 1 Satz 2 AufenthG erfassten Sachverhaltskonstellationen verbleibt es bei der allgemeinen Regelung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG (vgl. Röcker, in: Bergmann/Dienelt, a.a.O., § 25a AufenthG Rn. 8 Fn. 14). Daraus folgt jedoch nicht, dass die Unterhaltssicherung nach Erwerb des Schulabschlusses zwingend ist. Soweit der Jugendliche oder Heranwachsende zum Zeitpunkt der Antragstellung bereits einen Schulabschluss im Bundesgebiet erworben hat, sich derzeit aber noch nicht in einer beruflichen Ausbildung oder in einem Arbeitsverhältnis befindet, eröffnet § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG die Möglichkeit, zunächst von der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung der Lebensunterhaltssicherung abzusehen. Hiervon ist für eine angemessene Dauer der zu erwartenden Ausbildungsplatz- bzw. Arbeitsplatzsuche Gebrauch zu machen, wenn aufgrund des bisherigen Werdegangs und des Verhaltens des Betroffenen die zügige Aufnahme einer Arbeit oder Ausbildung zu erwarten ist (vgl. Fränkel, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 25a AufenthG Rn. 10; Göbel-Zimmermann/Hupke, in: Huber/Mantel, Aufenthaltsgesetz/Asylgesetz, 3. Auflage 2021, § 25a AufenthG Rn. 16; Anwendungshinweise des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport vom 3. Juli 2019 – 14.31-12230/1-8 -, aktualisiert am 10. Juni 2021, Nr. 2.3, S. 13, https://www.mi.niedersachsen.de/startseite/themen/auslanderangelegenheiten/zahlen_daten_fakten/niedersachsische_erlasse/niedersaechsische-erlasse-seit-2014-139998.html). Das gleiche gilt, wenn das Fehlen eines Ausbildungsverhältnisses oder eines Arbeitsplatzes allein darauf zurückzuführen ist, dass ihm von der zuständigen Ausländerbehörde keine Beschäftigungserlaubnis gemäß § 4a Abs. 4 AufenthG i.V.m. § 32 BeschV erteilt worden ist.
Nach diesen Grundsätzen dürfte im vorliegenden Fall von der grundsätzlich anwendbaren allgemeinen Erteilungsvoraussetzung der Sicherung des Lebensunterhalts gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG abzusehen sein, da der Antragsteller bis zum Widerruf seiner Duldung in einem Ausbildungsverhältnis bei der Firma N. stand, das allein aufgrund des Widerrufs der Duldung beendet wurde, so dass zu erwarten ist, dass der Antragsteller nach Legalisierung seines Aufenthalts zeitnah ein neues Ausbildungsverhältnis oder einen Arbeitsplatz finden wird.
(2) Die Identität des Antragstellers ist durch die Vorlage seines Passes geklärt (§ 5 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG).
(3) Anhaltspunkte dafür, dass im Hinblick auf den Antragsteller ein Ausweisungsinteresse besteht (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) oder sein Aufenthalt Interessen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt oder gefährdet (§ 5 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG), sind nicht ersichtlich.
(4) Der Antragsteller erfüllt auch die Passpflicht nach § 3 AufenthG (§ 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG).
(5) Unerheblich ist, dass der Antragsteller nicht mit dem erforderlichen Visum eingereist ist (§ 5 Abs. 2 AufenthG).
Es ist bereits zweifelhaft, ob die allgemeine Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 2 AufenthG im Rahmen des § 25a Abs. 1 AufenthG überhaupt Anwendung findet (gegen die Anwendung des § 5 Abs. 2 AufenthG: Anwendungshinweise des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport vom 3. Juli 2019, a.a.O., Nr. 2.3, S. 15). Jedenfalls dürfte von dem Visumerfordernis nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG im Ermessenswege abzusehen sein. Zwar ist entsprechend dem Zweck der Norm, eine zusammenfassende Sonderregelung für die Aufnahme in das Bundesgebiet aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen zu schaffen, eine umfassende und grundsätzlich offene Abwägung zwischen den hinter § 5 Abs. 2 AufenthG stehenden öffentlichen Interessen und den privaten Interessen des Ausländers zu treffen. Doch ist hierbei zugunsten des Ausländers gerade die gesetzgeberische Intention, gut integrierten Jugendlichen bzw. Heranwachsenden eine eigene gesicherte Aufenthaltsperspektive durch die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis einzuräumen, und damit das öffentliche Interesse an der Legalisierung des Aufenthalts angemessen zu berücksichtigen. In den Fällen des § 25a Abs. 1 AufenthG dürfte das Ermessen dahingehend auszuüben sein, dass von einer Nachholung des Visumverfahrens abgesehen wird, sofern keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass das Visumverfahren bewusst umgangen wurde (vgl. VGH BW, Beschluss vom 3. Juni 2020 – 11 S 427/20 – a.a.O. Rn. 42).
Gemessen daran liegt voraussichtlich auch bei der gemäß § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG zu treffenden Ermessensentscheidung über das Absehen von dem Visumserfordernis nach § 5 Abs. 2 AufenthG eine Ermessensreduzierung auf Null dahingehend vor, dass von der Anwendung des Visumserfordernisses abzusehen ist. Die Integrationsleistungen des Antragstellers haben vor dem Hintergrund des Zwecks des § 25a Abs. 1 AufenthG hohes Gewicht. Hinzu kommt, dass die Voraussetzungen für eine Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a Abs. 1 AufenthG entfallen würden, wenn der Antragsteller zur Nachholung des Visumverfahrens in sein Heimatland zurückkehren müsste. Schließlich war er im Zeitpunkt der Einreise in das Bundesgebiet erst 12 bzw. 13 Jahre alt, so dass von einer bewussten Umgehung des Visumverfahrens durch ihn selbst nicht die Rede sein kann. Das Verhalten seiner Eltern kann ihm nicht zugerechnet werden.
c) Anhaltspunkte für eine der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a Abs. 1 AufenthG entgegenstehende atypische Fallkonstellation sind nicht ersichtlich.
Liegen die Voraussetzungen vor, soll die Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25a Abs. 1 Satz 1 AufenthG erteilt werden. Die Soll-Regelung bedeutet, dass die Aufenthaltserlaubnis in der Regel erteilt werden muss und nur bei Vorliegen von atypischen Umständen nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden ist (vgl. VGH BW, Beschluss vom 3. Juni 2020 – 11 S 427/20 – a.a.O. Rn. 43). Dass hier ein atypischer Fall gegeben ist, ist nicht ersichtlich. Der Antragsteller hat während der gesamten Dauer seines Aufenthalts im Bundesgebiet anerkennenswerte Integrationsleistungen erbracht. Er entspricht damit dem vom Gesetzgeber zugrunde gelegten Bild eines jugendlichen Ausländers mit positiver Integrationsprognose. Ein etwaiges öffentliches Interesse an der Aufenthaltsbeendigung wird daher durch die schutzwürdigen privaten Belange an der Legalisierung des Aufenthalts überwogen.
2. Es besteht auch ein Anordnungsgrund. Der Antragsteller ist seit Eintritt der Bestandskraft des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 11. September 2017 sowie dem Ablauf der darin gesetzten Ausreisefrist von 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens vollziehbar ausreisepflichtig. Der Antragsgegner strebt grundsätzlich die Abschiebung des Antragstellers auf der Grundlage der Abschiebungsandrohung in dem genannten Bescheid an und hat bislang nur bis zur Entscheidung des Senats von Vollstreckungsmaßnahmen abgesehen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47, 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG i.V.m. Nr. 1.5 und Nr. 8.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013. Nach der Rechtsprechung des Senats ist bei Streitigkeiten um eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung (§ 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG) der halbe Auffangwert des § 52 Abs.2 GKG, mithin 2.500 €, zu Grunde zu legen (so auch Nr. 8.3 des Streitwertkatalogs). Das gilt auch dann, wenn der Abschiebungsschutz – wie in der Regel – im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes erstritten werden soll, weil in diesen Fällen regelmäßig von einer Vorwegnahme der Hauptsache auszugehen und deshalb eine weitere Reduzierung des Streitwerts nicht angemessen ist (vgl. Beschluss des Senats vom 28. April 2010 – 2 O 41/10 – juris Rn. 2). Der Senat macht zudem von der Möglichkeit des § 63 Abs. 3 GKG Gebrauch, die erstinstanzliche Streitwertfestsetzung von Amts wegen entsprechend zu ändern.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).


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