Verwaltungsrecht

Offensichtlichkeitsentscheidung im Asylrecht

Aktenzeichen  AN 4 S 16.32398

Datum:
22.12.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 30, § 34, § 36

 

Leitsatz

1 Die Behauptung, in Aserbaidschan die Schule besucht zu haben und gleichzeitig gearbeitet zu haben, ist nicht zwingend unlogisch und widersprüchlich.  (redaktioneller Leitsatz)
2 Im Rahmen einer Offensichtlichkeitsentscheidung hat das Bundesamt im Rahmen einer Befragung widersprüchlich erscheinende Behauptungen zu hinterfragen und sich um einen Sachverhaltsaufklärung zu bemühen. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die aufschiebende Wirkung der unter dem gerichtlichen Aktenzeichen AN 4 K 16.32399 anhängigen Klage wird angeordnet.
2. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Der Antragsteller ist aserbaidschanischer Staatsangehöriger aserbaidschanischer Volkszugehörigkeit und muslimisch-schiitischen Glaubens. Er reiste eigenen Angaben zufolge am 22. April 2016 gemeinsam mit seiner Ehefrau und den beiden Söhnen (Bundesamtsaktenzeichen: …) in einem Wohnmobil in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 2. Mai 2016 einen Asylantrag. Für die am 7. Juli 2016 in Deutschland geborene Tochter des Antragstellers und seiner Ehefrau wird seit dem 15. Juli 2016 unter dem Bundesamtsaktenzeichen … ein Asylverfahren betrieben.
Im Rahmen seiner persönlichen Anhörung gemäß § 25 AsylG beim Bundesamt … (Bundesamt) erklärte der Antragsteller: Er sei im Jahre 2014 oder 2015 mit einem Taxi von … nach … gefahren. Unterwegs sei das Taxi in eine Kontrolle des Verkehrsministeriums geraten. Man habe die Genehmigung und den Führerschein des Taxifahrers sehen wollen, um diese zu kontrollieren. Der Antragsteller habe den Ablauf der Kontrolle mit seinem Handy gefilmt. Während der Kontrolle sei es dazu gekommen, dass dem Fahrzeug die Nummernschilder abgeschlagen worden seien. Außerdem habe man dem Taxifahrer seine Papiere nicht zurückgeben wollen. Daraufhin habe der Antragsteller seinen Presseausweis gezeigt und angekündigt, die von ihm gemachten Bilder zu veröffentlichen. Die Kontrolleure hätten ihm dann gedroht und erklärt, ihn zu finden, egal, wo er wohne, wenn er die Bilder tatsächlich veröffentliche. Er habe die Bilder dann aber zur Veröffentlichung gebracht. Er sei durch ein Bild von seinem Presseausweis als Autor dieser Bilder zu erkennen gewesen.
Danach sei es zu mehreren Vorfällen gekommen: Ende März 2015 sei die Wohnung des Antragstellers in … mehrere Male von zwei Männern besucht worden, wie ihm dort auch lebende Bekannte berichtet hätten. Außerdem sei mehrere Male versucht worden, einen Unfall mit seinem Auto, in dem auch manchmal seine Familie gesessen habe, zu inszenieren. Dabei sei ein LKW der Marke Kamas eingesetzt worden. Zudem sei bei ihm eingebrochen und der Scanner im Arbeitszimmer zerstört sowie Kameras und Handys mitgenommen worden, obwohl sich noch viel wertvollere Einrichtungsgegenstände im Haus befunden hätten. Sämtliche Zeitungen, in denen der Antragsteller Artikel und Fotos veröffentlicht habe, seien von den Einbrechern mitgenommen worden. Über den ihm persönlich bekannten Leiter des örtlichen Polizeirevieres habe der Antragsteller erfahren, dass einer der Beamten, die das Taxi seinerzeit kontrolliert hätten, der Neffe des Chefs der Zentralbehörde der Polizei … gewesen sei. Jener habe auch das Nummernschild entfernt. Im Jahre 2015 sei er von zwei Männern mitgenommen und ins Innenministerium gebracht worden. Dort sei ihm von einem Abteilungsleiter vorgeworfen worden, keine Steuern bezahlt zu haben und korrupt zu sein. Dieser Abteilungsleiter habe ihm mit einem Verfahren gedroht, welches wahrscheinlich mit einer langjährigen Freiheitsstrafe enden werde. Alternativ könne er 30.000,00 EUR als sofortige Strafe zahlen. Der Antragsteller erklärte, dass er diese Summe auf 9.300,00 EUR runterhandeln konnte. Am 19. Januar 2016 sei er in einem Hotel auf aserbaidschanischer Seite in der Grenzregion zum Iran von 10 Polizisten verhaftet und auf das örtliche Polizeirevier gebracht worden. Dort habe man ihm ein Bild von einem Taschendieb gezeigt und ihm unterstellt, dies sei ein Bild von ihm. Er habe das Polizeirevier nur verlassen dürfen, nachdem er 4.000,00 EUR bezahlt habe. Zurück in … habe ihn ein Freund, der ein Neffe des Chefs des örtlichen Polizeirevieres sei, gewarnt, dass man ihm etwas Großes in die Schuhe schieben und ihn ganz lange ins Gefängnis sperren werde. Auf Anraten seines Vaters habe er sich daher zur Flucht entschlossen.
Auf die – einzige – Nachfrage des Bundesamtes erklärte der Antragsteller, dass er auf seine Geschäftseinnahmen keine Steuern bezahlt und für das übergebene Geld keine Quittung bekommen habe. Er befürchte, dass er bei Rückkehr nach Aserbaidschan aus falschen Gründen lange in Haft müsse.
Die ebenfalls am 12. Mai 2016 gemäß § 25 AsylG angehörte Ehefrau des Antragstellers erklärte gegenüber dem Bundesamt, dass ihr Mann eines Tages nach Hause gekommen sei und gesagt habe, sie müssten jetzt fliehen. Daraufhin habe sie gepackt und sei mit den Kindern mitgegangen. Ihr persönlich sei, so erklärte die Ehefrau auf Nachfrage des Bundesamtes, vor der Ausreise nichts passiert.
Mit Bescheid vom 5. Dezember 2016 wurden der Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, der Antrag auf Asylanerkennung und der Antrag auf subsidiären Schutz als offensichtlich unbegründet abgelehnt (Ziffer 1, 2 und 3). In Ziffer 4 wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. Gleichzeitig wurde der Antragsteller aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe dieser Entscheidung zu verlassen (Ziffer 5). Zudem wurde die Abschiebung – unter anderem – nach Aserbaidschan angedroht. In Ziffer 6 wurde das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des internationalen Schutzes und die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter offensichtlich nicht vorlägen, § 30 Abs. 1 AsylG. Denn der Antragsteller habe insbesondere nicht glaubhaft gemacht, dass ihm in Aserbaidschan aufgrund falscher Anschuldigungen eine langjährige Haftstrafe drohe. Sein diesbezüglicher Vortrag im Rahmen der persönlichen Anhörung sei unsubstantiiert und teilweise so unlogisch, dass ein solcher Schluss nicht gezogen werden könne. Der gesamte Vortrag des Antragstellers sei aber auch insbesondere deshalb unglaubhaft, weil seine Ehefrau während ihrer persönlichen Anhörung zu ihren Ausreisegründen lediglich vorgetragen habe, dass ihr Mann nach Hause gekommen sei und gesagt habe, sie müssten jetzt fliehen. Auf die Frage, was ihr persönlich vor der Ausreise passiert sei, habe sie geantwortet, dass ihr nichts widerfahren sei.
Mit bei Gericht am 15. Dezember 2016 eingegangenem Telefax ließ der Antragsteller unter dem gerichtlichen Zeichen AN 4 K 16.32399 Klage erheben und mit weiterem, ebenfalls am 15. Dezember 2016 bei Gericht eingegangenem Telefax, beantragen,
die aufschiebende Wirkung der Klage vom 15. Dezember 2016 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 5. Dezember 2016 gemäß § 80 Abs. 5 VwGO anzuordnen.
Eine Begründung der Klage und des vorliegenden Antrages erfolgte bis zum Tage der heutigen Entscheidung nicht.
Die Ehefrau und die Kinder des Antragstellers ließen unter den gerichtlichen Aktenzeichen AN 4 S 16.32388, AN 4 K 16.32389, AN 4 S 16.32390 und AN 4 K 16.32391 ebenfalls Klage erheben und Anträge auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung stellen.
Auf die dortigen Gerichts- und Behördenakten wird Bezug genommen.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird außerdem auf die vorliegenden Gerichts- und Behördenakte einschließlich der darin enthaltenen Schriftsätze Bezug genommen.
II.
Der gestellte Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO i. V. m. § 36 Abs. 3 AsylG auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung richtet sich nach Auslegung der am 15. Oktober 2016 bei Gericht eingegangenen Anträge gegen die nach § 75 Abs. 1 AsylG sofort vollziehbare Abschiebungsandrohung in Ziffer 5 des Bescheids der Antragsgegnerin vom 5. Dezember 2016.
Der zulässige Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist begründet, weil ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung bestehen.
Prüfungsmaßstab für die Entscheidung des Gerichts nach § 80 Abs. 5 VwGO ist nämlich aufgrund der Entscheidung der Antragsgegnerin über den Asylantrag als offensichtlich unbegründet die Vorschrift des § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG, wonach die Aussetzung der Abschiebung nur angeordnet werden darf, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen. Dabei ist gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung abzustellen.
Dies zugrunde gelegt, ist dem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung stattzugeben, weil dem angegriffenen Bescheid der Antragsgegnerin vom 5. Dezember 2016 ernstliche Zweifel im Hinblick auf seine Rechtmäßigkeit begegnen. Denn die Voraussetzungen des § 34 Abs. 1 AsylG für den Erlass der Abschiebungsandrohung liegen – auch im Zeitpunkt der heutigen Gerichtsentscheidung – nicht vor.
Das Bundesamt hat seine Entscheidung über den Asylantrag des Antragstellers als offensichtlich unbegründet auf § 30 Abs. 1 AsylG gestützt, weil der Antragsteller seine ihm in Aserbaidschan angeblich drohende Verfolgung nicht glaubhaft gemacht habe, und bezieht sich damit offenbar, aber nicht ausdrücklich, auf den Tatbestand des § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG wegen mangelnder Substantiierung und wegen Widersprüchlichkeit des Vorbringens.
An der Richtigkeit des Offensichtlichkeitsurteils des Bundesamtes bestehen jedoch nach Auffassung der Einzelrichterin ernstliche Zweifel. Die Offensichtlichkeit im Sinne von § 30 Abs. 1 AsylG wird nämlich vom Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung nur bejaht, „wenn im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen des Gerichts vernünftigerweise kein Zweifel bestehen kann und sich bei einem solchen Sachverhalt nach allgemein anerkannter Auffassung (nach dem Stand von Rechtsprechung und Literatur) die Abweisung der Klage geradezu aufdrängt.“ (Beck’scher Onlinekommentar, Kluth/Heusch, Stand 15.08.2016, § 30 AsylG, Rn. 14 unter Hinweis auf mehrere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, u. a. BVerfG, NvWZ 1994, 160 ff.). Eine solche Offensichtlichkeitsentscheidung kann allerdings nur dann getroffen werden, wenn das Asylbegehren eindeutig aussichtslos ist, die Aussichtslosigkeit also auf der Hand liegt (Beck’scher Onlinekommentar, a. a. O. unter Hinweis auf BVerfG, Beck Rs 2000, 22406, Rn. 3).
Das Bundesamt hält dem Antragsteller vor und stützt seine Entscheidung maßgeblich darauf, dass seine Angaben, die er im Rahmen der persönlichen Anhörung gemacht habe, unsubstantiiert und teilweise so unlogisch seien, dass eine Verfolgung in Aserbaidschan aus seinem Vortrag nicht geschlossen werden könne.
So liege schon in der Behauptung, er müsse bereits seit dem Jahre 1995 arbeiten und habe 11 Jahre lang die Mittelschule besucht, ein Widerspruch, der den Vortrag unglaubhaft erscheinen lasse. Insoweit ist dem Bundesamt jedoch entgegenzuhalten, dass der Befrager im Rahmen der Anhörung an dieser Stelle überhaupt nicht nachgefragt hat, um diesen – möglicherweise vermeintlichen – Widerspruch aufzulösen. Auch hierzulande ist es nicht unüblich, dass ältere Schüler neben dem Schulbesuch arbeiten. Es ist nicht fernliegend, dass in Ländern, in denen die sozioökonomische Lage deutlich schwieriger ist als in Deutschland, Schüler sogar gezwungen sind, neben der Schule zu arbeiten, um auf diese Weise etwas zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen. Jedenfalls hätte diese Frage im Rahmen der Anhörung aufgeklärt werden können und müssen, weil dieser Aspekt im streitgegenständlichen Bescheid sogar zur Begründung des Offensichtlichkeitsurteils herangezogen wird, obwohl es sich dabei nicht einmal um den Kern des vorgetragenen Verfolgungsgrundes handelt.
Darüber hinaus wird vom Bundesamt als widersprüchlich angesehen, dass der Antragsteller seit dem Jahre 2007 immer wieder Fotos und Filme von Kontrollen aserbaidschanischer Sicherheitskräfte in Zeitungen veröffentlicht habe und ihm bis zu dem Vorfall im Jahre 2014/2015 niemals etwas passiert sei. Auch insoweit hat der Befrager jedoch keinerlei Nachfragen gestellt, um den aus Sicht des Bundesamtes bestehenden Widerspruch aufzulösen. Hier käme ja auch eine anonyme Veröffentlichung in Betracht, die den Antragsteller vor Verfolgung geschützt haben könnte.
Recht zu geben ist den Ausführungen des streitgegenständlichen Bescheids insoweit, als es zumindest nicht naheliegend erscheint, dass nach dem Vorfall mit der angeblichen Taxikontrolle auch der Presseausweis des Antragstellers mit Namen und Foto veröffentlicht worden sein soll. Allerdings ist dem Bundesamt wiederum vorzuhalten, dass abermals nicht nachgefragt worden ist, um den Widerspruch aufzuklären.
Hinzu kommt, dass die Übersetzungsleistung im Rahmen der Anhörung offensichtlich unzureichend ist. Die Wiedergabe der Angaben des Antragstellers in die deutsche Sprache ist größtenteils grammatikalisch falsch und inhaltlich daher oft schwer verständlich. So bleibt im Unklaren, ob in der Zeitung tatsächlich ein Bild des Presseausweises als solchem oder das Foto des Antragstellers aus diesem Presseausweis veröffentlicht worden ist. Zu berücksichtigen ist insoweit auch, dass der Befrager im Rahmen der Anhörung nicht der Verfasser des streitgegenständlichen Bescheids ist, so dass die schlechte Übersetzung umso schwerer wiegt, da der Bescheidsverfasser bei der Anhörung nicht zugegen war.
Auch der im Bescheid aufgezeigte, angebliche Widerspruch, dass von der Taxikontrolle Bilder – gemeint sind wohl Fotos – veröffentlicht worden sein sollen, obwohl der Antragsteller die Kontrolle doch mit seinem Handy gefilmt habe, hätte sich durch eine Nachfrage möglicherweise auflösen lassen. Eine Veröffentlichung von Fotos aus einer Filmaufnahme scheint technisch jedenfalls nicht völlig fernliegend.
Besonders problematisch ist aus Sicht der Einzelrichterin jedoch, dass der Vortrag des Antragstellers insbesondere deshalb als unglaubhaft bewertet worden ist, weil die Ehefrau des Antragstellers sich lediglich pauschal auf die Fluchtgründe ihres Mannes bezogen hat. Insoweit hätte der Anhörende bei der Ehefrau gezielt nachfragen müssen. Ein Offensichtlichkeitsurteil, dass also die Aussichtslosigkeit des Asylbegehrens auf der Hand liegt, kann darauf jedenfalls nicht gestützt werden.
Nach alledem war dem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung stattzugeben.
Gerichtskosten werden gemäß 83 b AsylG nicht erhoben.
Diese Entscheidung ist nach § 80 AsylG unanfechtbar.

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