Verwaltungsrecht

Systemische Mängel im ungarischen Asylverfahren und den dortigen Aufnahmebedingungen

Aktenzeichen  M 1 S 16.50006

Datum:
27.1.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2
GRCh GRCh Art. 4

 

Leitsatz

1 In Ungarn läuft ein Asylbewerber Gefahr, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein, sodass systemische Mängel im ungarischen Asylverfahren oder den dortigen Aufnahmebedingungen für Asylbewerber bestehen. (redaktioneller Leitsatz)
2 Hinsichtlich der Einordnung Serbiens als sicheren Drittstaat nach dem ungarischen Asylgesetz bestehen ernsthafte Zweifel. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung im Bescheid des Bundesamts vom … Januar 2016 wird angeordnet.
II.
Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
Der Antragsteller ist eigenen Angaben zufolge kongolesischer Staatsangehöriger, reiste am 25. Dezember 2015 in das Bundesgebiet ein und beantragte am gleichen Tag seine Anerkennung als Asylberechtigter.
Nachdem er bei seiner unerlaubten Einreise in das Bundesgebiet aufgegriffen wurde, wurde er in Abschiebehaft genommen. In dem ihm dorthin übermittelten Fragebogen gab der Antragsteller an, über Russland und Ungarn nach Deutschland gelangt zu sein. Auf der Durchreise sei er durch Österreich gekommen. Aus der Ergebnisübermittlung des Eurodac-Treffers ergibt sich, dass er am 26. November 2015 in Ungarn registriert wurde und einen Asylantrag gestellt hat. Auf das Wiederaufnahmegesuch des Bundesamts vom 28. Dezember 2015 haben die ungarischen Behörden bis zum 11. Januar 2016 nicht geantwortet. Mit E-Mail vom 14. Januar 2016 erklärten die ungarischen Behörden die Bereitschaft, die Überstellung des Antragstellers zu akzeptieren.
Mit Bescheid vom … Januar 2016, zugestellt am 13. Januar 2016, wurde der Asylantrag des Antragstellers für unzulässig erklärt (Nr. 1) und die Abschiebung nach Ungarn angeordnet (Nr. 2). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz wurde auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 3). Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, weil Ungarn auf das Wiederaufnahmegesuch nicht geantwortet habe, sei gemäß Art. 28 Abs. 3 Dublin-III-VO davon auszugehen, dass die ungarischen Behörden der Wiederaufnahme zustimmten. Der Asylantrag sei gemäß § 27a AsylG unzulässig. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Bundesrepublik Deutschland veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO auszuüben, seien nicht ersichtlich. Die Anordnung der Abschiebung beruhe auf § 34a Abs. 1 S. 1 AsylG.
Am … Januar 2016 erhob der Antragsteller Klage gegen den Bescheid des Bundesamts vom … Januar 2016 (M 1 K 16.50005). Am selben Tag hat er beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung nach Ungarn anzuordnen.
Zur Begründung trägt er vor, das ungarische Asylsystem leide unter Systemmängeln. Es gebe ernsthafte, durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr laufen könne, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinn von Art. 4 der EU-Grundrechtecharta ausgesetzt zu sein. Die ungarischen Behörden seien nicht in der Lage, die Flut an Flüchtlingen mit der gleichen Intensität zu bewältigen wie die Bundesrepublik Deutschland. Sein Asylantrag sei deshalb in Deutschland einer materiellen Prüfung zu unterziehen.
Das Bundesamt legte mit Schreiben vom 18. Januar 2016, eingegangen am 20. Januar 2016, die Behördenakte vor. Ein Antrag wurde nicht gestellt. Zu den weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten und die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG i. V. m. § 80 Abs. 5 VwGO zulässige Antrag hat in der Sache Erfolg.
Gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen. Bei dieser Entscheidung sind das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts einerseits und das private Aussetzungsinteresse, also das Interesse des Betroffenen, bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts von dessen Vollziehung verschont zu bleiben, gegeneinander abzuwägen. Der Antrag ist begründet, weil die Erfolgsaussichten der in der Hauptsache erhobenen Klage zumindest offen sind, weshalb das Suspensivinteresse des Antragstellers das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin überwiegt.
An der Rechtmäßigkeit der auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG gestützten Abschiebungsanordnung bestehen bei summarischer Prüfung gravierende Zweifel. Nach dieser Vorschrift ordnet das Bundesamt die Abschiebung des Ausländers in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (vgl. § 27a AsylG) an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Diese Voraussetzungen sind hier nicht wohlerfüllt.
Die Republik Ungarn hat auf das Wiederaufnahmegesuch vom 28. Dezember 2015 nicht fristgerecht geantwortet, weshalb gemäß Art. 28 Abs. 3 Dublin-III-VO davon auszugehen ist, dass dem Wiederaufnahmegesuch stattgegeben wird; da der Antragsteller in Haft genommen wurde, geht diese Vorschrift dem Art. 25 Abs. 2 Dublin-III-VO vor.
Es liegt jedoch nach der derzeitigen Erkenntnislage nahe, dass Gründe i. S. d. Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin-III-VO vorliegen, die der Überstellung des Antragstellers nach Ungarn entgegenstehen. Viel spricht dafür, dass das Asylverfahren in Ungarn an systemischen Mängeln leidet und ernsthafte, durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme bestehen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i. S. v. Art. 4 der EU-Grundrechtecharta ausgesetzt zu werden.
Aufgrund der aus öffentlichen Quellen zugänglichen Informationen kann ohne weitere Aufklärung nicht ausgeschlossen werden, dass der Antragsteller im Falle seiner Überstellung nach Ungarn wegen systemischer Mängel des dortigen durch die Asylrechtsnovelle im August 2015 umgestalteten Asylverfahrens mit beachtlicher, d. h. überwiegender Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wird. Das Verwaltungsgericht Düsseldorf hat in dem Verfahren mit dem Aktenzeichen 22 K 3263/15.A ein Rechtsgutachten über das ungarische Asylrecht des Sachverständigen Prof. Dr. Dr. h. c. H. K. vom 2. Oktober 2015 eingeholt. Der Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 2. Dezember 2015 (22 K 3263/15.A) ist auf dieses Gutachten gestützt. Es liegt dem erkennenden Gericht bislang nicht vor. Ohne Kenntnis hiervon kann die Rechtslage in Ungarn nicht abschließend beurteilt werden. Die daraus vom Verwaltungsgericht Düsseldorf gezogenen Schlüsse reichen aber jedenfalls aus, um die Erfolgsaussichten in der Hauptsache als offen zu bewerten.
Das Verwaltungsgericht Düsseldorf, dem das entscheidende Gericht insoweit folgt, zieht daraus den Schluss, dass unabhängig von der Bewertung sonstiger Rechtsänderungen (etwa Einschränkung von Verfahrensrechten und Verkürzung von Rechtsbehelfsfristen) allein schon die durch die Asylrechtrechtsnovelle im August 2015 bewirkte (Wieder-)Einführung des Konzepts sicherer Drittstaaten unter Einbeziehung Serbiens als sicherer Drittstaat die ernsthafte Besorgnis rechtfertigt, dass einem Schutzsuchenden in Ungarn, ohne ihm Zugang zu einem Verfahren auf Zuerkennung internationalen Schutzes zu gewähren, in dem seine Fluchtgründe inhaltlich geprüft werden, die Abschiebung in ein Drittland droht, in dem eine inhaltliche Prüfung seiner Fluchtgründe ebenfalls nicht sichergestellt ist.
§ 2 der ungarischen Regierungsverordnung 191/2015. (VII.21) Korm., in Kraft getreten am 22. Juli 2015, bestimmt nach dem Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 2. Dezember 2015 die Mitgliedstaaten der Europäischen Union, ihre Mitgliedskandidatenstaaten – mit Ausnahme der Türkei -, die Mitgliedstaaten des Europäischen Wirtschaftsraums, die Gliedstaaten der Vereinigten Staaten von Amerika, die die Todesstrafe nicht anwenden, sowie die Schweiz, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Kanada, Australien und Neuseeland als sichere Drittländer gemäß § 2 Buchst. i) des ungarischen Asylgesetzes. Von den Nachbarstaaten Ungarns zählen zu den Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Slowakei, Österreich, Slowenien, Kroatien sowie Rumänien und zu den Staaten mit Kandidatenstatus Serbien. Damit verbleibt nur die Ukraine als einziger Nachbarstaat von Ungarn, der nicht von § 2 der oben genannten ungarischen Regierungsverordnung erfasst wird.
Die Einreise aus einem Land, das in § 2 der ungarischen Regierungsverordnung als sicherer Drittstaat eingeordnet wird, begründet nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme des Verwaltungsgerichts Düsseldorf gemäß dem ungarischen Asylgesetz in seiner derzeit gültigen Fassung eine gesetzliche Vermutung, dass der Schutzsuchende dort bereits hätte Asyl beantragen und Schutz erhalten können. Diese gesetzliche Vermutung kann der Schutzsuchende widerlegen, indem er nachweist, dass in seinem konkreten Fall der Drittstaat nicht sicher war, weil er dort keinen dem ungarischen Asyl adäquaten Schutz hat erhalten können. Gelingt dem Schutzsuchenden dieser Nachweis nicht, so ist das Schutzgesuch (soweit nicht die Dublin-Verordnungen Anwendung finden) gemäß § 51 des ungarischen Asylgesetzes in einem beschleunigten Verfahren als unzulässig abzuweisen.
Die aus diesen Regelungen abzuleitenden Rechtsfolgen unterwerfen nach den überzeugenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts Düsseldorf im Gerichtsbescheid vom 2. Dezember 2015 einen hiervon betroffenen Schutzsuchenden der ernsthaften Gefahr, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung i. S. d. Art. 4 EU-Grundrechtecharta unterworfen zu werden, indem ihm (ggfs. ohne Gewährung eines Zugangs zu einem Verfahren auf Zuerkennung internationalen Schutzes, in dem seine Fluchtgründe inhaltlich geprüft werden) die Abschiebung in ein Drittland droht, in dem eine inhaltliche Prüfung seiner Fluchtgründe ebenfalls nicht gewährleistet ist. Es droht damit zugleich ein indirekter Verstoß gegen den in Art. 33 Abs. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention verankerten Grundsatz der Nichtzurückweisung (Refoulement-Verbot). Das Gemeinsame Europäische Asylsystem stützt sich zur Vermeidung einer Verletzung der in der EU-Grundrechtecharta gewährleisteten Rechte auf die uneingeschränkte und umfassende Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention und die Versicherung, dass niemand dorthin zurückgeschickt wird, wo er Verfolgung ausgesetzt ist. Dementsprechend verpflichtet Art. 21 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU vom 13. Dezember 2011 (Qualifikationsrichtlinie) die Mitgliedstaaten, den Grundsatz der Nichtzurückweisung in Übereinstimmung mit ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen zu achten. In Übereinstimmung hiermit sieht das in Art. 39 der Richtlinie 2013/32/EU vom 26. Juni 2013 (Asylverfahrensrichtlinie) niedergelegte europäische Konzept der sicheren Drittstaaten vor, dass ein Drittstaat nur dann als „sicherer Drittstaat“ betrachtet werden kann, wenn dieser die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention nicht nur ratifiziert hat, sondern ihre Bestimmungen auch einhält.
Die Einordnung Serbiens als sicherer Drittstaat mit den hieraus erwachsenden Rechtsfolgen nach dem ungarischen Asylgesetz entspricht nach der Schlussfolgerung des Verwaltungsgerichts Düsseldorf diesen Anforderungen nicht. Vielmehr besteht die ernsthafte Gefahr, dass ein von den gesetzlichen Regelungen betroffener Schutzsuchender ohne Zugang zu einem Asylverfahren zu erhalten, in dem seine Fluchtgründe geprüft werden, in einen Staat abgeschoben wird, der seinerseits die Genfer Flüchtlingskonvention tatsächlich nicht einhält. Dies stellt unabhängig von der Frage, ob der Antragsteller persönlich Gefahr läuft, nach Serbien abgeschoben zu werden einen systemischen Mangel dar.
Es bestehen ernsthafte Zweifel daran, dass Serbien die aus der Genfer Flüchtlingskonvention folgenden Verpflichtungen tatsächlich einhält. Der Kommissar für Menschenrechte des Europarates wandte sich mit einem Schreiben vom 27. November 2013 an den serbischen Premierminister und Innenminister Ivica Dacic, in dem er seine während eines Aufenthalts in Serbien erlangten Erkenntnisse über das serbische Asylsystem und die dortigen Aufnahmebedingungen schildert (überfüllte Aufnahmezentren, in denen unmenschliche Lebensbedingungen herrschen, die große Mehrheit der Asylsuchenden hat praktisch keinen Zugang zum Asylverfahren, kaum Aussicht auf Flüchtlingsanerkennung angesichts nur drei anerkannter Flüchtlinge seit 2008; vgl. Commissioner for Human Rights, Council of Europe, https://wcd.coe.int/com.instranet.InstraServlet?comand=com.instranet.CmdBlobGet&InstranetImage=2444713&SecMode=1&DocId=2108062&Usage=2, abgerufen am 6. August 2015). Soweit erkennbar, hält der UNHCR bis heute an dieser Einschätzung fest (vgl. UNHCR Meldung vom 17.9.2015 „Kursänderung in Europa notwendig“ http://www.unhcr.de/home/artikel/c15a8fbbe9fbfaebee7c1f0c55ff872c/kursaenderung-in-europa-notwendig-1.html ). Die Publikation „Right to Asylum in the Republic of Serbia 2014“, veröffentlicht vom Belgrade Centre for Human Rights im März 2015, bestätigt diese Einschätzung (http://www.bgcentar.org.rs/bgcentar/eng-lat/wp-content/uploads/2015/04/Right-to-Asylum-in-the-Republic-of-Serbia-2014.pdf). Hier ist für den Zeitraum von 2008 bis einschließlich 2014 von sechs Asylanerkennungen und zwölf Fällen der Gewährung von subsidiärem Schutz die Rede.
Dem Antrag war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben.
Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylVfG). Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).


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