Verwaltungsrecht

Verfahrenseinstellung wegen Nichtbetreibens des Asylverfahrens

Aktenzeichen  M 16 S 16.34234

Datum:
29.12.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 25, § 33, § 36 Abs. 4

 

Leitsatz

1 Hat der Antragsteller das Ladungsschreibenschreiben zur persönlichen Anhörung nicht erhalten und erfüllt der Hinweis über die Folgen des Nichterscheinens nicht die Anforderungen des § 33 Abs. 4 AsylG, ist die Einstellung des Asylverfahrens wegen Nichtbetreibens rechtsfehlerhaft. Die Voraussetzungen für den Erlass einer Abschiebungsandrohung liegen nicht vor.  (redaktioneller Leitsatz)
2 Ist das Verfahren wegen Nichtbetreibens rechtsfehlerhaft eingestellt worden, kann der Asylbewerber nicht auf einen Wiederaufnahmeantrag beim Bundesamt verwiesen werden, denn das Wiederaufnahmeverfahren stellt kein geeignetes und rechtliche Nachteile mit sich bringendes Verfahren dar. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die aufschiebende Wirkung der Klagen gegen die Abschiebungsandrohung unter Nr. 3 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 9. November 2016 wird angeordnet.
II.
Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III.
Die Anträge auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe werden abgelehnt.

Gründe

I.
Der Antragsteller sind armenische Staatsangehörige. Sie reisten am 6. September 2015 in das Bundesgebiet ein und stellten am 19. Januar 2016 Asylanträge.
Mit Schreiben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 7. September 2016 wurden die Antragsteller zur persönlichen Anhörung am 20. September 2016 geladen. Das Schreiben gelangte mit dem Vermerk „Adressat unter der angegebenen Anschrift nicht zu ermitteln“ an das Bundesamt zurück. Mit einem weiteren Schreiben des Bundesamts vom 20. September 2016 wurden die Antragsteller unter einer anderen, im Ausländerzentralregister ermittelten Anschrift zur persönlichen Anhörung am 5. Oktober 2016 geladen. Auch dieses Schreiben gelangte mit dem Vermerk „Adressat unter der angegebenen Anschrift nicht zu ermitteln“ an das Bundesamt zurück.
Mit Bescheid vom 9. November 2016 stellte das Bundesamt fest, dass die Asylanträge als zurückgenommen gelten, stellte die Asylverfahren ein (Nr. 1) und verneinte das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz – AufenthG (Nr. 2). Die Antragsteller wurden aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe des Bescheids zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde die Abschiebung nach Armenien oder in einen anderen aufnahmebereiten oder zur Rückübernahme verpflichteten Staat angedroht (Nr. 3). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4). Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, den Antragstellern sei der 20. September 2016 bzw. der 5. Oktober 2016 als Termin zur persönlichen Anhörung mitgeteilt worden. Sie seien jedoch ohne genügende Entschuldigung nicht erschienen. Deshalb werde nach § 33 Abs. 2 Nr. 1 AsylG vermutet, dass sie ihre Verfahren nicht betreiben. Der Bescheid wurde am 11. November 2016 als Einschreiben zur Post gegeben.
Am 15. November 2016 erhob der Bevollmächtigte der Antragsteller Klage (M 16 K 16.34233) und beantragte gleichzeitig,
die aufschiebende Wirkung der Klage vom 15. November 2016 gegen den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 9. November 2016 anzuordnen, hilfsweise die Antragsgegnerin zu verpflichten, die zuständige Ausländerbehörde anzuweisen, dass Zwangsmaßnahmen und aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegen die Antragsteller bis zum rechtskräftigen Abschluss des Klageverfahrens nicht vorgenommen oder angeordnet werden dürfen.
Außerdem wurde die Gewährung von Prozesskostenhilfe beantragt. Zur Begründung wird im Wesentlichen vorgetragen, die Einstellung des Asylverfahrens sei rechtswidrig. Den Antragstellern seien die Ladungen zu den Anhörungsterminen nicht zugegangen. Die Termine seien daher unverschuldet nicht wahrgenommen worden. Sie hätten sich bei den zugewiesenen Unterkünften jeweils angemeldet. Sowohl die Ausländerbehörde als auch die Antragsteller selbst hätten die Adressdaten jeweils dem Bundesamt mitgeteilt.
Das Bundesamt hat die Behördenakten in elektronischer Form vorgelegt, ein Antrag wurde nicht gestellt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte des vorliegenden Verfahrens und des Klageverfahrens M 16 K 16.34233 sowie auf den Inhalt der Behördenakte verwiesen.
II.
Es ist gemäß § 88 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO davon auszugehen, dass sich der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klagen nur gegen die im angefochtenen Bescheid enthaltende Abschiebungsandrohung (Nr. 3) richtet, da entsprechende Anträge gegen die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots (Nr. 4) unzulässig wären (vgl. VG München, B. v. 10.11.2016 – M 16 S 16.33325 – juris Rn. 10 m. w. N.).
Die so verstandenen Anträge nach § 80 Abs. 5 VwGO sind zulässig.
Insbesondere fehlt den Antragstellern nicht das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis. Sie können zur Erlangung ihres Rechtsschutzziels nicht auf Anträge auf Wiederaufnahme des Verfahrens beim Bundesamt gemäß § 33 Abs. 5 Satz 2 AsylG verwiesen werden. Das dortige Wiederaufnahmeverfahren stellt kein gleich geeignetes, keine anderweitigen rechtlichen Nachteile mit sich bringendes behördliches Verfahren dar. Dies ergibt sich aus der Systematik des § 33 Abs. 5 AsylG. Denn gemäß § 33 Abs. 5 Satz 6 Nr. 2 AsylG ist abweichend von Satz 5 das Asylverfahren nicht wieder aufzunehmen und ein Antrag nach Satz 2 oder Satz 4 als Folgeantrag zu behandeln, wenn das Asylverfahren bereits nach dieser Vorschrift wieder aufgenommen worden war. Mithin versperrt § 33 Abs. 5 Satz 6 Nr. 2 AsylG ein späteres Wiederaufnahmebegehren (wohl) selbst dann, wenn die erste Verfahrenseinstellung nach § 33 Abs. 5 Satz 1 AsylG rechtswidrig gewesen ist. In einer solchen Fallgestaltung verstößt es gegen das in Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz – GG normierte Gebot des effektiven Rechtsschutzes, das Rechtsschutzbedürfnis für eine Anfechtungsklage und einen Antrag gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO zu verneinen (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss v. 20.7.2016 – 2 BvR 1385/16 – juris Rn. 8; VG Arnsberg, B. v. 30.11.2016 – 5 L 1803/16.A – juris Rn. 5 m. w. N.)
Die Anträge sind auch begründet.
Nach summarischer Prüfung ist die angegriffene Abschiebungsandrohung voraussichtlich rechtswidrig und verletzt die Antragsteller in ihren Rechten. Damit überwiegt das Interesse der Antragsteller an der aufschiebenden Wirkung ihrer Rechtsbehelfe das behördliche Vollzugsinteresse. Der Maßstab des § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG, nach dem die Aussetzung der Abschiebung nur angeordnet werden darf, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen, ist vorliegend nicht anwendbar. Ausweislich der amtlichen Überschrift gilt § 36 AsylG nur bei Unzulässigkeit nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 und 4 AsylG und bei offensichtlicher Unbegründetheit, nicht jedoch im Fall der vorliegenden Einstellung nach § 33 AsylG. § 38 Abs. 2 AsylG hingegen enthält keine § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG entsprechende Regelung (vgl. VG Minden, B.v. 26.7.2016 – 10 L 1078/16.A – juris Rn. 33-35).
Da das Bundesamt wohl zu Unrecht die Einstellung der Asylverfahren der Antragsteller wegen Nichtbetreibens nach § 33 AsylG festgestellt hat, liegen die Voraussetzungen für den Erlass einer Abschiebungsandrohung nach § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG nicht vor.
Gemäß § 33 Abs. 5 Satz 1 AsylG stellt das Bundesamt das Asylverfahren ein, wenn der Asylantrag nach § 33 Abs. 1 AsylG als zurückgenommen gilt, weil der Ausländer das Verfahren nicht betreibt. Nach § 33 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 AsylG wird vermutet, dass der Ausländer das Verfahren nicht betreibt, wenn er einer Aufforderung zur Anhörung gemäß § 25 AsylG nicht nachgekommen ist und nicht unverzüglich nachweist, dass das Versäumnis auf Umstände zurückzuführen war, auf die er keinen Einfluss hatte. Allerdings setzt das Eingreifen der Fiktion der Rücknahme des Asylantrags wegen Nichtbetreibens nach § 33 Abs. 1 AsylG wegen der damit verbundenen weitreichenden Konsequenzen voraus, dass der Ausländer gemäß § 33 Abs. 4 AsylG schriftlich und gegen Empfangsbestätigung speziell auf diese Rechtsfolgen hingewiesen wurde. Dies ist hier jedoch nicht der Fall.
Die Belehrung für Erstantragsteller über Mitwirkungspflichten, die den Antragstellern am 19. Januar 2016 ausgehändigt worden ist, erfüllt die Voraussetzungen des § 33 Abs. 4 AsylG bereits deshalb nicht, weil die genannte Vorschrift in der aktuellen Fassung erst am 17. März 2016 in Kraft getreten ist.
Im zuletzt übersandten Ladungsschreiben vom 20. September 2016 war zwar der Hinweis enthalten, dass der Asylantrag als zurückgenommen gilt, wenn die Antragsteller zur persönlichen Anhörung nicht erscheinen. Dies genügt jedoch den Anforderungen des § 33 Abs. 4 AsylG nicht, weil die Antragsteller dieses Schreiben unstreitig nicht erhalten haben und daher auch dessen Empfang nicht bestätigen konnten. Offen bleiben kann deshalb, ob der entsprechende Hinweis auch inhaltlich und sprachlich nicht den Anforderungen des § 33 Abs. 4 AsylG entspricht (vgl. VG Augsburg, B. v. 17.11.2016 – Au 3 S 16.32189 – juris m. w. N.).
Den Anträgen war daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Gerichtskosten werden nach § 83b AsylG nicht erhoben.
Die Anträge auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe waren abzulehnen, da dem Gericht keine Erklärung der Antragsteller über ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse gemäß § 117 Abs. 2 Zivilprozessordnung – ZPO vorlag.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).

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