Aktenzeichen M 21 S 17.44651
Leitsatz
Ein erfolgloser Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat iSd § 71a AsylG setzt voraus, dass das Bundesamt Kenntnis von der Entscheidung und den Entscheidungsgründen der Ablehnung des Antrags im anderen Mitgliedsstaat hat. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die in Ziffer 3 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 30. Mai 2017 enthaltene Abschiebungsandrohung wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gründe
I.
Der nicht ausgewiesene Antragsteller ist nach eigenen Angaben nigerianischer Staatsangehöriger. Er reiste im Dezember 2013 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 16. Januar 2014 bei dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen Asylantrag.
Im Rahmen seines persönlichen Gesprächs zu Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaates erklärte der Antragsteller, er habe im Dezember 2012 in Italien Asyl beantragt. Er habe eine einjährige Aufenthaltserlaubnis in Italien bekommen und sei dann aus dem Camp geworfen worden. Er habe keinerlei Unterstützung mehr bekommen. Er sei dann mit dem Zug nach Bonn gefahren. Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 13. September 2016 führte der Antragsteller ergänzend aus, er sei nicht sicher, welchen Aufenthaltsstatus er in Italien gehabt habe. Er glaube, er habe nicht arbeiten dürfen.
In der Akte des Bundesamtes findet sich ein – italienischsprachiger – Bescheid des Ministero dell’Interno vom 31. Juli 2017. Zudem enthält die Akte ein ebenfalls italienisches Dokument, bei dem es sich augenscheinlich um die Niederschrift einer Anhörung des Antragstellers handelt. Zudem findet sich dort ein Titolo die viaggio per stranieri und ein Permesso die Soggiorno, nach dem dem Antragsteller aus humanitären Gründen Schutz geboten worden ist („motivi umanitari“).
Auf ein Informationsersuchen des Bundesamtes gemäß Art. 34 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 reagierte der Mitgliedstaat Italien nicht.
Mit Bescheid des Bundesamtes vom 30. Mai 2017 wurde der Antrag als unzulässig abgelehnt. Es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen, und der Antragsteller aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe dieser Entscheidung zu verlassen. Die Abschiebung nach Nigeria wurde angedroht. Schließlich wurde das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 36 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, es handele sich bei dem erneuten Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland um einen Zweitantrag im Sinne des § 71 a AsylG, da der Antragsteller bereits in einem sicheren Drittstaat gemäß § 26 a AsylG ein Asylverfahren erfolglos betrieben habe. Wiederaufgreifensgründe habe der Antragsteller weder dargelegt noch seien sie sonst ersichtlich. Abschiebungsverbote lägen nicht vor.
Eine Zustellung des Bescheides am 1. Juni 2017 scheiterte. Auf der Postzustellungsurkunde hierzu heißt es, der Antragsteller sei unbekannt verzogen. Ausweislich eines Aktenvermerks des Bundesamtes hat sich am 3. Juli 2017 ein ehrenamtlicher Betreuer des Antragstellers dort gemeldet und mitgeteilt, dass der Antragsteller nach wie vor unter der bekannten Adresse wohnhaft sei und sein Name auch auf dem Briefkasten stehe. Am 5. Juli 2017 wurde der Bescheid daraufhin nochmals zugestellt.
Bereits am 13. Juni 2017 hat der Antragseller gegen den Bescheid zur Niederschrift Klage erhoben (M 21 K 17.44647), mit der er beantragt, den Bescheid vom 30. Mai 2017 aufzuheben und die Antragsgegnerin zu verpflichten, ihn als Asylberechtigten anzuerkennen, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, ihm den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen sowie festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
Zugleich beantragt er, hinsichtlich der Abschiebungsandrohung die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Zur Begründung führt er aus, er bezweifle, dass das Asylverfahren in Italien beendet worden sei. Daher sei sein Antrag zu Unrecht als Zweitantrag behandelt worden.
Die Antragsgegnerin hat mit Schreiben vom 31. Juli 2017 die Behördenakten vorgelegt. Eine Äußerung erfolgte weder zum Klagenoch zum Eilverfahren.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowohl in diesem als auch im Klageverfahren sowie auf die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage hat Erfolg.
Der Antrag ist zulässig, soweit damit die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die kraft Gesetzes (§ 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, § 75 i.V.m. §§ 71a Abs. 4, 36 AsylG) sofort vollziehbare Abschiebungsandrohung in Nr. 3 des streitgegenständlichen Bescheids erreicht werden soll. Die Antragstellung erfolgte auch fristgerechnet innerhalb der Wochenfrist des § 71a Abs. 4 i.V.m. § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG.
Der Antrag ist auch begründet.
Gemäß §§ 71a Abs. 4 i.V.m. 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG darf die Aussetzung der Abschiebung im Falle eines Zweitantrages, in dem ein weiteres Asylverfahren nicht durchgeführt wird, nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen. Ernstliche Zweifel in diesem Sinne liegen dann vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (vgl. BVerfG, Urt. v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – juris Rn. 99). Dies ist hier im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG) der Fall.
Nach § 71a Abs. 1 AsylG ist dann, wenn ein Ausländer nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat (§ 26a AsylG), für den Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft über die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren gelten oder mit dem die Bundesrepublik Deutschland darüber einen völkerrechtlichen Vertrag geschlossen hat, im Bundesgebiet einen Asylantrag (Zweitantrag) stellt, ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist und die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes vorliegen. Andernfalls ist der Antrag als unzulässig zurückzuweisen, § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG.
§ 71a AsylG setzt damit den erfolglosen Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat voraus (vgl. BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4.16 – juris Rn. 22ff; BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50069 – juris Rn. 24ff). Hierbei muss – entgegen der im streitgegenständlichen Bescheid ersichtlichen Auffassung der Antragsgegnerin – der vorangegangene negative Ausgang eines Asylverfahrens in einem Mitgliedstaat durch rechtskräftige Sachentscheidung festgestellt werden und feststehen; bloße Mutmaßungen genügen nicht (Bruns in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 71a AsylG, Rn. 3 und 9 m.w.N.). Dies bedeutet, dass das Bundesamt zu der gesicherten Erkenntnis gelangen muss, dass das Asylerstverfahren mit einer für den Asylbewerber negativen Sachentscheidung abgeschlossen wurde, um sich in der Folge auf die Prüfung von Wiederaufnahmegründen beschränken zu dürfen. Eine solche Prüfung beinhaltet unter anderem, dass das Bundesamt Kenntnis von der Entscheidung und den Entscheidungsgründen der Ablehnung des Antrags im anderen Mitgliedsstaat hat (vgl. VG München, B. v. 30.1.2017 – M 23 S. 16.34550 – juris; B.v. 27.12.2016 – M 23 S. 16.33585 – juris; VG Schleswig-Holstein, B.v. 7.9.2016 – 1 B 54/16 – juris Rn. 7 ff; VG Schwerin, U.v. 8.7.2016 – 15 A 190/15 – juris Rn. 18; VG Wiesbaden, B.v. 20.6.2016 – 5 L 511/16.WI.A – juris Rn. 20, BeckOK AuslR/Schönenbroicher, AsylG, § 71a Rn. 1f).
Zwar finden sich vorliegend in der Behördenakte sowohl die Anhörung als auch der ablehnende Bescheid des Mitgliedstaats Italien. Allerdings ist dieser ausschließlich in italienischer Sprache abgefasst. Ob der die ablehnende Entscheidung des Bundesamtes verantwortende Mitarbeiter des Bundesamtes – anders als das erkennende Gericht – der italienischen Sprache derart mächtig gewesen ist, dass eine Prüfung des Vorliegens einer negativen Sachentscheidung gesichert festgestellt werden konnte, lässt sich der Akte nicht entnehmen. Ausweislich eines Vermerks vom 26. April 2017 sollte die Entscheidung im Verfahren nach § 71 AsylG jedoch aufgrund des vorgelegten permesso di soggiorno erfolgen, so dass das Gericht davon ausgeht, dass der italienische Bescheid insoweit keine Rolle gespielt haben dürfte.
Weitere Erkenntnisse des Bundesamtes lagen nicht vor bzw. sind zumindest in der vorgelegten Behördenakte nicht dokumentiert. Hinzu kommt, dass der Antragsteller selbst noch bei seiner Anhörung vorgetragen hat, seinem Antrag auf internationalen Schutz sei in Italien stattgegeben worden. Die Antragsgegnerin ist damit im Ergebnis ihrer Amtsermittlungspflicht nicht nachgekommen. Es bleibt offen, ob in Italien ein Asylverfahren mit inhaltlicher Prüfung und abschließender Sachentscheidung (vgl. BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50069 – juris) durchgeführt wurde und ob gegebenenfalls die Möglichkeit der Wiederaufnahme insbesondere hinsichtlich möglicher neuer Beweismittel besteht. Die fehlende Aufklärung geht zu Lasten der Antragsgegnerin (vgl. BayVGH, U.v. 13.10.2016 – 20 B 14.30212 – juris Rn. 41).
Hieran vermag auch die vorgelegte permesso di soggiorno nichts zu ändern. Zwar ist der Antragsgegnerin zuzugeben, dass eine solche Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen keine Gewährung internationalen Schutzes darstellt, sondern allein auf (nationalem) italienischem Recht beruht und in der Regel gerade dann erteilt wird, wenn die italienischen Behörden davon ausgehen, dass die Voraussetzungen für die Gewährung internationalen Schutzes nicht erfüllt werden (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Leitfaden Italien, Aktualisierte Fassung Oktober 2014, S. 22, abrufbar unter http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Downloads/Infothek/Asyl/leitfaden-italien.pdf? blob=publicationFile).
Allerdings sagt dies noch nichts darüber, ob die Ablehnung des Asylverfahrens in Italien rechtskräftig geworden ist, ob in Italien ein Asylverfahren auch mit inhaltlicher Prüfung (vgl. BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50069 – juris) durchgeführt wurde und ob gegebenenfalls die Möglichkeit der Wiederaufnahme insbesondere hinsichtlich möglicher neuer Beweismittel besteht. Insoweit wird die Antragsgegnerin nicht umhin kommen, im Wege ihrer Amtsermittlungspflicht zu versuchen, unmittelbar Auskunft von den italienischen Behörden sowie einen – jedenfalls in seinen wesentlichen Elementen übersetzten – Abdruck des ablehnenden Bescheides zu erhalten. Allein die Mutmaßung, die Gewährung humanitären Schutzes belege bereits die rechtskräftige Ablehnung eines Asylantrags aufgrund inhaltlicher Prüfung ist nicht ausreichend.
Ein erfolgloser Abschluss des Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat ist somit nicht nachgewiesen, so dass ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des streitgegenständlichen Bescheids bestehen.
Dem Antrag ist daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).