Verwaltungsrecht

Aussetzung der Abschiebung zur weiteren Sachaufklärung zum aktuellen Gesundheitszustand

Aktenzeichen  M 10 S 16.2192

Datum:
6.2.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1, § 25 Abs. 3, Abs. 4, § 36 Abs. 2 S. 1, § 60a Abs. 2 S. 1, Abs. 2 c S. 3, § 81 Abs. 3

 

Leitsatz

Der verfassungsrechtliche Schutz von Gesundheit und Leben erfordert auch bei fehlender Mitwirkung des Antragstellers, dass der Antragsteller nicht durch eine Abschiebung in erhebliche Lebens- und Gesundheitsgefahr gebracht werden darf. Wenn konkrete Anhaltspunkte für eine Gesundheitsgefahr bestehen, müssen Gericht und Behörde ihrer grundsätzlichen Aufklärungspflicht nachgehen. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antragsgegnerin wird untersagt, Abschiebemaßnahmen bis zur Entscheidung in der Hauptsache (M 10 K 16.2188) vorzunehmen.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert beträgt 2.500 EUR.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt, die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen die Ablehnung seines Antrags auf Aufenthaltserlaubnis anzuordnen bzw. hilfsweise vorläufig von Abschiebemaßnahmen abzusehen.
Der Antragsteller ist ukrainischer Staatsangehöriger. Er reiste am 4. September 2015 mit einem bis 2017 gültigen Multi-Schengen-Visum ins Bundesgebiet ein und beantragte am 30. November 2015 eine Aufenthaltserlaubnis bei der Antragsgegnerin. Er hat ein Attest eines Allgemeinmediziners vom 3. November 2015 (Im Folgenden: erstes Attest) beigelegt, nach dem er aus gesundheitlichen Gründen nicht reisefähig sei. Er könne keinesfalls alleine die Rückreise in die Ukraine bewältigen. Hintergrund sind Einschränkungen der Mobilität infolge einer Kopfverletzung von 1996 sowie Probleme mit dem Blutdruck und Blutzucker. Das Attest gibt keine eigenen Untersuchungsergebnisse oder Diagnosen wider. Auf die näheren Ausführungen des Attests wird Bezug genommen. Im Laufe des Verfahrens legte der Antragsteller der Antragsgegnerin zudem ein Ärztliches Attest des Zentralen Kreiskrankenhauses des … … vom 4. Dezember 2015 (im Folgenden: zweites Attest) vor. Demnach befinde sich der Antragsteller dort in der Gesundheitsberatung und Behandlung mit der Diagnose Multiple Sklerose, essentielle Hypertonie sowie Diabetes Mellitus Typ II. Der Antragsteller benötige eine dauerhafte ambulante und stationäre Behandlung und Betreuung im Alltag. Des Weiteren wurde der Antragsgegnerin eine Beurteilung des Städtischen Krankenhauses … vom 12. September 2008 (im Folgenden: drittes Attest) vorgelegt über eine konkrete Untersuchung des Gehirns sowie ein Attest eines Facharztes für Neurologie und Psychiatrie vom 23. Februar 2016 (im Folgenden: viertes Attest), welches einen neurologischen Befund widergibt. Zudem legte der Antragsteller der Antragsgegnerin ein Attest vom 8. März 2016 (im Folgenden: fünftes Attest) eines Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie vor. Darin wird unter anderem ausgeführt, der Antragsteller sei überhaupt nicht reisefähig, weder allein noch in Begleitung. Er habe keinen Lebenswillen ohne seine Angehörigen und habe Suizidgedanken geäußert für den Fall, dass er ohne seine Tochter sein Leben meistern müsse. Der Arzt rät daher dringend an, ein Bleiberecht bei der Tochter des Antragstellers zu ermöglichen.
In der Ukraine lebte der Antragsteller nach eigenen Angaben zuletzt allein, in Deutschland lebt er bei seiner Tochter, welche alleinerziehend zwei Töchter großzieht. Der Vater der Kinder lebt wohl im Ausland. Der Antragsteller bezieht in der Ukraine eine Rente in Höhe von umgerechnet etwa 58 EUR monatlich.
Die Antragsgegnerin lehnte mit Bescheid vom 18. April 2016 den Antrag auf Aufenthaltserlaubnis des Antragstellers ab (Ziff. 1 des Bescheids). Sie forderte den Antragsteller auf, das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Bescheids zu verlassen (Ziff. 2 des Bescheids). Für den Fall der Nichtausreise drohte sie dem Antragsteller die Abschiebung in die Ukraine oder ein anderes aufnahmebereites Land an (Ziff. 3 des Bescheids). Die Ablehnung stütze sich auf § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, welcher die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte vorsehe. Eine außergewöhnliche Härte liege nicht vor. Die vorgelegten Atteste genügten nicht den Anforderungen des § 60 a Abs. 2c Satz 3 AufenthG und hätten nicht dargetan, dass der Antragsteller nur in Deutschland und nur von seiner Tochter betreut werden könne sowie dass sich die Gesundheit des Antragstellers seit seiner Einreise im September 2015 in außergewöhnlichem Maß verschlechtert habe. Auch in der Ukraine sei der Antragsteller medizinisch behandelt worden. In der letzten Zeit in Deutschland sei aber keine stationäre Behandlung erfolgt, was bestätige, dass sich der Gesundheitszustand des Antragstellers nicht so dramatisch verschlechtert habe. Auch könne der Antragsteller wohl teilweise sein Leben allein verbringen, da seine Tochter berufstätig und alleinerziehend sei und sich daher wohl auch nicht den gesamten Tag um ihn kümmern könne. Die Antragsgegnerin gehe davon aus, dass auch in der Ukraine eine angemessene Versorgung möglich sei. Zudem fehlten die Voraussetzungen des § 5 Abs. 2 Nr. 1 und Abs. 2 AufenthG, da der Lebensunterhalt nicht gesichert sei und der Antragsteller nicht mit dem erforderlichen Visum zum Familiennachzug eingereist sei. Zudem stehe die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis im Ermessen und die Ermessenentscheidung würde gegen den Antragsteller getroffen. Denn dieser sei mit einem Schengen-Visum nach Deutschland eingereist, um bei seiner Tochter zu leben. Hierfür hätte er ein nationales Visum zum Familiennachzug beantragen müssen. Die Einhaltung der Visumspflicht sei ein wichtiges Instrument, um Zuwanderung zu steuern. § 39 AufenthV sei nicht erfüllt. Auf die ausführliche Begründung des Bescheids wird im Übrigen Bezug genommen.
Der Kläger erhob über seinen Bevollmächtigten am 12. Mai 2016 Klage gegen den Bescheid und beantragte außerdem, die Antragsgegnerin zur Erteilung der Aufenthaltserlaubnis zu verpflichten. Außerdem wurde beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Der Antragsteller sei laut Attest nicht reisefähig. Die Antragstellerin habe bei der Beurteilung der Atteste fälschlicherweise nicht gewertet, dass der Antragsteller nicht für sich selbst sorgen könne. Dies sei in der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zu § 36 AufenthG exemplarisch erwähnt. Eine weitere Antragsbegründung erfolgte auch nach Aufforderung durch das Gericht nicht.
Die Antragsgegnerin hat sich nicht geäußert.
Am 12. Mai 2016 beantragte der Bevollmächtigte des Antragstellers bei der Antragsgegnerin die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 AufenthG. Im Verlauf des Verfahrens wurde der Antragsgegnerin erneut ein Attest von Dr. M., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, vom 23. August 2016 (sechstes Attest) vorgelegt, wonach sich der psychische Zustand des Antragstellers trotz Behandlung verschlechtert habe. Die psychische Behinderung äußere sich in der zunehmenden Unfähigkeit, für sich selbst zu sorgen. Der Antragsteller sei nicht reisefähig, weder alleine noch in Begleitung. Er könne nicht für sich alleine sorgen und seinen Alltag alleine bewältigen. Eine Vormundschaft der Tochter für Gesundheitsvorsorge, Post- und finanzielle Angelegenheiten werde ausdrücklich angeraten.
Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf die Gerichts- und die Behördenakte verwiesen.
II.
Der gestellte Antrags ist auch im Falle eines – wie hier – anwaltlich vertretenen Antragstellers (siehe dazu BVerfG, B.v. 23.10.2007 – 2 BvR 542/07 – juris Rn. 17) unter Berücksichtigung der Begründung nach dem erkennbaren Rechtschutzziel auszulegen (vgl. §§ 122 Abs. 1, 88 VwGO). Ziel des Antragstellers ist, die suspendierende Wirkung seiner Klage nach § 80 Abs. 5 VwGO herbeizuführen, um die aus dem Bescheid vom 18. April 2016 folgende Ausreisepflicht vorübergehend zu verhindern. Zudem bringt der Antragsteller vor, er sei reiseunfähig. Sein Rechtsschutzbegehren ist demnach so auszulegen, dass er hilfsweise eine Duldung nach § 60 a AufenthG begehrt, welche prozessual durch den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO geltend zu machen ist.
1. Der zulässige Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gem. § 80 Abs. 5 VwGO hat in der Sache keinen Erfolg.
a. Der Antrag ist zulässig. Insbesondere besteht bezüglich der Nr. 1 des Bescheids, mit der die Antragsgegnerin den Antrag auf Aufenthaltserlaubnis ablehnte, ein Rechtsschutzinteresse des Antragstellers, da allein der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht verhindern kann. Denn die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht richtet sich gemäß § 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG nach der Vollziehbarkeit der Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis. Ein stattgebender Beschluss des Gerichts ließe mithin die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht entfallen (vgl. Bauer in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, § 58 Rn. 15). Der Antragsteller ist auch nicht ohnehin und unabhängig von der Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis ausreisepflichtig, denn sein Antrag auf Erhalt einer Aufenthaltserlaubnis erfolgte während der Gültigkeit seines Visums. Damit gilt sein Aufenthalt bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde als erlaubt, § 81 Abs. 3 AufenthG.
b. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist jedoch unbegründet.
Im Rahmen der Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO hat das Gericht eine eigene Interessenabwägung anzustellen (vgl. Schmidt in Eyermann, VwGO, 13. Aufl. 2010, § 80 Rn. 68). Dabei sind insbesondere die Erfolgsaussichten der Klage einzubeziehen. Wird die Klage voraussichtlich erfolglos bleiben, so überwiegt regelmäßig das öffentliche Interesse am Sofortvollzug das private Interesse des Antragstellers, da kein schutzwürdiges Interesse daran besteht, von dem Vollzug eines rechtmäßigen Verwaltungsaktes verschont zu bleiben. Nur wenn die Vollziehung einen erheblichen, nicht mehr rückgängig zu machenden Eingriff darstellt, mithin vollendete Tatsachen schafft, könnte auch in diesem Fall das private Interesse des Antragstellers überwiegen (vgl. Schmidt in Eyermann, a.a.O. Rn. 76).
Im vorliegenden Fall ist unter Zugrundelegung der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung davon auszugehen, dass die Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis vom 18. April 2016 rechtmäßig ist und den Antragsteller nicht in seinen Rechten verletzt.
aa. Denn der Antragsteller hat keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis und die Ablehnung erfolgte auch nicht ermessensfehlerhaft.
(1) Der Kläger hat keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 4 AufenthG. Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach dieser Vorschrift kommt nur für einen vorübergehenden Aufenthalt in Betracht. Der vom Kläger angestrebte Aufenthalt zur Pflege durch die Tochter ist aber kein vorübergehender Aufenthalt, sondern ein Aufenthalt von unbestimmter Dauer, da nicht absehbar ist, wie lange der Kläger gepflegt werden soll.
(2) Als Anspruchsgrundlagen für die vom Antragsteller begehrte Aufenthaltserlaubnis kommt des Weiteren § 36 Abs. 2 AufenthG (Nachzug der Eltern und sonstiger Familienangehöriger) in Betracht. Danach kann sonstigen Familienangehörigen eines Ausländers zum Familiennachzug eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn es zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist. Im Hinblick auf den Zweck der Nachzugsvorschriften, die Einheit der familiären Lebensgemeinschaft zu schützen, müssen nach Art und Schwere so ungewöhnlich große Schwierigkeiten für den Erhalt der Gemeinschaft zu befürchten sein, dass die Versagung der Aufenthaltserlaubnis als schlechthin unvertretbar anzusehen ist. Eine außergewöhnliche Härte ist dann zu bejahen, wenn der im Ausland lebende Familienangehörige allein ein eigenständiges Leben nicht führen kann, sondern auf die Gewährung von familiärer Lebenshilfe angewiesen ist und diese Hilfe zumutbar nur im Bundesgebiet erbracht werden kann (BVerwG, U.v. 18.4.2013 – 10 C 10/12 – juris; VG München, U.v. 21.3.2011 – M 10 K 10.1433 – juris m.w.N.).
Unabhängig davon, ob die Atteste das Vorliegen dieser Tatbestandsvoraussetzungen belegen, liegt jedoch die allgemeine Erteilungsvoraussetzung eines gesicherten Unterhalts nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG nicht vor. Dieses Erfordernis gilt auch für die Aufenthaltserlaubnis nach § 36 Abs. 2 AufenthG (Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: September 2015, § 5 AufenthG Rn. 9). Der Kläger hat eine monatliche Rente von umgerechnet etwa 58 EUR. Seine Tochter hat keine Verpflichtungserklärung abgegeben und nach summarischer Prüfung bestehen auch Zweifel, ob sie als alleinerziehende Mutter in der Lage wäre, für ihre Kinder, sich und ihren Vater den Lebensunterhalt zu bestreiten.
(3) Auch einen Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG hat der Antragsteller nach summarischer Prüfung nicht. Zwar leidet der Antragsteller unstreitig an schwerwiegenden Krankheiten, jedoch ist nicht ersichtlich, dass diese sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Nach § 60 Abs. 7 Satz 3 und 4 AufenthG ist der Ausländer grundsätzlich auf eine in seinem Heimatland bestehende Gesundheitsversorgung angewiesen. Zwar ist es für den Antragsteller eine Unterstützung, von seiner Tochter gepflegt zu werden, doch ist nicht ersichtlich, dass eine Pflege und Behandlung seiner Krankheit nicht auch in der Ukraine stattfinden kann. Eine mögliche Suizidgefahr führt nicht zum Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG, da es sich nicht um ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis handelt, also etwa eine im Heimatland nicht anerkannte Erkrankung (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Kommentar zum Ausländerrecht, Stand April 2016, § 60 AufenthG Rn. 91); eine etwaige Suizidgefahr besteht nach Angaben des fünften Attests vielmehr gerade wegen der Abschiebung.
2. Der hilfsweise gestellte Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gem. § 123 VwGO ist zulässig und begründet.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (sog. Sicherungsanordnung) oder auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes, wenn dies nötig erscheint, um wesentliche Nachteile für den Antragsteller abzuwenden (sog. Regelungsanordnung). Wesentliche Nachteile sind u.a. wesentliche rechtliche, wirtschaftliche oder ideelle Nachteile, die der Antragsteller in Kauf nehmen müsste, wenn er das Recht im langwierigen Hauptsacheprozess erstreiten müsste (vgl. Eyermann, VwGO, 14. Auflage 2014, § 123, Rn. 23). Nach § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2, § 294 Abs. 1 ZPO sind sowohl ein Anordnungsanspruch, d.h. der materielle Grund, für den der Antragsteller vorläufig Rechtsschutz sucht, als auch ein Anordnungsgrund, der insbesondere durch die Eilbedürftigkeit der Regelung begründet wird, glaubhaft zu machen. Maßgeblich sind die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.
Eine einstweilige Anordnung ist nicht nur zu erlassen, wenn mit zweifelsfreier Sicherheit feststeht, dass das materielle Recht besteht, dessen Sicherung der Antragsteller im Fall des § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO erstrebt oder dessen Regelung er im Sinn von § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO erreichen will. Es genügt vielmehr, dass das Bestehen dieses Rechts überwiegend wahrscheinlich ist, so dass der Rechtsschutzsuchende in der Hauptsache voraussichtlich obsiegen würde (vgl. BayVGH, B.v. 16.8.2010 – 11 CE 10.262 – juris Rn. 20 m.w.N.). Grundsätzlich darf das Eilverfahren die Hauptsache nicht vorwegnehmen.
Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall erfüllt. Anspruchsgrundlage ist § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG, wonach die Abschiebung im Falle rechtlicher oder tatsächlicher Unmöglichkeit auszusetzen ist. Im vorliegenden Fall ergibt sich aus der verfassungsrechtlichen Schutzpflicht für Leben und Gesundheit nach summarischer Prüfung ein rechtliches Hindernis, das den Vollzug der Abschiebung ausschließt. Zwar ist der Antragsteller seinen Mitwirkungspflichten nicht nachgekommen (dazu unter a.), doch liegen anderweitige Anhaltspunkte für ein Abschiebungshindernis vor (dazu unter b.).
a. Nach § 60a Abs. 2c AufenthG wird vermutet, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen. Der Ausländer muss eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen. Diese ärztliche Bescheinigung soll insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten. Nach § 60a Abs. 2d AufenthG ist der Ausländer verpflichtet, der zuständigen Behörde die ärztliche Bescheinigung unverzüglich vorzulegen. Verletzt der Ausländer die Pflicht zur unverzüglichen Vorlage einer solchen ärztlichen Bescheinigung, darf die zuständige Behörde das Vorbringen zur Erkrankung nur berücksichtigen, wenn der Ausländer unverschuldet keinen Nachweis einholen konnte oder anderweitig tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen, dass der Ausländer eine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankung hat, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde.
Zwar hat der Antragsteller der Antragsgegnerin nicht unverzüglich ein Attest vorgelegt, das den Anforderungen des § 60a Abs. 2 c Satz 3 AufenthG entspricht. Denn das erste Attest gibt nur wieder, was über den Antragsteller berichtet wurde, ohne die Methode der Tatsachenerhebung und eine fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes oder die Folge zu erläutern. Eine eigene Untersuchung durch den Arzt wird darin nicht beschrieben. Die Reiseunfähigkeit wird ohne Begründung oder Erläuterung festgestellt, zumal sie sich nur auf eine unbegleitete Reise bezieht. Ebenso ist das zweite Attest nur eine Beschreibung und legt nicht die Untersuchung dar. Das dritte Attest gibt keine Auskunft über den aktuellen Gesundheitszustand des Antragstellers und ist daher nicht relevant. Das vierte Attest entbehrt der Diagnose und legt die Folgen der Erkrankung nicht dar. Im fünften und sechsten Attest stellte der Arzt nicht dar, wie er den Antragsteller klinisch untersuchte und zu welchen Schlussfolgerungen er dadurch gelangte.
b. Der verfassungsrechtliche Schutz von Gesundheit und Leben erfordert aber auch bei fehlender Mitwirkung, dass der Antragsteller nicht durch eine Abschiebung in erhebliche Lebens- oder Gesundheitsgefahr gebracht werden darf. Wenn konkrete Anhaltspunkte für eine Gesundheitsgefahr bestehen, müssen Gericht und Behörde ihrer grundsätzlichen Aufklärungspflicht nachgehen (vgl. ausführlich VGH B-W, U.v. 6.2.2008 – 11 S 3439/07 – juris). Solche konkreten Anhaltspunkte ergeben sich aus dem fünften Attest, wonach der Antragsteller suizidgefährdet sein könnte. Nach Angaben des Psychiaters hat der Antragsteller ihm selbst gegenüber mitgeteilt, er habe keinen Lebenswillen, wenn ohne seine Angehörigen in der Ukraine leben müsse. Grundsätzlich reicht die Drohung mit Selbsttötung nicht, um von einer Abschiebung abzusehen (Hailbronner, a.a.O. § 60a Rn. 63 m.w.N.), zumal Suizidgefahr mit absoluter Sicherheit nahezu nie ausgeschlossen werden kann. Im vorliegenden Einzelfall besteht jedoch anhand der zusammengenommenen vielfachen (fach)ärztlichen Einschätzungen und der unstreitig bestehenden schwerwiegenden neurologischen und psychischen Erkrankungen des Antragstellers eine weitere Aufklärungspflicht des Gerichts. Der Antragsteller ist nach fachärztlicher Einschätzung psychisch behindert. Nach der Eigenart der Erkrankung des Antragstellers ist eine Verschlechterung seines Zustands mit fortschreitender Zeit wahrscheinlich, so dass nach dem Amtsermittlungsgrundsatz weitere Sachaufklärung zum aktuellen Gesundheitszustand erforderlich sind. Behörden und Gerichte haben die Pflicht, eine so weit wie möglich abgesicherte Einschätzung über eine behauptete Suizidgefahr zu gewinnen (Hailbronner a.a.O.). Bei einer – wie hier durch ein psychiatrisches Attest – substantiiert vorgetragenen Suizidgefahr ist im Regelfall schon vor Beginn einer Abschiebung ein ärztliches Gutachten einzuholen (vgl. ausführlich VGH B-W, U.v. 6.2.2008 – 11 S 3439/07 – juris). Bis zu deren Vorlage ist im Eilrechtsschutzverfahren von der rechtlichen Unmöglichkeit der Abschiebung und damit von einem Anordnungsanspruch nach § 60 a Abs. 2 AufenthG auszugehen.
3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1 GKG i.V.m. dem Streitwertkatalog.

Jetzt teilen:

Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen