Verwaltungsrecht

Abschiebungsverbot für Afghanistan bei geistiger Behinderung

Aktenzeichen  Au 5 K 16.32627

Datum:
16.1.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG Abs. 7 S. 1
EMRK EMRK Art. 3

 

Leitsatz

Einem alleinstehenden Minderjährigen, dessen Handlungsfähigkeit sich nach fachärztlicher Beurteilung deutlich im Bereich einer geistigen Behinderung bewegt, droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine erhebliche und konkrete Gefahr für Leib oder Leben. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Das Verfahren wird eingestellt, soweit die Verpflichtung der Beklagten zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 Abs. 1 Asylgesetz – AsylG) sowie zur Zuerkennung von subsidiären Schutz (§ 4 Abs. 1 AsylG) beantragt war.
II.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 13. September 2016 wird in den Nrn. 4 bis 6 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegen.
III.
Die Kosten des Verfahrens tragen der Kläger und die Beklagte je zur Hälfte.
IV.
Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Der Einzelrichter (§ 76 Abs. 1 AsylG) konnte über die Klage des Klägers ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten übereinstimmend auf die Durchführung einer solchen verzichtet haben (§ 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
Die Klage hat Erfolg, soweit sie im klägerischen Schriftsatz vom 12. Januar 2017 aufrechterhalten wurde.
1. Das Verfahren ist einzustellen, soweit die Klage ursprünglich einen weitergehenden Streitgegenstand hatte. Mit der Beschränkung des Klageantrags auf die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 bzw. 7 Satz 1 AufenthG sind gleichzeitig die weitergehenden Verpflichtungsanträge des Klägers hinsichtlich der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. subsidiären Schutzes zurückgenommen worden. Die Verfahrenseinstellung und Kostenentscheidung muss insoweit nicht gesondert durch Beschluss erfolgen. Vielmehr kann darüber gemeinsam im Urteil über den anhängig gebliebenen Streitgegenstand entschieden werden (vgl. BVerwG, U. v. 6.2.1963 – 5 C 24/61 – NJW 1963, 923).
2. Soweit die Klage aufrechterhalten wurde, ist sie zulässig und begründet. Soweit der Bescheid des Bundesamtes vom 13. September 2016 ein Abschiebungsverbot bezüglich des Klägers verneint, ist er rechtswidrig und verletzt den Kläger insoweit in seinen Rechten. Der Kläger hat einen Anspruch auf Feststellung, dass ein Abschiebungsverbot hinsichtlich Afghanistan besteht (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der insoweit entgegenstehende Bescheid des Bundesamtes war daher in dessen Ziffern 4 bis 6 aufzuheben. Maßgeblich für das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes hinsichtlich Afghanistan ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung im schriftlichen Verfahren (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG).
Dem Kläger steht ein Anspruch auf die Feststellung zu, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegt.
Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen eine erhebliche Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Dem Kläger droht im Falle einer Abschiebung in sein Herkunftsland eine individuelle, konkrete Gefahr in diesem Sinne.
a) Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. U. v. 17.10.2006 – 1 C 18/05 – NVwZ 2007, 712) ist die Gefahr, dass sich eine Erkrankung des Ausländers aufgrund der Verhältnisse im Abschiebezielstaat verschlimmert, in der Regel als individuelle Gefahr einzustufen, die am Maßstab von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in direkter Anwendung zu prüfen ist. Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen vor, wenn sich die vorhandene Erkrankung des Ausländers aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmert, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben führt, d. h. dass eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach der Rückkehr des Ausländers droht. Ein strengerer Maßstab soll in Krankheitsfällen ausnahmsweise nur dann gelten, wenn zielstaatsbezogene Verschlimmerungen von Krankheiten als allgemeine Gefahr oder Gruppengefahr im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG zu qualifizieren sind. Dies kommt allerdings bei Erkrankungen nur in Betracht, wenn es sich um eine große Anzahl Betroffener im Zielstaat handelt und deshalb ein Bedürfnis für eine ausländerpolitische Leitentscheidung nach § 60 a Abs. 1 AufenthG besteht. Dies ist hier nicht der Fall.
Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis kann sich darüber hinaus trotz an sich verfügbarer medikamentöser und ärztlicher Behandlung aber auch aus sonstigen Umständen im Zielstaat ergeben, die dazu führen, dass der betroffene Ausländer diese medizinische Versorgung tatsächlich nicht erlangen kann. Denn eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist. In die Beurteilung mit einzubeziehen und bei der Gefahrenprognose zu berücksichtigen sind sämtliche zielstaatsbezogenen Umstände, die zu einer Verschlimmerung der Erkrankung führen können (vgl. BVerwG, U. v. 17.10.2006, a. a. O.). Für die Annahme einer „konkreten Gefahr“ genügt nicht die bloße theoretische Möglichkeit, Opfer von Eingriffen in Leib, Leben oder Freiheit zu werden. Vielmehr entspricht der Begriff der Gefahr im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG dem asylrechtlichen Prognosemaßstab der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“, wobei allerdings das Element der Konkretheit der Gefahr für „diesen“ Ausländer das zusätzliche Erfordernis einer einzelfallbezogenen, individuell bestimmten und erheblichen Gefährdungssituation statuiert (vgl. BVerwG, U. v. 17.10.1995 – 9 C 9/95 – BVerwGE 99, 324 ff.).
Dies zugrunde gelegt besteht für den Kläger eine extreme allgemeine Gefahrenlage aufgrund der bei ihm vorliegenden Erkrankung, die eine Rückkehr nach Afghanistan zum derzeitigen Zeitpunkt ausschließt. Nach der fachärztlichen Stellungnahme der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, … (…) vom 28. September 2015 (Gerichtsakte Bl. 30 und 31) besteht beim Kläger der hinreichende Verdacht auf eine Autismusspektrumstörung und eine Sozialverhaltensstörung vor allem im familiären Rahmen. Die Handlungsfähigkeit des Klägers bewegt sich nach fachärztlicher Beurteilung deutlich im Bereich einer geistigen Behinderung. Aus fachärztlicher Sicht wird für den Kläger derzeit die voll- bzw. teilstationäre Unterbringung in einer Einrichtung für mehrfach behinderte Menschen für medizinisch geboten erachtet. Weiter kommt die gutachterliche Stellungnahme zum Ergebnis, dass es ausdrücklicher Wunsch des Klägers sei, nicht mehr bei seiner Familie leben zu wollen. Unter diesen fachärztlicherseits getroffenen Feststellungen erscheint eine Rückkehr des Klägers nach Afghanistan ausgeschlossen. Dies insbesondere auch vor dem Hintergrund, dass der Kläger eine Rückkehr in den Familienverband ablehnt. Für ein eigenständiges Leben in Afghanistan bringt der Kläger keinerlei Voraussetzungen mit. Dies aufgrund der bei ihm vorliegenden Erkrankung und seiner Minderjährigkeit. Diese Umstände gebieten es, bezüglich des Klägers ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen.
Die im gerichtlichen Verfahren vorgelegte fachärztliche Stellungnahme genügt auch den von der Rechtsprechung aufgestellten Kriterien im Hinblick auf die Qualifikation des Ausstellenden, auf Befunderhebung und auf die Diagnosestellung durch den ausstellenden Facharzt (vgl. hierzu BayVGH, U. v. 23.11.2012 – 13a B 12.30061 – juris Rn. 22; VG Ansbach, U. v. 24.3.2015 – AN 3 K 14.30132 – juris Rn. 76).
Nach allem war die Beklagte daher zu verpflichten, beim Kläger das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen; der mit der Klage angefochtene Bescheid ist in den Nrn. 4 bis 6, welche dieser Verpflichtung entgegenstehen, antragsgemäß aufzuheben.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 i. V. m. § 155 Abs. 2 VwGO. Unter Berücksichtigung des streitgegenständlichen Bescheids im Klageverfahren, der mit diesem Urteil zum Teil aufgehoben wird, ist eine Kostenverteilung wie vorgenommen, geboten. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung (ZPO).

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