Aktenzeichen 3 Ni 4/16 (EP)
Tenor
In der Patentnichtigkeitssache
…
betreffend das europäische Patent 2 022 374
(DE 60 2008 018 146)
hat der 3. Senat (Nichtigkeitssenat) des Bundespatentgerichts auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 20. Juni 2017 durch den Vorsitzenden Richter Schramm sowie den Richter Kätker, die Richterin Dipl.-Phys. Zimmerer und die Richter Dipl.-Chem. Dr. Wismeth und Dipl.-Chem. Dr. Freudenreich
für Recht erkannt:
I. Das europäische Patent 2 022 374 wird mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland für nichtig erklärt.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
III. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
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Die Beklagte ist eingetragene Inhaberin des am 14. Mai 2008 beim Europäischen Patentamt in englischer Sprache angemeldeten und mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland erteilten Patents 2 022 374 (Streitpatent), das die Unionspriorität der US 952245 P vom 27. Juli 2007 in Anspruch nimmt und vom Deutschen Patent- und Markenamt unter der Nummer 60 2008 018 146 geführt wird. Das Streitpatent, das in vollem Umfang und hilfsweise beschränkt mit 6 Hilfsanträgen verteidigt wird, trägt die Bezeichnung „Playard with bassinet” (Laufstall mit Wiege) und umfasst 7 Patentansprüche, deren einziger unabhängiger Patentanspruch 1 wie folgt lautet:
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In deutscher Übersetzung lautet er:
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Wegen des Wortlauts der unmittelbar oder mittelbar auf den Patentanspruch 1 rückbezogenen Patentansprüche wird auf die Patentschrift EP 2 022 374 B1 verwiesen.
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Die Klägerin, die das Streitpatent in vollem Umfang angreift, macht den Nichtigkeitsgrund der mangelnden Patentfähigkeit geltend. Sie stützt ihr Vorbringen auf folgende Dokumente:
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(D1) DE 195 44 615 A1
6
(D2) DE 196 17 363 C1
7
(D3) DE 697 09 177 T2
8
(D4) DE 667 712 A
9
(D5) US 5 339 470 A
10
(D6) US 7 013 505 B2
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Nach Auffassung der Klägerin ist der Gegenstand des Patentanspruchs 1 des Streitpatents nicht neu gegenüber den Druckschriften D1 und D2. Hierbei offenbare insbesondere die D1 sämtliche Merkmale des erteilten Patentanspruchs einschließlich eines Einhangs i. S. d. Streitpatents, bei dem jedes Seitenteil mit einem oberen Ende an dem Rahmenkörper verbunden sei. Dies geschehe durch die innere Rahmenanordnung 50, die entgegen der Darstellung der Beklagten nicht als starres sondern als zusammen mit der äußeren Rahmenanordnung oder auch einzeln zusammenklappbares, separates Bauteil ausgeführt sei.
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Sollte der Senat die Druckschrift D2 wegen der ausdrücklichen Bezugnahme auf die D1 nicht bereits als neuheitsschädlich ansehen, so sei der Gegenstand des Patentanspruchs 1 jedenfalls durch eine Kombination der Druckschriften D2 mit D1 nahegelegt.
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Er sei zudem durch eine Kombination der Druckschrift D3 mit dem Fachwissen oder mit einer der Druckschriften D1 oder D6 nahegelegt. Im Gegensatz zur Auffassung der Beklagten offenbare die D3 einen als ganzes zusammenfaltbaren Laufstall. Die in der D3 nicht offenbarte Abdeckung der Öffnung im Bodenteil sei eine rein fachmännische Ausgestaltung und werde im Übrigen in der D1 und auch in der D6 offenbart. Weiter sei der Gegenstand des Patentanspruchs 1 jeweils auch durch Kombinationen einer der Druckschriften D1 oder D2 mit der D6 nahegelegt. Er ergebe sich naheliegend auch aus einer Kombination der Druckschriften D4 mit D1. Auch die Gegenstände der Unteransprüche seien nicht neu oder beruhten jedenfalls nicht auf erfinderischer Tätigkeit.
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Die Hilfsanträge seien überwiegend unzulässig, jedenfalls aber seien ihre Gegenstände nicht patentfähig. Dies gelte insbesondere für Hilfsantrag 3. Ausgehend von einer der Druckschriften D1, D2 oder D3 werde der Fachmann auf die in der D6 offenbarte Höhenverstellung zurückgreifen und so zum Gegenstand des Hauptanspruchs gemäß Hilfsantrag 3 gelangen. Im Übrigen sei die Neuaufstellung eines neuen Unteranspruchs (Patentanspruch 3 gemäß Hilfsantrag 3) unzulässig.
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Die Klägerin beantragt,
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das europäische Patent 2 022 374 mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland für nichtig zu erklären.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen,
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hilfsweise die Klage mit der Maßgabe abzuweisen, dass das Streitpatent die Fassung eines der Hilfsanträge 1 bis 6 gemäß Schriftsatz vom 22. August 2016 erhält.
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Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag 1 lautet:
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1. A playard (1), comprising:
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a frame body (4) having a folding device (41) at the bottom for folding the playard (1); and a bassinet (10) provided as separated assembly and mounted on the frame body (4) in a detachable way and comprising a plurality of side panels (11), and characterized by a bottom panel (12); wherein the side panels (11) and the bottom panel (12) of the bassinet (10) are made up with flexible material so that the bassinet (10) will fold with the frame body (4) without interfering the frame body (4) folding; wherein each side panel (11) is connected to the bottom panel (12) with one end and to the frame body (4) with the other end in such a manner that the bassinet (10) is hanged at its side panels (11) on the frame body (4); and an opening (13) configured at the bottom panel (12); and a cover (14) configured near the opening (13) and capable of opening or closing relative to the opening (13), the playard (1) folded by sticking a hand into the opening (13) and directly operating the folding device (41) through the opening (13) when the cover (14) opens relative to the opening (13).
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Die erteilten Unteransprüche 2 bis 6 bleiben unverändert. Der erteilte Patentanspruch 7 wird gestrichen.
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Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag 2 entspricht Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag 1 mit den Unterschieden, dass hinter den Wörtern „for folding the playard (1)“ das Merkmal eingefügt wird:
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“and upper horizontal bars connected by corner connectors”;
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und dass die sich an den Halbsatz “wherein each side panel (11) is connected to the bottom panel (12) with one end” anschließende Wortfolge “and to the frame body (4) with the other end” durch folgende Wortfolge ersetzt wird:
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“and connected to the upper horizontal bars of the frame body (4) with the other end”.
28
Die Unteransprüche entsprechen denen des Hilfsantrags 1.
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Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag 3 entspricht dem erteilten Patentanspruch mit dem Unterschied, dass folgendes Merkmal angefügt wird:
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“wherein the bassinet (10) comprises a height adjustment device (16) configured on the plurality of side panels (11) and comprising a first engaging component (161) and a second engaging component (162), and the bassinet (10) selectively set on a first using state where the first engaging component (161) is engaged with the second engaging component (162) and a second using state where the first engaging component (161) is disengaged from the second engaging component (162), and wherein when in the first using state, the bassinet can be used as conventional bassinet for an infant lying thereon, and in the second using state, the bassinet can be used as conventional playpen for toddlers”.
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Die erteilten Unteransprüche 2 und 4 bis 7 bleiben unverändert. Der erteilte Patentanspruch 3 wird durch folgenden Patentanspruch 3 ersetzt:
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“3. The playard (1) of claim 1, characterized in that the engaging components (161, 162) are realized with zippers configured on the four side panels (11) of the bassinet (10)”.
33
Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag 4 entspricht Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag 3 mit dem Unterschied, dass nach den Wörtern „the playard (1) folded by“ und vor den Wörtern „operating the folding device (41)“ folgende Wortfolge eingefügt wird:
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„sticking a hand into the opening (13) and directly”.
35
Die Unteransprüche gemäß Hilfsantrag 4 entsprechen denen des Hilfsantrags 3.
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Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag 5 enthält alle Merkmale der Patentansprüche 1 der Hilfsanträge 1 und 3. Die Unteransprüche gemäß Hilfsantrag 5 entsprechen denen des Hilfsantrags 3 mit dem Unterschied, dass Patentanspruch 7 gestrichen wird.
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Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag 6 enthält alle Merkmale der Patentansprüche 1 der Hilfsanträge 2 und 3 und zusätzlich das aus dem erteilten Unteranspruch 2 entnommene Merkmal
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„and wherein the bassinet (10) comprises a plurality of connectors, each connecting to the other end of the side panel (11), and the bassinet (10) is detachably mounted on the frame body (4) via the plurality of connectors”.
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Die Unteransprüche entsprechen denen des Hilfsantrags 5 mit dem Unterschied, dass Patentanspruch 2 gestrichen und die Nummerierung der weiteren Patentansprüche entsprechend angepasst wird.
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Die Beklagte tritt dem Vorbringen der Klägerin entgegen. Sie verweist auf folgende Dokumente:
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Anlage 1 Hilfsantrag 3 vom 20. April 2017, eingereicht im Löschungsverfahren gegen das Gebrauchsmuster 20 2008 018 316. 3 S.
42
Anlage 2 Beschluss der Gebrauchsmusterabteilung des Deutschen Patent- und Markenamts vom 3. Mai 2017 betreffend das Gebrauchsmuster 20 2008 018 316
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Nach Auffassung der Beklagten ist der Gegenstand des Patentanspruchs 1 patentfähig. Er sei nicht neuheitsschädlich durch die Druckschrift D1 vorweggenommen. Diese Druckschrift offenbare keine Anordnung, bei der ein Einhang als separates Bauteil derart an einem Rahmenkörper befestigt sei, dass jedes Seitenteil mit einem oberen Ende an dem Rahmenkörper verbunden sei. Vielmehr werde eine innere Laufstallrahmenanordnung als separates starres Element beschrieben, bei dem die Seitenwände an einem inneren Rahmen befestigt seien, der wiederum nur an seinen Ecken punktweise mit der äußeren Rahmenanordnung verbunden sei. Solche nicht primär der Verbindung der Seitenteile mit dem Rahmenkörper des Laufstalls dienenden Eckbauteile seien nicht als Verbindungselemente i. S. d. Streitpatents anzusehen. Beim Gegenstand des Streitpatents erfolge die Befestigung des Bassinets hingegen ohne zusätzliche tragende Struktur direkt über die Seitenteile, die unmittelbar am Rahmen angeordnet seien.
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Auch die nur hinsichtlich der Umstelleinheit 40 am oberen horizontalen Rahmen, nicht aber in ihrer Gesamtheit auf die D1 verweisende Druckschrift D2 nehme den Gegenstand des Streitpatents nicht vorweg, da ihr kein Einhang entnommen werden könne.
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Bei der D3 könne einzig die auf eine „erste Umfassung“ aufgesetzte „zweite Umfassung“ als Wiege bzw. „bassinet“ i. S. d. Streitpatents angesehen werden. Diese zweite Umfassung weise jedoch weder eine streitpatentgemäße Verbindung von Seitenteilen mit dem Rahmenkörper noch eine mit einer Abdeckung versehene Öffnung am Bodenteil auf, durch die hindurch eine Klappvorrichtung betätigt werden könne.
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Der Gegenstand des Streitpatents beruhe auch auf erfinderischer Tätigkeit. Er sei nicht durch den Stand der Technik nahe gelegt. Ausgehend von einer der Druckschriften D1 oder D3 wäre der Fachmann nicht zum Gegenstand des Streitpatents gelangt. Abgesehen davon, dass der Fachmann keinen Anlass zur Kombination mit den weiteren im Verfahren befindlichen Druckschriften gehabt habe, offenbarten diese auch nicht die fehlenden Merkmale der Ausgangspunkte.
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Die D1 verfolge mit einem Einsatz mit starrer Tragstruktur, der als innerer Rahmen über separate Eckelemente an der äußeren Laufstallrahmenanordnung befestigt sei, einen völlig anderen Ansatz als das Streitpatent. Die D3 offenbare keinen Einsatz mit einer Öffnung für eine Klappvorrichtung im Bodenteil. Vielmehr zeige sie eine Wickelunterlage mit separatem Gestänge, die vor dem Zusammenfalten des Laufstalls stets entfernt werden müsse. Dementsprechend komme auch eine Kombination mit der D1 unter isoliertem Herausgreifen separater Merkmale beider Druckschriften nicht in Betracht. Insbesondere offenbare die D3 weder eine Öffnung im Bodenteil noch eine Abdeckung i. S. d. Streitpatents. Die D4 gehe in eine andere Richtung als die streitpatentgemäße Erfindung, denn sie offenbare keinen Einhang als separates, am Rahmenkörper befestigtes Element sondern ein Gestell mit höhenverstellbarem Boden, wobei die äußere und die innenliegende Struktur mit starren Profilen möglicherweise zerlegbar, aber nicht zusammenklappbar seien. Ein völlig anderes Konzept als die erfindungsgemäße Ausgestaltung zeige vor allem auch die Druckschrift D6, weshalb sie ausgehend etwa von der D1 oder der D3 vom Fachmann gar nicht erst herangezogen worden wäre. Sie zeige keinen streitpatentgemäßen Klappmechanismus und auch keinen Einhang mit Bodenteil, sondern vielmehr eine ausschließlich an den Seitenwänden befestigte Liegefläche. Der Laufstall gemäß der D6 könne auch erst dann zusammengeklappt werden, wenn verschiedene ausgesteifte Böden und die Matratze entfernt würden.
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Auch die Gegenstände der Unteransprüche wiesen einen eigenständigen patentfähigen Überschuss auf.
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Erst recht seien die Gegenstände der (zulässigen) Hilfsanträge patentfähig. Insbesondere ergebe sich der Gegenstand des Patentanspruchs 1 gemäß Hilfsantrag 3 nicht aus einer Kombination einer der Druckschriften D1 (oder D2) mit der D6, ebenso wenig aus einer Kombination der D6 mit der D1 (oder der D2). Die Beklagte verweist auf die konstruktiven Unterschiede der gänzlich andere Konzepte verfolgenden beiderseitigen Bett- und Laufstallkonstruktionen, in denen jeweils das Problem der Höhenverstellung bereits gelöst worden sei. Bei der gebotenen Betrachtung der Gesamtoffenbarung der Druckschriften hätte der Fachmann sie nicht kombiniert.