Aktenzeichen BayAGH II-3-5/20
Leitsatz
Bei Ausbleiben des Angeklagten in der Berufungshauptverhandlung ist dessen Berufung auch dann zu verwerfen, wenn zwar ein Verteidiger mit nachgewiesener Vollmacht anwesend ist, dieser aber nicht bereit oder in der Lage ist, von seiner Vertretungsmacht Gebrauch zu machen. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die Berufung des Betroffenen gegen das Urteil der 2. Kammer des Anwaltsgerichts für den Bezirk der Rechtsanwaltskammer München vom 3. Februar 2020 wird verworfen.
II. Der Betroffene trägt die Kosten seiner Berufung.
Angewandte Vorschriften: § 143 Abs. 4 Satz 2 BRAO i.V.m. § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO
Gründe
I.
Die 2. Kammer des Anwaltsgerichts für den Bezirk der Rechtsanwaltskammer München verhängte gegen den abwesenden Betroffenen am 3. Februar 2020 wegen schuldhafter Verletzung der ihm obliegenden Pflicht, seinen Beruf gewissenhaft auszuüben und sich der Achtung und des Vertrauens würdig zu erweisen, welche die Stellung des Rechtsanwalts erfordert, indem er
– das Mandat nicht in angemessener Zeit bearbeitete
– sich unsachlich verhielt
– ohne die erforderliche Befugnis verliehen bekommen zu haben, eine Fachanwaltsbezeichnung führte und sich unsachlich verhielt
– den Mandanten nicht unverzüglich über alle für den Fortgang der Sache wesentliche Vorgänge und Maßnahmen unterrichtete
– Anfragen des Mandanten nicht unverzüglich beantwortete
– nicht spätestens mit Beendigung des Mandats gegenüber dem Mandanten und/oder Gebührenschuldner die Honorarvorschüsse unverzüglich abrechnete und ein von ihm errechnetes Guthaben auszahlte,
die anwaltsgerichtliche Maßnahme des Verweises und der Geldbuße in Höhe von 5.000 €.
Hiergegen richtet sich die am 10. Februar 2020 eingelegte und am gleichen Tag bei Gericht eingegangene Berufung des Betroffenen. Zur Berufungshauptverhandlung vor dem Bayerischen Anwaltsgerichtshof war der Betroffene mit Verfügung des Vorsitzenden des 3. Senats vom 12. Juni 2020 geladen worden. In der Ladung wurde der Betroffene darauf hingewiesen, dass die Hauptverhandlung auch in seiner Abwesenheit durchgeführt werden könne und dass seine Berufung ohne Verhandlung zur Sache verworfen werden muss, wenn er zur Berufungshauptverhandlung nicht erscheint und sein Ausbleiben nicht genügend entschuldigt ist. Er wurde darüber hinaus darauf aufmerksam gemacht, dass das Erscheinen eines Verteidigers nur genügt, wenn dieser zur Vertretung ermächtigt ist und dies auch nachweist. Die Ladung wurde dem Betroffenen am 13. Juni 2020 per Postzustellurkunde unter der Anschrift … zugestellt. In der Berufungshauptverhandlung wurde der Betroffene von Rechtsanwalt O. vertreten. Die bei den Akten (42 EV … GenStA München Bd. 2, Bl. 100) befindliche (Strafprozess) Vollmacht (ohne Datum) „wegen BerufsR“ für alle Instanzen lautet auszugsweise wie folgt:
…
Die Vollmacht gewährt unter Anerkennung aller gesetzlichen Befugnisse nach der Strafprozessordnung/dem OWiG das Recht:
…
9. den Antrag auf Entbindung von der Verpflichtung zum Erscheinen in der Hauptverhandlung zu stellen und zurückzunehmen sowie die Vertretung in der Hauptverhandlung gemäß aller nach der StPO und OWiG zulässigen Fällen (§§ 329 Abs. 1 Satz 1, 411 Abs. 2 Satz 1 StPO, 73, 74 OWiG) vorzunehmen.“
…
(Unterschrift Betroffener)
Zu Beginn der Berufungshauptverhandlung wurde seitens des Vorsitzenden versucht, mit RA O. das Ziel der Berufung zu klären und in diesem Zusammenhang auch nachgefragt, ob aus Sicht des Betroffenen eine Beschränkung der Berufung oder eine Rücknahme in Betracht käme. Hierauf erklärte RA O., dass sich die Kommunikation mit dem Mandanten schwierig gestalte und er keine Beschränkung oder Rücknahme des Rechtsmittels ohne vorherige Rücksprache vornehmen könne. Nachdem der Mandant in einer darauf vorgenommenen Unterbrechung der Sitzung vom Verteidiger nicht erreicht werden konnte, wurde anschließend die Frage der Verhandlung über die Berufung des Betroffenen in dessen Abwesenheit erörtert. Rechtsanwalt O. gab an, dass er weder im Namen des Mandanten noch aus eigenem Recht Angaben machen könne und fügte schließlich hinzu, er sehe sich inhaltlich als nicht legitimiert an, Erklärungen zur Sache abzugeben. Der Senat wies darauf hin, dass aufgrund dessen Zweifel an einer ausreichenden Vertretungsmacht bestehen und gab Gelegenheit zur Stellungnahme. Der Verteidiger gab hierauf keine weitere Erklärung ab.
Die Verhandlung über die auf die Rechtsfolgen beschränkte Berufung der Generalstaatsanwaltschaft wurde ausgesetzt. Neuer Termin wird von Amts wegen bestimmt werden.
II.
Die zulässige, insbesondere form- und fristgerechte Berufung des Betroffenen war gemäß § 143 Abs. 4 Satz 2 BRAO i.V.m. § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO zu verwerfen, da weder der ordnungsgemäß geladene Betroffene noch ein zur Verteidigung bereiter Verteidiger anwesend waren und das Ausbleiben des Betroffenen auch nicht genügend entschuldigt gewesen ist.
1. Der Betroffene selbst war trotz ordnungsgemäßer Ladung nicht erschienen. Anhaltspunkte dafür, dass das Ausbleiben des Betroffenen entschuldigt gewesen sein könnte, lagen nicht vor. Insbesondere war beim Bayerischen Anwaltsgerichtshof keine Erklärung des Angeklagten eingegangen, dass bzw. aus welchen Gründen er zum Termin nicht erscheinen werde.
2. Der Betroffene war aber auch nicht „vertreten“ i.S. des § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO.
Zwar war Rechtsanwalt O. bei Aufruf der Sache anwesend. Zudem lag eine Vollmacht bei den Akten, die auch eine Vertretung des Betroffenen im Fall des § 329 Abs. 1 StPO umfasste. Dies allein ist jedoch nicht ausreichend, um eine Vertretung i.S. des § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO anzunehmen, der Verteidiger muss auch bereit und in der Lage sein, von der Vertretungsmacht Gebrauch zu machen. Daran fehlte es.
a) Der Regierungsentwurf zum Gesetz „zur Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Vertretung in der Berufungsverhandlung und über die Anerkennung von Abwesenheitsentscheidungen in der Rechtshilfe“ zur Änderung des § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO im Lichte der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Absatz 1 und 3 Buchstabe c EMRK sieht vor, dass eine Verwerfung der Berufung des Angeklagten nicht mehr erfolgen darf, wenn „statt des Angeklagten ein entsprechend bevollmächtigter und vertretungsbereiter Verteidiger zu einem Termin“ erschienen ist (BT-Drs. 18/3562, S. 2). Im Hinblick auf den Verteidiger setzt „Erscheinen“ im Rechtssinne danach voraus, dass der mit Vertretungsvollmacht ausgestattete Verteidiger auch zur Vertretung bereit ist, also nicht von vorneherein erklärt oder zu erkennen gibt, den Angeklagten nicht vertreten zu wollen (BT.-Drs. 18/3562 S. 69). Dementsprechend verlangt auch die herrschende Meinung in Rechtsprechung und Literatur, dass der Verteidiger nicht nur körperlich anwesend, sondern auch zur Vertretung bereit ist (KG Beschluss vom 16. Mai 2014, Az: (4) 161 Ss 71/14, zitiert über juris, Rdn. 15 „vertretungswillig und zur Vertretung des Angeklagten in der Lage“; OLG Hamm Beschluss vom 6. September 2016, Az: 4 RVs 96/16, zitiert über juris, Rdn. 8; OLG Oldenburg Beschluss vom 20. Dezember 2016, Az: 1 Ss 178/16, zitiert über juris, Rdn. 12; Gössel in Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl., zu § 411 Rdn. 30; KK-StPO/Maur, 8. Aufl. zu § 329 Rdn. 6, § 411 Rdn. 15; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 63. Aufl. § 412 Rdn. 5 je mwN, Rautenberg/Reichenbach in Gercke/Julius/Temming/Zöller StPO 6. Aufl. § 329 Rdn. 20; Johnigk in Gaier/Wolf/Göcken Anwaltliches Berufsrecht 3. Aufl. § 143 BRAO Rdn. 20). Dies war vorliegend nicht gegeben.
b) Zwar muss ein Verteidiger, ebenso wie ein Angeklagter oder hier ein Betroffener, nicht an der Verhandlung mitwirken und Erklärungen zur Sache abgeben. Ein Verteidiger aber, der – wie hier – von sich schwierig gestaltender Kommunikation mit dem Mandanten spricht und angibt, sich sowohl zu prozessualen Erklärungen als auch zu Erklärungen in der Sache als nicht legitimiert anzusehen, will nicht lediglich eine Einlassung verweigern und schweigen, sondern begründet, warum ihm von Anfang an eine Verteidigung nicht möglich ist und belegt, zu einer Verteidigung auch nicht bereit zu sein, indem er in Frage stellt, von der erteilten Vertretungsmacht Gebrauch zu machen.
III.
1. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197 Abs. 2 Satz 1 BRAO.
2. Die Revision wird nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 145 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 BRAO nicht gegeben sind.