Arbeitsrecht

Arbeitslosengeld für Schüler nach letztem Prüfungstag

Aktenzeichen  S 22 AL 229/20

Datum:
27.10.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 32360
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Nürnberg
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB III § 27 Abs. 4, § 139 Abs. 2 S. 1, S. 2

 

Leitsatz

1. Schüler haben Anspruch auf Arbeitslosengeld ab dem letzten Prüfungstag ihrer Schulausbildung.  (Rn. 26 – 28) (redaktioneller Leitsatz)
2. Dieser Anspruch verlangt die Widerlegung der gesetzlichen Vermutung, dass Schüler nur versicherungsfreie Beschäftigungen ausüben können. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Beklagte wird unter teilweiser Aufhebung des Bescheides vom 08.06.2020 in Fassung der Änderungsbescheide vom 17.06.2020 und 30.06.2020 und in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.07.2020 verurteilt, dem Kläger Arbeitslosengeld I in gesetzlicher Höhe bereits ab 16.06.2020 zu gewähren.
II. Die Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
III. Die Berufung wird zugelassen.

Gründe

Die Klage hat vollumfänglich Erfolg. Sie ist zulässig und begründet.
Das Gericht konnte gem. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, da alle Beteiligten ausdrücklich ihr Einverständnis erklärt haben.
Gegenstand dieses Rechtsstreites ist der Bescheid vom 08.06.2020 in Fassung der Änderungsbescheide vom 17.06.2020 und 30.06.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides 01.07.2020, mit dem die Beklagte dem Kläger Arbeitslosengeld I erst ab dem 26.06.2020 und nicht bereits ab 16.06.2020 vorläufig bewilligt hat.
Unter Berücksichtigung des Meistbegünstigungsprinzips (vgl. nur BSG vom 06.04.2011, B 4 AS 119/10 R) war das Begehren des Klägers, der keinen konkreten Klageantrag gestellt hat, nach § 123 SGG so auszulegen wie im Tatbestand wiedergegeben.
Die Klage ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben (§§ 87, 90 und 92 SGG). Statthafte Klageart ist die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage gem. § 54 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG.
Die Klage ist begründet, weil dem Kläger Arbeitslosengeld I bereits ab dem Tag nach der letzten Prüfung und damit ab 16.06.2020 zusteht.
Rechtsgrundlage für einen Anspruch auf Arbeitslosengeld bei Arbeitslosigkeit ist § 137 Abs. 1 SGB III. Danach erhält die Leistung, wer arbeitslos ist, sich bei der Agentur für Arbeit arbeitslos meldet und die Anwartschaftszeit erfüllt hat. Arbeitslos ist nach § 138 Abs. 1 SGB III, wer Arbeitnehmerin oder Arbeitnehmer ist und nicht in einem Beschäftigungsverhältnis steht (Beschäftigungslosigkeit), sich bemüht, die eigene Beschäftigungslosigkeit zu beenden (Eigenbemühungen) und den Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit zur Verfügung steht (Verfügbarkeit).
Strittig ist – da die Beklagte dem Kläger ab 26.06.2020 ohnehin Arbeitslosengeld I bewilligt hat – nur noch, ob der Kläger bereits nach Ablegen der letzten Prüfung den Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit zur Verfügung gestanden hat oder, wie von der Beklagten vertreten, erst ab dem Tag der Bekanntgabe des Prüfungsergebnisses.
Den Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit steht zur Verfügung, wer
1.eine versicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende zumutbare Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des für sie oder ihn in Betracht kommenden Arbeitsmarktes ausüben kann und darf,
2.Vorschlägen der Agentur für Arbeit zur beruflichen Eingliederung zeit- und ortsnah Folge leisten kann,
3.bereit ist, jede Beschäftigung im Sinne der Nummer 1 anzunehmen und auszuüben, und
4.bereit ist, an Maßnahmen zur beruflichen Eingliederung in das Erwerbsleben teilzunehmen.
Bei Schülerinnen, Schülern, Studentinnen oder Studenten einer Schule, Hochschule oder sonstigen Ausbildungsstätte wird nach § 139 Abs. 2 SGB III vermutet, dass sie nur versicherungsfreie Beschäftigungen ausüben können. Die Vermutung ist jedoch widerlegt, wenn die Schülerin, der Schüler, die Studentin oder der Student darlegt und nachweist, dass der Ausbildungsgang die Ausübung einer versicherungspflichtigen, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassenden Beschäftigung bei ordnungsgemäßer Erfüllung der in den Ausbildungs- und Prüfungsbestimmungen vorgeschriebenen Anforderungen zulässt.
Im vorliegenden Fall ist es unstreitig so, dass der Kläger am 16.06.2020 noch Schüler gewesen ist und damit gemäß § 139 Abs. 2 Satz 1 SGB III gesetzlich vermutet wird, dass er nur versicherungsfreie Beschäftigungen ausüben konnte.
Die Kammer ist jedoch der Meinung, dass der Kläger diese gesetzliche Vermutung widerlegt hat, sodass er bereits nach dem letzten Prüfungstag für Vermittlungsbemühungen verfügbar gewesen ist. Er hat sich als Schüler am 16.06.2020 unmittelbar nach der letzten Prüfung persönlich arbeitslos gemeldet und dem Arbeitsmarkt zur Verfügung gestellt. Einschränkungen auf Grund seiner Schülereigenschaft hat er weder geltend gemacht, noch sind solche ersichtlich. Der Zeuge hat schriftlich bestätigt, dass der Kläger ab dem 16.06.2020 gar nicht mehr in der Schule habe erscheinen müssen und während des Wartens auf das Prüfungsergebnis eine versicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende Beschäftigung hätte ausüben können, ohne gegen die geltende Ausbildungs- und Prüfungsordnung zu verstoßen.
Der Kläger konnte die gesetzliche Vermutung auch widerlegen, obwohl er sein Prüfungsergebnis zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht gekannt hat und obwohl die Schulzeit offiziell noch nicht beendet gewesen ist. Bei Studenten ist nach Auffassung mehrerer Landessozialgerichte für die Zeit unmittelbar nach der Immatrikulation bis zum Beginn der Lehrveranstaltungen, also zu Beginn des Studiums, eine Widerlegung der Vermutung nach § 139 Abs. 2 Satz 2 SGB III möglich, wenn das bevorstehende Studium noch keinerlei Zeit in Anspruch nimmt (LSG Hessen v. 27.02.2015 – L 9 AL 148/13; LSG Hessen v. 21.09.2012 – L 7 AL 3/12; LSG Thüringen v. 22.02.2007 – L 3 AL 822/03). Warum dies am Ende einer schulischen Ausbildung anders sein soll, wenn der Schüler nach der letzten Prüfung nur noch auf das Prüfungsergebnis wartet und sich dem Arbeitsmarkt vollumfänglich zur Verfügung stellen kann und auch stellt, erschließt sich der Kammer nicht. Die Interessenlage ist vergleichbar.
Im Ergebnis war die Klage somit erfolgreich.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.
Die Berufung war nach § 144 SGG zuzulassen, weil bei den lediglich streitigen 10 Tagen die Berufungssumme nicht erreicht ist, gleichzeitig aber die hier entschiedene Rechtsfrage grundsätzliche Bedeutung hat.


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