Arbeitsrecht

Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen

Aktenzeichen  L 10 AL 107/16

Datum:
25.10.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB IX SGB IX § 2

 

Leitsatz

Keine Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen bei fehlender Gefährdung des Arbeitsplatzes. (Rn. 22 – 24)

Verfahrensgang

S 1 AL 25/10 2012-02-28 Urt SGNUERNBERG SG Nürnberg

Tenor

I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 28.02.2012 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz -SGG-), aber nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid vom 14.08.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.12.2009 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen. Schwerbehinderten Menschen gleichgestellt werden sollen behinderte Menschen mit einem GdB von weniger als 50, aber wenigstens 30, bei denen die übrigen Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 SGB IX vorliegen, wenn sie infolge ihrer Behinderung ohne die Gleichstellung einen geeigneten Arbeitsplatz im Sinne des § 73 SGB IX nicht erlangen oder nicht behalten können (§ 2 Abs. 3 SGB IX). Vorliegend will der Kläger (nur) gleichgestellt werden, um seinen derzeitigen Arbeitsplatz zu behalten. Die Prüfung ist daher auf die Voraussetzungen des § 2 Abs. 3 2. Alt SGB IX beschränkt. Umstände für eine Gleichstellung zur Erlangung eines Arbeitsplatzes wurden nicht vorgetragen. Für die Beurteilung der Tatbestandsvoraussetzungen ist dabei auf den Zeitraum von der Antragstellung bis zur letzten mündlichen Verhandlung abzustellen und es sind alle wesentlichen Änderungen der Sach- und Rechtslage zu berücksichtigen (vgl dazu BSG, Urteil vom 02.03.2000 – B 7 AL 46/99 R – SozR 3-3870 § 2 Nr. 1).
Der Kläger hat seinen Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland und es ist bei ihm ein GdB von 30 anerkannt. Sein Arbeitsplatz dürfte für ihn als behinderten Menschen auch geeignet sein. Unzweifelhaft handelt es sich um einen Arbeitsplatz mit einem Arbeitszeitumfang von mindestens 18 Stunden wöchentlich iSv § 73 SGB IX. Für die Annahme eines „geeigneten“ Arbeitsplatzes darf der behinderte Mensch grundsätzlich durch die geschuldete Arbeitsleistung nicht gesundheitlich überfordert werden, wenngleich das Auftreten oder Hinzutreten einer behinderungsbedingten Einschränkung des beruflichen Leistungsvermögens für sich genommen noch nicht zum Wegfall der Geeignetheit des Arbeitsplatzes führt. Insofern bestimmt sich die Geeignetheit des Arbeitsplatzes individuell-konkret nach dem Eignungs- und Leistungspotential des behinderten Menschen (BSG, Urteil vom 06.08.2014 – B 11 AL 16/13 R – BSGE 116, 272; Urteil vom 02.03.2000 – B 7 AL 46/99 R – BSGE 86, 10). Auch mit seinen gesundheitlichen Einschränkungen insbesondere aufgrund der gesundheitlichen Probleme hinsichtlich des rechten Sprunggelenks, des linken Unterschenkels, der Hüfte und der Kopfschmerzen kann der Kläger unter Inkaufnahme kleinerer Pausen die an ihn gestellten Anforderungen als Lagerarbeiter erfüllen. Mit der Umsetzung auf diesen Arbeitsplatz hat der Arbeitgeber bereits den Folgen des Arbeitsunfalls von 2007 Rechnung getragen. Der vom Arbeitgeber beschriebene Tätigkeitsbereich (Abnahme, Einlagern und Buchen von Spritzteilen aus der Spritzerei, Versorgung der Produktion mit Leerkartonagen sowie nach Bedarf Zerlegen oder Zusammenfalten von Kartonagen und Deckeln) kann vom Kläger bewältigt werden. Dass sich der Tätigkeitsbereich auch grundsätzlich auf den Bereich der Kommissionierung ausgeweitet hat, kann der Tätigkeitsbeschreibung des Arbeitgebers nicht entnommen werden. Im Übrigen kann der behinderte Mensch immer nur den Arbeitsplatz „behalten“, den er konkret innehat, so dass die Frage nach der Eignung „eines“ Arbeitsplatzes für den behinderten Menschen nicht abstrakt für alle Arbeitsplätze geprüft werden kann (vgl BSG, Urteil vom 06.08.2014 – B 11 AL 16/13 R – BSGE 116, 272).
Es fehlt jedoch an einer notwendigen Erforderlichkeit der Gleichstellung. So muss zwischen der Behinderung und der Erforderlichkeit der Gleichstellung ein Ursachenzusammenhang bestehen („infolge“), der gegeben ist, wenn bei wertender Betrachtung in der Art und Schwere der Behinderung die Schwierigkeit begründet ist, den geeigneten Arbeitsplatz zu behalten (vgl BSG, Urteil vom 06.08.2014 – B 11 AL 16/13 R – BSGE 116, 272; Urteil vom 01.03.2011 – B 7 AL 6/10 R – BSGE 108, 4). Der behinderte Mensch muss bei wertender Betrachtung (im Sinne einer wesentlichen Bedingung) in seiner Wettbewerbsfähigkeit gegenüber den Nichtbehinderten in besonderer Weise beeinträchtigt und deshalb nur schwer vermittelbar sein. Hierfür ist es einerseits ausreichend, wenn die Behinderung zumindest eine wesentliche Mitursache für die Arbeitsmarktprobleme des behinderten Menschen ist, andererseits genügt es nicht, wenn lediglich betriebliche Defizite bestehen, die nicht auf der Behinderung beruhen. Für die Bejahung eines Kausalzusammenhangs genügt es, dass der Arbeitsplatz durch die Gleichstellung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit sicherer gemacht werden kann. Anknüpfungstatsachen für die Kausalitätsprüfung können sich durch die Befragung des Arbeitgebers, Betriebsrat oder Personalvertretungen, aus behinderungsbedingten Fehlzeiten, die Rückschlüsse auf die Gefährdung der Teilhabe am Arbeitsleben zulassen, dem Ob und dem Umfang des Bedarfs an technischen Hilfen, aus Abmahnungen oder Abfindungsangeboten im Zusammenhang mit behinderungsbedingt verminderter Leistungsfähigkeit oder notwendigen Hilfeleistungen anderer Mitarbeiter sowie einer eingeschränkten beruflichen Mobilität ergeben (vgl dazu insgesamt auch BSG, Urteil vom 06.08.2014 – B 11 AL 16/13 R – BSGE 116, 272 – mwN).
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze vermag der Senat derzeit keine Erforderlichkeit für die Gleichstellung des Klägers mit einem schwerbehinderten Menschen festzustellen. Unzweifelhaft leidet er an verschiedenen gesundheitlichen Einschränkungen. So wird zuletzt im Gutachten des Dr. N. vom 15.12.2014 im Verfahren S 12 SB 531/09 festgestellt, dass beim Kläger eine Bewegungseinschränkung und Funktionsbeeinträchtigung des rechten Sprunggelenks bei Zustand nach Sprunggelenksfraktur, eine Weichteilschwellung und Schwellungsneigung bzgl des rechten Fußes bei Zustand nach dreigradiger Weichteilwunde und plastischer Deckung, ein vermindertes Tastempfinden am linken Knie (Störung der Hautnerven), eine Narbenbildung am Rücken bei Zustand nach Muskelentnahme (im Rahmen der Defektbildung am rechten Fuß), ein mit Knickbildung ausgeheilter Bruch des zwölften Brustwirbelkörpers, Verschleißzeichen des rechten Hüftgelenkes (Dysplasiecoxarthrose) sowie ein Knick-Senk-Fuß beidseits sowie eine Nervenschädigung mit Gefühlsstörung am linken Knie bestehen. Weiter hat der Kläger angegeben, unter migräneartigen Kopfschmerzen zu leiden. Eine Einschränkung seiner Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Nichtbehinderten kann darin aber nicht gesehen werden. Es ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass beim Kläger signifikante behinderungsbedingte Fehlzeiten aufgetreten wären. Einzig im Hinblick auf die Kopfschmerzen wurde vorgebracht, dass er deshalb an einem Morgen nicht zur Arbeit habe gehen können. Dies stellt aber im Vergleich zu anderen Arbeitnehmern keine ungewöhnliche Erhöhung von Fehlzeiten dar. Als technische Hilfen, die dem Kläger zur Arbeitserleichterung zur Verfügung stehen, ist ein elektrischer Hubwagen von ihm erwähnt worden. Ein solcher ist jedoch nicht erkennbar speziell für den Kläger zur Verfügung gestellt, sondern gehört in der Regel allgemein zur Ausstattung von größeren Lagern. Soweit der Kläger ausgeführt hat, er sei völlig fertig, wenn er mit dem normalen Hubwagen durch die ganze Firma laufen müsse, ist nachvollziehbar, dass dies beschwerlich sein kann. Dies gilt aber in gewissem Maße auch für Mitarbeiter ohne gesundheitliche Einschränkungen. Dass der Kläger auf die Unterstützung durch andere Mitarbeiter wegen seiner Behinderung angewiesen wäre, ist weder vorgetragen noch ersichtlich. Gleiches gilt für das Vorliegen von Abmahnungen oder Abfindungsangeboten. Vielmehr ergibt sich aus der Stellungnahme des Arbeitgebers, dass er vollwertig wie jeder andere Mitarbeiter in der Betriebslogistik arbeite. Die angegebenen Pausenzeiten, die während des Arbeitstages aufgrund der gesundheitlichen Einschränkungen gemacht werden müssen, sind auch nicht unangemessen. So hat er angegeben, er müsse pro Schicht zwei bis dreimal fünf Minuten Pause machen. Dies entspricht durchaus dem Umfang, den andere Arbeitnehmer für Zigarettenpausen benötigen. Einen entsprechenden Vergleich hat der Kläger selbst angesprochen. Auch hat er angegeben, er sei deshalb von seinem Vorgesetzten noch nicht angesprochen worden. Soweit andere Mitarbeiter ihn deshalb ansprechen, wäre dies für die vorliegend vorzunehmende Prüfung unerheblich. Dass sich an der Situation etwas geändert hat, ist weder vorgetragen noch ersichtlich.
Auch der Verweis auf eine Gefährdung des Arbeitsplatzes im Hinblick auf eine Wirtschaftskrise oder die Eröffnung eines Zweitwerkes in Tschechien ist nicht geeignet eine andere Beurteilung vorzunehmen. Sofern damit ein Arbeitsplatzabbau in Zukunft hypothetisch verbunden sein sollte, ist nach den obigen Ausführungen nicht erkennbar, dass der Kläger hier im Vergleich zu anderen Mitarbeitern benachteiligt wäre. Vielmehr wäre er insofern denselben Risiken eines Arbeitslatzverlustes – unabhängig von seiner Behinderung – ausgesetzt.
Soweit der Kläger zuletzt noch auf eine Hüftgelenksoperation hingewiesen hat, waren entsprechende Auswirkungen nicht entscheidungserheblich, da eine Änderung der Sachlage damit (noch) nicht eingetreten ist. Es ist – auch nach den Ausführungen des Klägers – derzeit völlig offen, ob er seine bisherige Arbeit bei seinem Arbeitgeber nach Wiedererlangung seiner Arbeitsfähigkeit noch ausüben kann. Sollte dies nicht der Fall sein, würde es aber schon an einem geeigneten Arbeitsplatz fehlen. Der Arbeitgeber hat ausgeführt, dass behinderungsgerechte Arbeitsplätze nicht bei ihm vorhanden wären. Gegenteiliges hat der Kläger weder behauptet, noch gibt es dafür Anhaltspunkte. Nicht auszuschließen ist aber auch, dass die Hüftgelenksoperation zu einer Besserung des Gesundheitszustandes führen wird und der Kläger bei Ausübung seiner Tätigkeit sogar noch weniger Probleme haben könnte als zuvor. Möglicherweise kann der Kläger zwar die bisherige Tätigkeit mit weiteren Einschränkungen, wie zB einer weiteren Ausdehnung der Pausenzeiten, wieder ausüben. Dies ist jedoch zum jetzigen Zeitpunkt nicht absehbar oder feststehend. Die Nachweislast für das Vorliegen der Gefährdung seines Arbeitsplatzes durch die Behinderung liegt aber beim Kläger. Der Senat sieht daher zur Zeit keinen Anlass, aktuelle Befundberichte beizuziehen, denn die Folgen der Operation können erst nach Abklingen der Operationsfolgen und Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit festgestellt werden. Sollte sich die Sachlage zu seinem Nachteil ändern, besteht die Möglichkeit, erneut einen Antrag auf Gleichstellung bei der Beklagten zu stellen.
Da der Kläger infolge der Auswirkungen seiner Behinderung zur Sicherung des konkreten, geeigneten Arbeitsplatzes derzeit nicht der Gleichstellung bedarf, hat er keinen Anspruch auf die Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen. Die Berufung war somit zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Gründe, die Berufung nach § 160 Abs. 2 Nrn 1 und 2 SGG zuzulassen, sind nicht ersichtlich.


Ähnliche Artikel

Mobbing: Rechte und Ansprüche von Opfern

Ob in der Arbeitswelt, auf Schulhöfen oder im Internet – Mobbing tritt an vielen Stellen auf. Die körperlichen und psychischen Folgen müssen Mobbing-Opfer jedoch nicht einfach so hinnehmen. Wir klären Rechte und Ansprüche.
Mehr lesen

Das Arbeitszeugnis

Arbeitszeugnisse dienen dem beruflichen Fortkommen des Arbeitnehmers und helfen oft den Bewerbern in die engere Auswahl des Bewerberkreises zu gelangen.
Mehr lesen


Nach oben