Arbeitsrecht

Hintergrunddienst – vergütungsrechtliche Rufbereitschaft

Aktenzeichen  6 AZR 264/20

Datum:
25.3.2021
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
BAG
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:BAG:2021:250321.U.6AZR264.20.0
Normen:
§ 1 TVG
§ 612 BGB
Spruchkörper:
6. Senat

Leitsatz

1. Einzige tarifliche Tatbestandsvoraussetzung und entscheidendes Unterscheidungskriterium von Bereitschaftsdienst iSd. § 7 Abs. 4 Satz 1 TV-Ärzte/TdL und Rufbereitschaft iSd. § 7 Abs. 6 Satz 1 TV-Ärzte/TdL ist, ob der Arbeitgeber nach Maßgabe der von ihm getroffenen Anordnungen den Aufenthaltsort des Arbeitnehmers bestimmt oder ob der Arbeitnehmer seinen Aufenthaltsort im Rahmen der durch den Zweck der Rufbereitschaft vorgegebenen Grenzen frei wählen kann. Im ersten Fall handelt es sich um Bereitschaftsdienst, im zweiten Fall um Rufbereitschaft.
2. Die Befugnis, diese Sonderformen der Arbeit gemäß § 7 Abs. 4 Satz 2, Abs. 6 Satz 2 TV-Ärzte/TdL nur anzuordnen, wenn erfahrungsgemäß Arbeit lediglich in einem tariflich näher umschriebenen Umfang anfällt, ist hingegen kein Tatbestandsmerkmal. Darum wandelt sich tarifwidrig angeordnete Rufbereitschaft nicht automatisch in Bereitschaftsdienst mit der Folge weitergehender Vergütungsansprüche um.

Verfahrensgang

vorgehend ArbG Bonn, 11. März 2019, Az: 1 Ca 1885/18, Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Köln, 4. März 2020, Az: 3 Sa 218/19, Urteil

Tenor

1. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Köln vom 4. März 2020 – 3 Sa 218/19 – insoweit aufgehoben, als es auf die Berufung des Klägers das Urteil des Arbeitsgerichts Bonn vom 11. März 2019 – 1 Ca 1885/18 – abgeändert und der Klage stattgegeben hat.
2. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Bonn vom 11. März 2019 – 1 Ca 1885/18 – wird vollumfänglich zurückgewiesen.
3. Die Anschlussrevision des Klägers wird zurückgewiesen.
4. Der Kläger hat die Kosten der Berufung und der Revision zu tragen.

Tatbestand

1
Die Parteien streiten über die Vergütung ärztlicher Hintergrunddienste.
2
Der Kläger ist beim beklagten Universitätsklinikum als Oberarzt in der Nephrologie beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis war im Streitzeitraum Juli 2017 bis Juni 2018 der Tarifvertrag für Ärztinnen und Ärzte an Universitätskliniken (TV-Ärzte/TdL) vom 30. Juni 2006 idF des Änderungstarifvertrags Nr. 6 vom 12. April 2017 anzuwenden. Er enthielt zu Sonderformen der Arbeit ua. folgende Regelungen:
        
„§ 7 Sonderformen der Arbeit
        
…       
        
(4) 1Die Ärzte sind verpflichtet, sich auf Anordnung des Arbeitgebers außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit an einer vom Arbeitgeber bestimmten Stelle aufzuhalten, um im Bedarfsfall die Arbeit aufzunehmen (Bereitschaftsdienst). 2Der Arbeitgeber darf Bereitschaftsdienst nur anordnen, wenn zu erwarten ist, dass zwar Arbeit anfällt, erfahrungsgemäß aber die Zeit ohne Arbeitsleistung überwiegt. …
        
(6) 1Die Ärztin/Der Arzt hat sich auf Anordnung des Arbeitgebers außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit an einer dem Arbeitgeber anzuzeigenden Stelle aufzuhalten, um auf Abruf die Arbeit aufzunehmen (Rufbereitschaft). 2Der Arbeitgeber darf Rufbereitschaft nur anordnen, wenn erfahrungsgemäß lediglich in Ausnahmefällen Arbeit anfällt. 3Rufbereitschaft wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass Ärzte vom Arbeitgeber mit einem Mobiltelefon oder einem vergleichbaren technischen Hilfsmittel ausgestattet sind.
        
…       
        
§ 9 Ausgleich für Rufbereitschaft und Bereitschaftsdienst
        
(1) 1Für die Rufbereitschaft wird eine tägliche Pauschale je Entgeltgruppe gezahlt. ….
5Hinsichtlich der Arbeitsleistung wird jede einzelne Inanspruchnahme innerhalb der Rufbereitschaft mit einem Einsatz im Krankenhaus einschließlich der hierfür erforderlichen Wegezeiten auf eine volle Stunde gerundet. 6Für die Inanspruchnahme wird das Entgelt für Überstunden sowie etwaiger Zeitzuschläge bezahlt. 7Für die Zeit der Rufbereitschaft werden Zeitzuschläge nicht gezahlt.
        
…       
        
(2) 1Zur Berechnung des Entgelts wird die Zeit des Bereitschaftsdienstes einschließlich der geleisteten Arbeit in zwei Stufen als Arbeitszeit gewertet. 2Ausschlaggebend sind die Arbeitsleistungen, die während des Bereitschaftsdienstes erfahrungsgemäß durchschnittlich anfallen:
        
Bereitschaftsdienststufe
Arbeitsleitung innerhalb des Bereitschaftsdienstes
Bewertung als Arbeitszeit
        
I       
0 bis zu 25 v.H.
60 v.H.
        
II    
Mehr als 25 v.H. bis 49 v.H.
95 v.H.
        
        
        
…       
        
4Für die Zeit des Bereitschaftsdienstes, die als Arbeitszeit gewertet wird, wird das tarifliche Stundenentgelt der jeweiligen Entgeltgruppe und Stufe (individuelles Stundenentgelt) gezahlt. … 7Die Zuweisung zu den Stufen des Bereitschaftsdienstes erfolgt durch schriftliche Nebenabrede zum Arbeitsvertrag. 8Die Nebenabrede ist abweichend von § 2 Absatz 3 mit einer Frist von drei Monaten jeweils zum Ende eines Kalenderhalbjahres kündbar.
        
…“    
3
Der Kläger leistete außerhalb seiner regelmäßigen Arbeitszeit ärztliche Hintergrunddienste, die das beklagte Universitätsklinikum als Rufbereitschaft anordnete. Diese dauerten jeweils 16 Stunden, an Wochenendtagen 24 Stunden. Während dieser Zeit war der Kläger verpflichtet, telefonisch erreichbar zu sein. Weitere ausdrückliche Vorgaben hinsichtlich des Aufenthaltsortes oder der Zeitspanne, innerhalb derer der Kläger die Arbeit im Klinikum aufzunehmen hatte, machte das beklagte Universitätsklinikum nicht. Im Rahmen des Hintergrunddienstes konnte es sowohl zu Einsätzen des Klägers im Klinikum nach einem telefonischen Abruf als auch zu rein telefonischen Inanspruchnahmen kommen. Der Kläger hatte zudem Organtransplantationsangebote der Stiftung Eurotransplant zu bearbeiten. Sofern diese im beschleunigten Vermittlungsverfahren (sog. Extended-Allocation-Modus) erfolgten, hatte er nach dem telefonischen Angebot entsprechend einer Vorgabe der Stiftung Eurotransplant innerhalb von 30 Minuten die mitgeteilten Daten bezüglich Spender, Organ sowie Patient und Dialysearzt zu prüfen, den in Betracht kommenden Patienten und den zuständigen Dialysearzt telefonisch zu kontaktieren sowie gegenüber Eurotransplant zu erklären, ob das Organtransplantationsangebot angenommen werde. Die dafür erforderlichen Informationen entnahm der Kläger einem von ihm während des Hintergrunddienstes mitzuführenden Aktenordner. Im Falle der Angebotsannahme begab sich der Kläger unverzüglich in das Klinikum. Im beklagten Universitätsklinikum erfolgten 20 von insgesamt 80 Organtransplantationsangeboten im Jahr 2018 im sog. Extended-Allocation-Modus.
4
Nach Feststellung des Landesarbeitsgerichts ergab eine Erhebung des beklagten Universitätsklinikums mit Stand Juni 2018, dass in 4,18 % der Rufbereitschaftsstunden tatsächlich Arbeitsleistungen erbracht wurden. In 21,1 % der Rufbereitschaften erfolgte eine rein telefonische Inanspruchnahme am jeweiligen Aufenthaltsort des diensthabenden Arztes. In weiteren 26,3 % der Rufbereitschaften war die telefonische Inanspruchnahme auch mit einem Einsatz im Klinikum verbunden.
5
Das beklagte Universitätsklinikum vergütete die Hintergrunddienste als Rufbereitschaft. Der Kläger begehrt für den Zeitraum von Juli 2017 bis Juni 2018 weitergehend den Differenzbetrag zu der Vergütung, die zu zahlen wäre, wenn es sich bei den Hintergrunddiensten um zu 60 % als Arbeitszeit zu wertende Bereitschaftsdienste der Stufe I gehandelt hätte.
6
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, die Hintergrunddienste seien tatsächlich Bereitschaftsdienst. Das ergebe sich aus dem Erfordernis, gegebenenfalls kurzfristig im Klinikum erscheinen zu müssen, aber auch aus der Notwendigkeit, (telefonische) Arbeiten andernorts unter Verwendung des mitzuführenden Ordners sowie der mobilen Arbeitsgeräte und unter Beachtung der Wahrung der Vertraulichkeit sofort aufzunehmen. Er sei dadurch faktisch ortsgebunden gewesen. Zudem sei erfahrungsgemäß nicht nur im Ausnahmefall Arbeit angefallen. Zu berücksichtigen seien dabei entgegen der Annahme des beklagten Universitätsklinikums auch die rein telefonischen Inanspruchnahmen. Selbst wenn man dies anders sehe, könne angesichts einer Heranziehung in mehr als einem Viertel aller Hintergrunddienste nicht mehr von einem Ausnahmefall gesprochen werden.
7
Der Kläger hat zuletzt noch beantragt,
        
das beklagte Universitätsklinikum zu verurteilen, an ihn 40.032,76 Euro brutto nebst Zinsen in im Einzelnen genannter, gestaffelter Höhe zu zahlen.
8
Das beklagte Universitätsklinikum hat beantragt, die Klage abzuweisen. Es hat die Ansicht vertreten, bei den Hintergrunddiensten habe es sich um Rufbereitschaft gehandelt. Dem stünden die vom Kläger genannten faktischen Einschränkungen nicht entgegen, da sie lediglich deren zwangsläufige und übliche Folge seien. Irrelevant sei, ob nicht nur im Ausnahmefall Arbeit angefallen sei. Tarifwidrig angeordnete Rufbereitschaft sei nicht anders zu vergüten als tarifkonform angeordnete Rufbereitschaft.
9
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung des Klägers das Urteil des Arbeitsgerichts teilweise abgeändert und der Zahlungsklage für den Zeitraum August 2017 bis Juni 2018 stattgegeben. Bezogen auf die Differenzvergütung für Juli 2017 hat es die Berufung zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision strebt das beklagte Universitätsklinikum die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Klageabweisung an. Mit seiner Anschlussrevision möchte der Kläger die Verurteilung des beklagten Universitätsklinikums auch hinsichtlich des Monats Juli 2017 erreichen.


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