Arbeitsrecht

Kurzarbeitergeldanspruch – rechtmäßige Anordnung der Kurzarbeit durch Arbeitgeber – Rechtsgrundlage Tarifvertrag zur Regelung der Kurzarbeit im Bereich der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände – Anwendung auch auf Beschäftigte in Kindertageseinrichtungen – Tarifgebundenheit – Tarifauslegung

Aktenzeichen  S 18 AL 1396/20

Datum:
31.8.2021
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
SG Nordhausen 18. Kammer
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:SGNORDH:2021:0831.S18AL1396.20.00
Normen:
§ 99 Abs 3 SGB 3
§ 3 Abs 2 TVG
§ 4 Abs 1 TVG
Spruchkörper:
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Leitsatz

Der Tarifvertrag zur Regelung der Kurzarbeit im Bereich der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (TV COVID) ermöglichte die Einführung von Kurzarbeit auch in Kindertageseinrichtungen. (Rn.38)

Tenor

Die Bescheide vom 12. Juni 2020 und 26. August 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21. September 2020 werden aufgehoben und die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin Kurzarbeitergeld in gesetzlicher Höhe für die Monate April und Mai 2020 zu zahlen.
Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu tragen.

Tatbestand

Im Streit steht die Gewährung von Kurzarbeitergeld (Kug) für sechs Arbeitnehmer.
Die klagende Gemeinde betreibt einen kommunalen Kindergarten. Dieser war seit dem 17. März 2020 pandemiebedingt geschlossen, wobei bis zum 17. April 2020 Dokumentationsarbeiten, Arbeiten am Konzept etc. und der Abbau von Überstunden und Urlaubsansprüchen zur Durchführung kamen.
Die Klägerin ist Mitglied des Kommunalen Arbeitgeberverbands Thüringen (KAV) eingetragener Verein (e.V.), der wiederum Mitglied der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) ist. Auf die Arbeitsverhältnisse mit der Klägerin findet der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD)/VKA und die diesen ergänzenden und erweiternden Tarifverträge durch arbeitsvertragliche Bezugnahme Anwendung.
Der VKA schloss bereits am 30. März 2020 mit der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft, diese für weitere Gewerkschaften handelnd, und der dbb beamtenbund und tarifunion einen Tarifvertrag zur Regelung der Kurzarbeit im Bereich der VKA (TV COVID). Dieser gestattet es dem Arbeitgeber, bei Vorliegen der Voraussetzungen des Dritten Buches Sozialgesetzbuch – Arbeitsförderung – (SGB III) und der Verordnung über Erleichterungen der Kurzarbeit (Kurzarbeitergeldverordnung – KugV) Kurzarbeit anzuordnen.
Am 16. April 2020 vereinbarten die Klägerin und ihr Personalrat die Einführung von Kurzarbeit für den Betriebsteil Kommunaler Kindergarten im Ortsteil B ab dem 20. April 2020. Gleichzeitig erfolgte die Ankündigung gegenüber den Betroffenen.
Am 20. April 2020 zeigte die Klägerin den Arbeitsausfall bei der Beklagten an. Dabei gab sie insbesondere an: Die Arbeitszeit solle auf wöchentlich null Stunden reduziert werden. Die Anwendbarkeit des TV COVID für den kommunalen Kindergarten habe nicht abschließend geklärt werden können. Alle sechs Arbeitnehmerinnen des Betriebs seien betroffen. Mit Bescheid vom 21. April 2020 teilte die Beklagte auf Grundlage des § 99 Absatz (Abs.) 3 SGB III mit, dass nach den vorgetragenen und glaubhaft gemachten Tatsachen ein erheblicher Arbeitsausfall vorliege und die betrieblichen Voraussetzungen für die Gewährung von Kug erfüllt seien. Dieses werde deshalb den von dem Entgeltausfall betroffenen Arbeitnehmern des Kindergartens B bewilligt, sofern diese die persönlichen Anspruchsvoraussetzungen erfüllten.
Ab 4. Mai 2020 war der Kindergarten im Rahmen der Notbetreuung geöffnet, sodass nur noch ein teilweiser Arbeitsausfall vorlag.
Am 8. Juni 2020 stellte die Klägerin einen Leistungsantrag für den Monat April 2020 in Höhe von 2.120,32 €. Mit Bescheid vom 12. Juni 2020 lehnte die Beklagte den Leistungsantrag ab. Zur Begründung führte sie aus: Die Einführung von Kurzarbeit sei aufgrund fehlender arbeitsrechtlicher Voraussetzungen nicht möglich. Der TV COVID sei auf Beschäftigte im öffentlichen Dienst nicht anwendbar, die unter den TVöD Sozial- und Erziehungsdienst (SuE) fielen, nach dem Erzieher bezahlt würden und der das Arbeitsvertragsrecht regele. In diesen Fällen sei der Arbeitgeber trotz Arbeitsausfalls zur Zahlung der vollständigen Arbeitsentgelte verpflichtet.
Hiergegen erhob die Klägerin am 25. Juni 2020 Widerspruch und führte zur Begründung insbesondere aus: Der TVöD SuE sei kein eigener Tarifvertrag. Erzieher würden nach der Tabelle TVöD VKA Anlage C (SuE) bezahlt. Die von der Kurzarbeit ausgenommenen Personen und Bereiche seien in § 1 Abs. 2 bis 4 TV COVID genannt. Die Erläuterungen in der Niederschriftserklärung zu § 1 TV COVID seien dagegen nicht Bestandteil des Tarifvertrags, stellten tarifvertraglich keine verbindliche Regelung dar und entfalteten keine Sperrwirkung.
Am 11. August 2020 stellte die Klägerin einen Leistungsantrag für den Monat Mai 2020 in Höhe von 2.310,12 €. Diesen lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 26. August mit derselben Begründung ab. Hiergegen erhob die Klägerin am 1. September 2020 Widerspruch.
Mit Widerspruchsbescheid vom 21. September 2020 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück und wiederholte ihr bisheriges Vorbringen.
Hiergegen hat die Klägerin am 20. Oktober 2020 Klage erhoben. Zur Begründung trägt sie unter Wiederholung ihres bisherigen Vortrags insbesondere ergänzend vor: In der Niederschrift sei von der kommunalen Kernverwaltung die Rede, sodass die Tätigkeit der Erzieher in den Kindergärten ohnehin nicht gemeint sein könne. Womöglich habe man an den allgemeinen sozialen Dienst gedacht, der zur Kernverwaltung zähle und im Frühjahr 2020 besonders viele Aufgaben und keinen Arbeitsausfall gehabt habe. Die Arbeitsbedingungen der Erzieher richteten sich nach dem TVöD Besonderer Teil Verwaltung. Durch die Nutzung der Worte „Zielrichtung“ und „grundsätzlich“ sei ersichtlich, dass auch nicht apodiktisch ein konkretes Verbot der Anwendung des TV COVID auf die genannten Bereiche statuiert werden sollte. Die Zentrale der Beklagten habe mit Schreiben vom 20. April 2020 im Übrigen die Möglichkeit von Kurzarbeit für Kindergärten bestätigt.
Die Klägerin beantragt,
die Bescheide vom 12. Juni 2020 und 26. August 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21. September 2020 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr Kug in gesetzlicher Höhe für die Monate April und Mai 2020 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie verweist auf ihren bisherigen Vortrag.
Wegen des weiteren Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte und den Ausdruck der elektronischen Akte der Beklagten ergänzend verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist begründet.
A. Die Klage ist zulässig.
I. Die Klägerin macht als Prozessstandschafterin die Ansprüche ihrer Arbeitnehmer auf Kug geltend, ohne dass deren Beiladung notwendig wäre (vergleiche Bundessozialgericht , Urteil vom 14. September 2010, B 7 AL 29/09 R, juris, mit weiteren Nachweisen ).
Ferner bedurfte es keiner Beiladung des bei der Klägerin gebildeten Personalrats. Denn die notwendige Beiladung der Arbeitnehmervertretung (§ 75 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz ) ist Ausfluss des Mitbestimmungsrechts (BSG, Urteil vom 29. Oktober 1997, 7 RAr 48/96, SozR 3-4100 § 64 Nummer 3). Ein solches besteht hinsichtlich der Einführung von Kurzarbeit anders als im Bereich des Betriebsverfassungsgesetzes (vgl. dort § 87 Abs. 1 Nr. 3) und einzelner Personalvertretungsgesetze nach dem Thüringer Personalvertretungsgesetz nicht.
II. Streitgegenständlich sind die Bescheide vom 12. Juni und 26. August 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21. September 2020. In zulässiger Weise wehrt sich die Klägerin gegen die dort verfügten Ablehnungen mit einer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1, 4 SGG) und begehrt Leistungen dem Grunde nach (§ 130 Abs. 1 Satz 1 SGG, hierzu für Kug BSG, Urteil vom 21. Juni 2018, B 11 AL 4/17 R, juris).
B. Die Klage ist begründet. Die angegriffenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen die betroffenen Arbeitnehmer der Klägerin, deren Prozessstandschafterin sie ist (hierzu oben A.I.), in eigenen Rechten. Sie haben Anspruch auf Kug. Denn nach § 95 Satz 1 SGB III haben Arbeitnehmer Anspruch auf Kug, wenn ein erheblicher Arbeitsausfall vorliegt und die betrieblichen Voraussetzungen erfüllt sind (Nr. 1 Halbsatz 1 und Nr. 2, dazu I.), die persönlichen Voraussetzungen erfüllt sind und der Arbeitsausfall der AfA angezeigt worden ist (Nr. 3 und 4, dazu II.) sowie der Arbeitsausfall für die Arbeitnehmer mit einem Entgeltausfall verbunden ist (Nr. 1 Halbs. 2, dazu III.).
I. Das Vorliegen eines erheblichen Arbeitsausfalls und der betrieblichen Voraussetzungen steht aufgrund des Anerkennungsbescheids vom 21. April 2020 fest (dazu 1.). Der nach § 77 SGG bindend gewordene Anerkennungsbescheid ist auch nach wie vor maßgeblich (dazu 2.).
1. Rechtsgrundlage des Anerkennungsbescheids ist § 99 Abs. 3 SGB III. Danach hat die Agentur für Arbeit (AfA) dem Anzeigenden (Arbeitgeber oder Betriebs- bzw. Dienststellenvertretung) unverzüglich einen schriftlichen Bescheid (Anerkennungsbescheid) darüber zu erteilen, ob aufgrund der vorgetragenen und glaubhaft gemachten Tatsachen ein erheblicher Arbeitsausfall vorliegt und die betrieblichen Voraussetzungen erfüllt sind. Dieser Anerkennungsbescheid enthält neben der gesetzlich ausdrücklich zugelassenen Elementenfeststellung außerdem formal die „Zusicherung“, dass bei Erfüllung der persönlichen Voraussetzungen (§ 98 SGB III), dem Vorliegen eines Entgeltausfalls (§ 95 Satz 1 Nr. 1 Halbs. 2 SGB III) und nach ordnungsgemäßer Antragstellung (§§ 323, 325 SGB III) Kug für die Dauer des Arbeitsausfalls bzw. die Höchstdauer (§ 104 SGB III) gezahlt wird. Dem Anerkennungsverfahren schließt sich dann erst das Leistungsverfahren an, in dem in der zweiten Stufe jeweils für Zeiträume, die durch den Leistungsantrag (§ 323 Abs. 2 SGB III) bestimmt werden, das den Arbeitnehmern zustehende Kug bewilligt wird (§§ 104 fortfolgende SGB III; vgl. zum Ganzen BSG, Urteil vom 14.September 2010, B 7 AL 21/09 R, SozR 4-4300 § 173 Nr. 1).
Eine gerichtliche Überprüfung der mit Bescheid vom 21. April 2020 anerkannten Voraussetzungen des erheblichen Arbeitsausfalls und der betrieblichen Voraussetzungen (zum Entgeltausfall unten unter III.1.) ist ausgeschlossen. Als verselbständigter Teil einer Entscheidung, durch die Leistungen bewilligt werden, wird die Anerkennung wie ein Leistungsbescheid gemäß § 77 SGG bindend mit der Folge, dass sich die Beklagte grundsätzlich an die im Anerkennungsbescheid getroffenen Regelungen halten muss; sie kann die Anerkennung nur ändern, soweit dies gesetzlich vorgesehen ist. Die Beklagte hat den Anerkennungsbescheid aber weder zurückgenommen noch aufgehoben, was erforderlich gewesen wäre (BSG, Urteil vom 14.September 2010, B 7 AL 21/09 R, SozR 4-4300 § 173 Nr. 1).
2. Der Bescheid vom 21. April 2020 ist auch nach wie vor maßgeblich. Zwar wird angenommen, dass Anerkennungsbescheide nach § 99 Abs. 3 SGB III unter der konkludent auflösenden Bedingung stünden, dass sich nachträglich die Unrichtigkeit der glaubhaft gemachten Tatsachen in einem Umfang herausstelle, der die Voraussetzungen des § 96 und/oder des § 97 SGB III entfallen ließe (Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 17. September 2020, L 20 AL 109/20 B ER, juris, Randnummer 34; Estelmann in Eicher/Schlegel, SGB III, Stand September 2017, § 99 Rn. 92; offen gelassen von BSG, Urteil vom 14. September 2010, B 7 AL 21/09 R, SozR 4-4300 § 173 Nr. 1, Rn. 19). Eine Unrichtigkeit der von der Beklagten zugrunde gelegten Tatsachen ist jedoch nicht zu besorgen.
II. Die in § 98 SGB III geregelten persönlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung von Kug sind erfüllt.
Ferner ist der Arbeitsausfall auch nach Maßgabe des § 99 Abs. 1 SGB III ordnungsgemäß angezeigt worden. Die Klägerin hat sich mit Formular vom 20. April 2020 am selben Tag an die nach § 99 Abs. 1 Satz 1 SGB III zuständige AfA Halle gewandt. Im Formular hat der Personalrat als Arbeitnehmervertretung (vgl. § 99 Abs. 1 Satz 3 SGB III) zugestimmt.
III. Der aufgrund des Anerkennungsbescheids vom 21. April 2020 feststehende Arbeitsausfall (dazu oben I.) war für die betroffenen Arbeitnehmer auch mit einem Entgeltsausfall verbunden. Ob diese Voraussetzung trotz des Anerkennungsbescheids zu prüfen ist, kann offen bleiben (dazu 1.), denn sie liegt vor (dazu 2.).
1. Das Vorliegen eines Entgeltausfalls könnte bereits aufgrund des Anerkennungsbescheids vom 21. April 2021 feststehen. Zwar kommt es im Rahmen des Anzeigeverfahrens noch nicht auf den Entgeltausfall im Sinne des § 95 Satz 1 Nr. 1 SGB III an, weil der Anerkennungsbescheid nicht an den Entgeltausfall anknüpft (vgl. Müller-Grune in jurisPK-SGB III, 2. Auflage 2019, § 99 Rn. 28). Allerdings entfaltet § 99 Abs. 3 SGB III keine Sperrwirkung, die über die dort benannten Tatbestandsmerkmale hinausgehende Verfügungen mit Feststellungswirkung ausschließen würden (BSG, Urteil vom 14. September 2010, B 7 AL 29/09 R, juris). Insoweit könnte hier auch der Entgeltausfall bindend feststehen. Denn die Beklagte hat im Anerkennungsbescheid formuliert: „Kug wird deshalb den von dem Entgeltausfall betroffenen Arbeitnehmerinnen … Ihrer Betriebsabteilung Kindergarten B, sofern diese die persönlichen Anspruchsvoraussetzungen erfüllen (§98 SGB III), … bewilligt.“ Das Vorliegen des Entgeltausfalls wird damit nicht mehr zur Bedingung gemacht, sondern als bereits feststehend betrachtet.
Die Auslegung des Bescheids kann jedoch hier dahinstehen, da ein Entgeltausfall jedenfalls vorliegt:
2. Der Entgeltausfall setzt voraus, dass ein Arbeitnehmer gegen seinen Arbeitgeber keinen arbeitsrechtlichen Entgeltanspruch geltend machen kann (Wehrhahn in Eicher/Schlegel, SGB III, Stand August 2018, § 95 Rn. 39). Angesichts der Regelung zum Annahmeverzug in § 615 Bürgerliches Gesetzbuch kommt es damit darauf an, ob Kurzarbeit rechtmäßig angeordnet wurde (nach BSG, Urteil vom 21. Juli 2009, B 7 AL 3/08 R, BSGE 104, 83 Rn. 11, ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal). Hier liegt eine Rechtsgrundlage für die Anordnung von Kurzarbeit in Form des § 2 Abs. 1 Satz 1 TV COVID vor. Danach kann bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen gemäß SGB III und der KugV durch den Arbeitgeber Kurzarbeit angeordnet werden. Dieser Tarifvertrag ist auch auf die mit der Klägerin im Bereich Kindergarten bestehenden Arbeitsverhältnisse anzuwenden (dazu a.) und die aufgestellten Voraussetzungen sind erfüllt (dazu b.).
a. Der TV COVID ist auf die mit der Klägerin im Bereich Kindergarten bestehenden Arbeitsverhältnisse anzuwenden.
aa. Die Rechtsnormen gelten aufgrund arbeitsvertraglicher Bezugnahme. Sie würden nach § 3 Abs. 2 in Verbindung mit § 4 Abs. 1 Tarifvertragsgesetz (TVG) als Betriebsnorm jedoch unabhängig von der Organisation der betroffenen Arbeitnehmer wegen der Bindung der Klägerin (§ 3 Abs. 1 TVG) als Mitglied des durch den VKA vertretenen KAV auch unmittelbar und zwingend gelten (Henssler in Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht Kommentar, 9. Auflage 2020, § 1 TVG Rn. 128; vgl. auch Bundesarbeitsgericht , Urteil vom 1. August 2001, 4 AZR 388/99, BAGE 98, 303: Einordnung als Betriebsnorm wird „für möglich“ gehalten).
bb. Der TV COVID ist auch nicht unwirksam. Letzteres ist nach der Rechtsprechung des BAG der Fall, wenn Tarifnormen den Arbeitgeber ermächtigen, in einem von ihm bestimmten Zeitpunkt und einem von ihm bestimmten Umfang den Beschäftigungs- und Entgeltanspruch des Arbeitnehmers auf unbestimmte Zeit zu verkürzen oder sogar ganz ausschließen. Dies wird mit einer objektiven Umgehung von zwingenden Vorschriften des Kündigungsrechts begründet (BAG, Urteil vom 18. Oktober 1994, 1 AZR 503/93, juris). Hier sind durch den TV COVID jedoch Begrenzungen hinsichtlich des Anlasses für die Einführung von Kurzarbeit, hinsichtlich eventueller Ankündigungsfristen, ihrer Dauer, ihres Umfangs, auch hinsichtlich der Frage, ob die Gewährung von Kug durch die Arbeitsverwaltung gesichert sein muss, gegeben.
cc. Der TV COVID findet auch auf die Arbeitsverhältnisse der Arbeitnehmer in der Kindertageseinrichtung der Klägerin Anwendung. Sie werden vom Geltungsbereich des § 1 TV COVID erfasst. Denn die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags folgt nach ständiger Rechtsprechung des BAG den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Auszugehen ist zunächst vom Tarifwortlaut. Zu erforschen ist der maßgebliche Sinn der Erklärung, ohne am Buchstaben zu haften. Dabei sind der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und damit der von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnorm mit zu berücksichtigen, soweit sie in den tariflichen Normen ihren Niederschlag gefunden haben. Auch auf den tariflichen Gesamtzusammenhang ist abzustellen. Verbleiben noch Zweifel, können weitere Kriterien berücksichtigt werden. Im Zweifel ist die Tarifauslegung zu wählen, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Lösung führt (BAG, Urteil vom 12. Dezember 2018, 4 AZR 147/17, BAGE 164, 326 m.w.N.).
Der Tarifwortlaut des § 1 TV COVID erfasst unter Benennung von hier nicht relevanten Einschränkungen Beschäftigte eines Arbeitgebers, der Mitglied eines Mitgliedverbandes des VKA ist, und von einem bei diesem geltenden Tarifvertrag erfasst ist. Diese Voraussetzungen liegen bei der Klägerin vor (vgl. auch oben aa.). Dem Wortlaut ist nicht zu entnehmen, dass Beschäftigte in Kindertageseinrichtungen ausgeschlossen sein sollten.
Etwas anderes folgt auch nicht aus dem Sinn und Zweck der Regelung. In der Präambel des TV COVID ist niedergelegt, dass derselbe die Möglichkeit geben sollte, im Anschluss an die Corona-Krise möglichst schnell wieder auf den dann erforderlichen Personalbedarf reagieren zu können. Die finanzielle Existenz der Beschäftigten in der Krise sollte gesichert werden und der Schaden von den Arbeitgebern des öffentlichen Diensts abgehalten werden. Dieses Telos gibt Überlegungen zu Einschränkungen beim persönlichen Anwendungsbereich allenfalls insoweit Raum, als Bereiche des öffentlichen Diensts denkbar sind, die während der Pandemie keinen Arbeitsausfall besorgen mussten. Wie die behördlich verfügten (Teil-)Schließungen von Kindertageseinrichtungen gezeigt haben, ist in diesem Bereich aber ein Arbeitsausfall zu beobachten gewesen. Der Sinn und Zweck des TV COVID umfasst damit auch die Abfederung der durch die Schließungen veranlassten finanziellen Lasten im Kinderbetreuungsbereich, zumal dieselben in Form von Personalkosten auch nicht durch den Kindergartenpakt des Freistaats Thüringen kompensiert wurden.
Die Niederschriftserklärung zu § 1 TV COVID steht dem nicht entgegen. Dort wird ausgeführt, dass Zielrichtung des TV COVID „grundsätzlich nicht die kommunale Kernverwaltung (Personal, Bauverwaltung, Sozial- und Erziehungsdienst, sofern sie kommunal getragen werden), Ordnungs- und Hoheitsverwaltung“ sei. Zwar erstreckt sich der Sozial- und Erziehungsdienst im Sprachgebrauch der Tarifpartner auch auf solche Dienststellen, also Kindertageseinrichtungen, wie dem Anwendungsbereich des TVöD SuE zu entnehmen ist. Erfasst ist aber gerade auch der Soziale Dienst, bei dem – anders als im Erziehungsdienst – jedoch kein pandemiebedingter Ausfall typisch war. Ob die in der Niederschriftserklärung formulierte Einschränkung dann nur den Sozialen Dienst erfassen sollte, wofür der Zweck des TV COVID spräche, bleibt freilich ungewiss, weil im TVöD durchaus auch Regelungen nur für den Sozialdienst und auch nur für den Erziehungsdienst getroffen werden. Dies und die Reichweite des nicht legaldefinierten Begriffs der kommunalen Kernverwaltung können aber hier offen bleiben. Zum einen gilt die Einschränkung in der Niederschriftserklärung nur „grundsätzlich“, lässt also Ausnahmen zu. Solche lägen dann für (Teil-)Schließungen von Kindertageseinrichtungen auf der Hand. Zum anderen ist die Niederschrift, die im Unterschied zu Protokollnotizen nicht Gegenstand des Tarifvertrags ist, allenfalls eine Auslegungshilfe (BAG, Urteil vom 27. August 1986, 8 AZR 397/83, BAGE 52, 398; BAG, Urteil vom 3. Dezember 1986, 4 AZR 19/86, AP TVAL II § 51 Nr. 6) und setzt damit voraus, dass sie im Wortlaut des Tarifvertrags Niederschlag gefunden hat (vgl. BAG, Urteil vom 10. April 2013, 5 AZR 97/12, BAGE 145, 1 m.w.N.). Das ist vorliegend – wie oben gezeigt – nicht der Fall (ebenso ausdrücklich für den TV COVID Spree/Stier, ZTR 2020, 336).
b. Die Voraussetzungen zur Anwendung des TV COVID sind auch erfüllt. Wie von § 2 Abs. 1 Satz 1 TV COVID gefordert, liegen die gesetzlichen Voraussetzungen für die Einführung von Kurzarbeit vor (hierzu oben I. bis III.1.a.). Auch die Maßgaben der Ankündigungsfrist von drei Tagen im April 2020 (§ 2 Abs. 3 Satz 1 TV COVID in Verbindung mit der Protokollerklärung) waren ab dem 20. April 2020 gegeben.
C. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits.
Die Berufung ist kraft Gesetzes zulässig, da die Restriktionen des § 144 Abs. 1 SGG nicht greifen.


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