Aktenzeichen II ZR 62/06
Leitsatz
Die Erhöhung der Wertgrenze für die Anwaltsgebühren auf 100 Mio. € nach § 22 Abs. 2 Satz 2 RVG setzt voraus, dass die dort als “in derselben Angelegenheit” für die mehreren Auftraggeber bezeichnete anwaltliche Tätigkeit verschiedene Gegenstände betrifft .
Verfahrensgang
vorgehend OLG Frankfurt, 18. April 2008, Az: 10 U 265/04, Urteilvorgehend BGH, 9. Juli 2007, Az: II ZR 62/06, Urteilvorgehend OLG Frankfurt, 10. Februar 2006, Az: 10 U 265/04, Urteilvorgehend LG Frankfurt, 26. Oktober 2004, Az: 2/26 O 293/03, Urteil
Tenor
Der Gegenstandswert des Revisionsverfahrens für die Vergütung der Prozessbevollmächtigten der Beklagten wird unter Zurückweisung ihres weitergehenden Antrags auf 30.000.000 € festgesetzt.
Gründe
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I. Die Parteien haben vor dem Senat um einen Anspruch auf Rückzahlung eines Werklohns in Höhe von 164.638.234,57 € gestritten, der nach Auffassung des klagenden Insolvenzverwalters nicht geschuldet war, weil der zugrunde liegende Vorgang eine verdeckte Sacheinlage darstellte. Das Verfahren ist mittlerweile rechtskräftig abgeschlossen (BGHZ 173, 145; BGH, Sen.Urt. v. 11. Mai 2009 – II ZR 137/08, ZIP 2009, 1155).
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Die Prozessbevollmächtigten der vier Beklagten haben beantragt, den Gegenstandswert für die anwaltliche Tätigkeit auf 100 Mio. € festzusetzen.
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II. Funktionell zuständig für die Entscheidung ist der Senat. Zwar sieht § 33 Abs. 8 RVG vor, dass über den Antrag auf Wertfestsetzung das Gericht durch eines seiner Mitglieder als Einzelrichter entscheidet. Das gilt aber nicht für den Bundesgerichtshof, bei dem Entscheidungen durch den Einzelrichter nicht vorgesehen sind (BGH, Beschl. v. 13. Januar 2005 – V ZR 218/04, NJW-RR 2005, 584 zu § 66 Abs. 6 GKG).
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III. Der Antrag ist zulässig.
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Nach § 33 Abs. 1 Alt. 1 RVG setzt das Gericht des Rechtszugs den Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit fest, wenn sich die Gebühren in einem gerichtlichen Verfahren nicht nach dem für die Gerichtsgebühren maßgeblichen Wert berechnen. Diese Voraussetzung ist hier erfüllt. Wegen § 22 Abs. 2 RVG ist die Festsetzung des Streitwerts für die Gerichtsgebühren nach § 39 GKG nicht zwingend auch für die Höhe der Anwaltsgebühren maßgeblich. Dabei genügt die Behauptung, die Wertgrenze sei zugunsten des Antragstellers erhöht.
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Die Prozessbevollmächtigten der Beklagten sind nach § 33 Abs. 2 Satz 2 RVG aus eigenem Recht antragsbefugt.
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IV. Der Antrag ist nur in Höhe von 30 Mio. € begründet, im Übrigen ist er zurückzuweisen.
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Eine Erhöhung der Wertgrenze des § 22 Abs. 2 Satz 1 RVG von 30 Mio. € auf 100 Mio. € nach § 22 Abs. 2 Satz 2 RVG kommt nicht in Betracht, weil die Tätigkeit der Prozessbevollmächtigten der Beklagten denselben Gegenstand betroffen hat und damit § 22 Abs. 2 Satz 2 RVG keine Anwendung findet.
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1. Der Gegenstand der anwaltlichen Tätigkeit ist dann derselbe, wenn der Rechtsanwalt für mehrere Auftraggeber wegen desselben Rechts oder Rechtsverhältnisses tätig wird. Ob dasselbe Recht oder Rechtsverhältnis betroffen ist, bestimmt sich auch dann nach dem klägerischen Begehren, wenn der Rechtsanwalt für die Beklagten tätig wird (BGH, Beschl. v. 5. Oktober 2005 – VIII ZB 52/04, AGS 2006, 69). Der Kläger hat sämtliche Beklagten als Gesamtschuldner auf Rückzahlung eines einheitlichen Werklohns in Anspruch genommen. Damit liegt ein einheitlicher Gegenstand vor.
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2. Die Erhöhung der Wertgrenze von 30 Mio. € auf 100 Mio. € nach § 22 Abs. 2 Satz 2 RVG setzt voraus, dass in derselben Angelegenheit mehrere Gegenstände behandelt werden (AnwKommRVG/N. Schneider 5. Aufl. § 22 Rdn. 32; ders. AGS 2009, 455; ders. AGS 2007, 522; Mayer/Kroiß, RVG 4. Aufl. § 22 Rdn. 17; a.A. OLG Dresden, AGS 2007, 521, 522; OLG Köln, AGS 2009, 454; Maier-Reimer, NJW 2009, 3550 ff.; Bischof/Jungbauer/Bräuer/Curkovic/Mathias/Uher, RVG 3. Aufl. § 22 Rdn. 61 f., dieses Ergebnis aber – bis zur 2. Aufl. – zutreffend als “unsinnig” kritisierend; Hartmann, Kostengesetze 39. Aufl. § 22 RVG Rdn. 6; Gerold/ Schmidt/von Eicken/Madert, RVG 18. Aufl. § 22 Rdn. 8). Das ergibt sich zwar nicht aus dem Wortlaut des § 22 Abs. 2 Satz 2 RVG, folgt aber aus der Systematik des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes, die bei Anwendung der Gegenmeinung Brüche sowohl im Verhältnis zu § 7 Abs. 2 RVG als auch zu Nr. 1008 RVG-VV erlitte.
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Der Ansatz eines Gegenstandswerts von 100 Mio. € nach § 22 Abs. 2 Satz 2 RVG hätte in einer Angelegenheit mit identischem Gegenstand zur Folge, dass der Prozessbevollmächtigte mehrerer Auftraggeber insgesamt mehr fordern könnte, als ihm alle Auftraggeber nach § 7 Abs. 2 RVG je einzeln schulden (näher AnwKommRVG/N. Schneider 5. Aufl. § 22 Rdn. 32; zu dieser Problematik auch Maier-Reimer, NJW 2009, 3550, 3551). Bei einem Gegenstandswert von 100 Millionen Euro und Identität des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit ergäbe sich bei Ansatz von 2,3 Gebühren nach Nr. 3208 RVG-VV, 1,5 Gebühren nach Nr. 3210 RVG-VV und – bei vier Auftraggebern – 0,9 Gebühren nach Nr. 1008 RVG-VV im Revisionsverfahren ein Gesamtgebührenanspruch in Höhe von 1.417.031,20 €. Nach § 7 Abs. 2 RVG ist aber der Anspruch gegen jeden einzelnen der Auftraggeber auf 347.684,80 € (3,8 Gebühren aus einem Gegenstandswert von 30 Mio. €) beschränkt. Der Prozessbevollmächtigte könnte deshalb von allen vier Auftraggebern zusammen lediglich (4 x 347.684,80 =) 1.390.739,20 € verlangen. Erhöhte man bei identischem Gegenstand die Wertgrenze von 30 Mio. € auf 100 Mio. €, verbliebe eine Differenz von 26.292,00 €, die angefallen, aber von keinem der Auftraggeber zu erstatten wäre.
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Zugleich würde der Ansatz eines Gegenstandswerts von 100 Mio. € zu einem Wertungswiderspruch bei der Anwendung von Nr. 1008 RVG-VV führen. Die Folge wäre nämlich, dass der Rechtsanwalt in einer Angelegenheit bei identischem Gegenstand deutlich mehr an Gebühren erhielte als in einer Angelegenheit mit verschiedenen Gegenständen, bei denen Nr. 1008 RVG-VV nicht zur Anwendung kommt. Damit würde eine typischerweise weniger aufwändige Tätigkeit des Rechtsanwalts höher entgolten als eine typischerweise mit größerem Aufwand verbundene.
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Dieser – letztlich durch eine unsorgfältige Fassung des § 22 Abs. 2 Satz 2 RVG hervorgerufene (vgl. dazu Bischof, RVG 2. Aufl. § 22 Rdn. 61) – Wertungswiderspruch lässt sich nicht dadurch auflösen, dass man den nach § 7 Abs. 2 RVG ermittelten Gesamtbetrag der von allen Auftraggebern je einzeln geschuldeten Gebühren als “selbständige Grenze” für die insgesamt geschuldeten Gebühren interpretiert (so aber Maier-Reimer, NJW 2009, 3550, 3552). Denn auch dann würde der Prozessbevollmächtigte – wegen der Gebührenerhöhungen gemäß Nr. 1008 RVG-VV – deutlich mehr verdienen als ein Rechtsanwalt, der für vier Auftraggeber in vier verschiedenen Gegenständen tätig wäre. Das erscheint nicht sachgerecht.
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V. Die Entscheidung ergeht gebührenfrei, Kosten werden nicht erstattet, § 33 Abs. 9 RVG.
Goette
Strohn
Reichart
Drescher
Bender