Arbeitsrecht

Tarifauslegung: Begriff des Beschäftigungsjahres

Aktenzeichen  4 Sa 365/16

Datum:
15.2.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
AuR – 2017, 361
Gerichtsart:
LArbG
Gerichtsort:
Nürnberg
Rechtsweg:
Arbeitsgerichtsbarkeit
Normen:
Manteltarifvertrag vom 17.12.2014 für die Arbeitnehmer/innen und Auszubildenden in der Systemgastronomie (MTV Systemgastronomie) § 11 Abs. 1, Abs. 4
TVG § 1, § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1

 

Leitsatz

Die Definition des ersten Beschäftigungsjahres des Mitarbeiters in § 11 Abs. 4 Satz 2 MTV Systemgastronomie bezieht sich hinsichtlich des erstmaligen Anspruchs alleine auf die in den Absätzen 1 und 2 des § 11 MTV geregelten Anspruchsvoraussetzungen, auf den Zeitpunkt des Eintritts der Arbeitgeberin in den Arbeitgeberverband ist nicht abzustellen. (Rn. 33 – 41)

Verfahrensgang

16 Ca 1626/16 2016-07-07 Endurteil ARBGNUERNBERG ArbG Nürnberg

Tenor

1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Endurteil des Arbeitsgerichts Nürnberg vom 07.07.2016, Az.: 16 Ca 1626/16, abgeändert.
2. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin EUR 466,– (in Worten: Euro vierhundertsechsundsechzig) brutto zu bezahlen und Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 05.12.2015.
3. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
4. Die Revision wird zugelassen.

Gründe

I.
Die Berufung ist zulässig.
Sie ist statthaft, § 64 Abs. 1, Abs. 2a ArbGG, und auch in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet worden, §§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG, 519, 520 ZPO.
II.
Die Berufung ist sachlich begründet.
Sie führt zur Abänderung des Ersturteils und antragsgemäßen Verurteilung der Beklagten, denn der Klägerin steht für das Jahr 2015 eine Jahressonderzuwendung gemäß § 11 Abs. 1, Abs. 4 Satz 1 MTV in Höhe von EUR 466,– brutto zuzüglich von Zinsen ab dem 05.12.2015 zu. Entgegen der Rechtsansicht des Erstgerichts befand sich die Klägerin nämlich im Jahr 2015 nicht im zweiten, sondern bereits im dritten Beschäftigungsjahr im Sinne des § 11 Abs. 4 Satz 1 und 2 MTV.
1. Der Klägerin steht für das Jahr 2015 eine Jahressonderzuwendung gemäß § 11 Abs. 1 MTV zu, denn unstreitig sind die dortigen Anspruchsvoraussetzungen erfüllt und findet die tarifvertragliche Regelung infolge beidseitiger Tarifgebundenheit Anwendung, §§ 4 Abs. 1, 3 Abs. 1 TVG.
Bei der Bemessung der Jahressonderzuwendung entsprechend der Staffelung in § 11 Abs. 4 Satz 1 MTV war zu berücksichtigen, dass aufgrund der Regelung in § 11 Abs. 4 Satz 2 MTV als erstes Beschäftigungsjahr bei der Klägerin das Jahr 2013 galt und es sich folglich bei dem Jahr 2015 um das dritte Beschäftigungsjahr handelt, für das ein Betrag in Höhe von EUR 466,– brutto geschuldet ist.
Nach § 11 Abs. 4 Satz 2 MTV gilt als erstes Beschäftigungsjahr im Sinne dieser Regelung das Beschäftigungsjahr, in dem der/die Beschäftigte erstmalig einen Anspruch auf Zahlung der Jahressonderzuwendung hat.
Die Auslegung dieser Tarifnorm ergibt nicht, dass neben den in § 11 Abs. 1 und 2 MTV geregelten Voraussetzungen für die Frage der Anspruchsentstehung und die davon abhängige Definition des ersten Beschäftigungsjahres des Mitarbeiters noch zusätzliche Faktoren rechtlich relevant sein sollen, die die Anwendbarkeit der tariflichen Bestimmung auf das konkrete Arbeitsverhältnis betreffen.
Sollte für die Frage der Anspruchsentstehung auch darauf abzustellen sein, wann ein Beitritt zu den Tarifvertragsparteien erfolgt ist oder eine Allgemeinverbindlicherklärung, hätten dies die Tarifvertragsparteien in den Wortlaut des § 11 Abs. 4 Satz 2 MTV einfließen lassen müssen.
a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (vgl. BAG v. 11.11.2015 – 10 AZR 719/14 – BAGE 153, 215; v. 22.04.2010 – 6 AZR 962/08 – NZA 2011, 1293) folgt die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln.
Danach ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften. Über den reinen Wortlaut hinaus ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und der damit von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnorm mit zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Regelungen und ihrem systematischen Zusammenhang Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist stets auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert und nur so Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden können. Lässt dies zweifelsfreie Auslegungsergebnisse nicht zu, dann können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an eine Reihenfolge weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrags, ggf. auch die praktische Tarifübung ergänzend hinzuziehen. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse ist zu berücksichtigen. Im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt.
Bei der Wortauslegung ist, wenn die Tarifvertragsparteien einen Begriff nicht eigenständig definieren, erläutern oder einen feststehenden Rechtsbegriff verwenden, vom allgemeinen Sprachgebrauch auszugehen. Wird ein Fachbegriff verwendet, der im allgemeinen oder in den fachlichen Kreisen eine bestimmte Bedeutung hat, ist davon auszugehen, dass die Tarifvertragsparteien mit diesem Begriff den allgemein üblichen Sinn verbinden wollten, wenn nicht sichere Anhaltspunkte für eine abweichende Auslegung gegeben sind, die aus dem Tarifwortlaut oder anderen aus dem Tarifvertrag selbst ersichtlichen Gründen erkennbar sein müssen.
b) Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze hält die Auslegung des § 11 Abs. 4 Satz 2 MTV durch das Arbeitsgericht Nürnberg einer rechtlichen Überprüfung nicht stand.
Zwar enthält der Wortlaut der in § 11 Abs. 4 Satz 2 MTV erfolgten Definition des „ersten Beschäftigungsjahres“ keine Klarstellung dahingehend, dass damit das Beschäftigungsjahr des Mitarbeiters gemeint sein soll, in dem dieser erstmalig einen Anspruch auf Zahlung der Jahressonderzuwendung entsprechend der Regelungen in den vorstehenden Absätzen erworben hat.
Aber der Wortlaut des § 11 Abs. 4 Satz 2 MTV knüpft nicht nur an der in § 11 Abs. 4 Satz 1 MTV geregelten Staffelung der Jahressonderzuwendung entsprechend der Zahl der Beschäftigungsjahre des Mitarbeiters an, sondern greift sprachlich auch die Entstehung des Anspruchs auf, die in den vorstehenden Absätzen 1 und 2 des § 11 MTV näher geregelt worden ist. Insoweit trägt § 11 Abs. 4 Satz 2 MTV dem Umstand Rechnung, dass § 11 Abs. 1 Satz 2 MTV für die Anspruchsentstehung die Erfüllung einer Wartefrist von 12 Monaten zum Stichtag 1. Dezember verlangt.
Diese Interpretation ergibt sich auch aus dem Gesamtzusammenhang der tariflichen Regelung in § 11 MTV und der mit der Staffelung der Jahressonderzuwendung verfolgten Zweckrichtung, die sich an der Beschäftigungsdauer des Mitarbeiters orientiert. Denn die Mitarbeiter mit einer höheren Anzahl an Beschäftigungsjahren sollen eine höhere Sonderzahlung erhalten. Damit verfolgt die Staffelung in § 11 Abs. 4 Satz 1 MTV den Zweck, die vom Mitarbeiter erbrachte Betriebstreue und das infolge der Beschäftigungsdauer Höhe der Jahressonderzuwendung gemacht und durch den höheren Zahlbetrag die gestiegene Maß an Erfahrung und Routine zusätzlich zu honorieren.
Diesem Zweck widerspräche es, in die Definition des ersten Beschäftigungsjahres in § 11 Abs. 4 Satz 2 MTV von der Dauer des Beschäftigungsverhältnisses unabhängige weitere Faktoren einfließen zu lassen. Insoweit kann nicht entscheidend sein, wann der Beschäftigte in die Gewerkschaft eingetreten ist, schließlich soll nicht die Treue zur Gewerkschaft zusätzlich honoriert werden. Ebenso wenig ist darauf abzustellen, wann der Arbeitgeber dem Arbeitgeberverband beigetreten ist oder staatliche Stellen eine Allgemeinverbindlicherklärung vorgenommen haben, denn solche Umstände weisen inhaltlich keinerlei Zusammenhang mit dem Begriff des „Beschäftigungsjahres“ eines Mitarbeiters auf. Sollte die Staffelung in § 11 Abs. 4 Satz 1 MTV nicht an der Beschäftigungsdauer des Mitarbeiters anknüpfen sondern an den Auszahlungsjahren eines Betriebes, hätten dies die Tarifvertragsparteien durch die Verwendung der Worte „Jahr“, „Zahljahr“ oder „Auszahlungsjahr“ statt des Begriffes „Beschäftigungsjahr“ zum Ausdruck gebracht.
Dies spricht dafür, dass bei der Definition des ersten Beschäftigungsjahres des Mitarbeiters lediglich auf die Anspruchsvoraussetzungen abgestellt wird, die das Beschäftigungsverhältnis des Mitarbeiters und seine Beschäftigungsdauer selbst betreffen. Dies sind die in § 11 Abs. 1 und Abs. 2 MTV enthaltenen Regelungen zur einzuhaltenden Wartefrist und dem Bestand des Beschäftigungsverhältnisses zu einem bestimmten Stichtag.
Für dieses Auslegungsergebnis sprechen auch die vom Arbeitsgericht Nürnberg in einem Parallelverfahren (Az: 15 Ca 5823/15) eingeholten Stellungnahmen der Tarifvertragsparteien. Diese belegen nämlich nicht, dass die Tarifvertragsparteien mit der Definition des ersten Beschäftigungsjahres in § 11 Abs. 4 Satz 2 MTV auf andere als die im Tarifvertrag selbst genannten Anspruchsvoraussetzungen anknüpfen wollten. Insoweit kann auf den Inhalt der Stellungnahmen vom 18.03.2016 und 11.04.2016 (Kopien Bl. 151 – 154 d.A.) verwiesen werden.
In diesem Zusammenhang trägt die Argumentation der Beklagten nicht, durch die Berücksichtigung des Beitrittszeitpunkts eines Arbeitgebers zum Arbeitgeberverband bei der Definition des ersten Beschäftigungsjahres solle auf Arbeitgeberseite die Bereitschaft zu einem Verbandsbeitritt gefördert werden.
Die normativen Regelungen des Tarifvertrages erfassen nämlich nur die Verbandsmitglieder (vgl. § 1 Ziff. 1 MTV) und orientieren sich an deren wirtschaftlichen Interessen, sie stellen aber nicht auf die Situation der Firmen ab, die als Außenseiter vom Tarifvertrag gar nicht erfasst werden.
2. Der Zinsanspruch ergibt sich aus §§ 288, 286 Abs. 1 und 2 Nr. 1 BGB.
Da die Jahressonderzuwendung 2015 gem. § 11 Abs. 1 MTV mit dem November-gehalt zur Zahlung fällig war, d.h. gem. § 3 Abs. 6 MTV bis spätestens 04.12.2015, ist sie ab 05.12.2014 zu verzinsen.
Ein fehlendes Vertretenmüssen gem. § 288 Abs. 4 BGB hat die Beklagte nicht erfolgreich eingewandt. Ihre generelle Zahlungsverpflichtung aus §§ 11 Abs. 1 und Abs. 4, 3 Abs. 6 MTV musste ihr nach dem Verbandsbeitritt im September 2014 bekannt sein. Auf die erstmalige Anwendbarkeit des MTV sind die Mitarbeiter im Rahmen der §§ 3 Satz 1, 2 Abs. 1 Ziffer 10 NachwG binnen einer Frist von einem Monat schriftlich hinzuweisen.
Dass es die Klägerin unterlassen hat, trotz des erfolgten rechtzeitigen Hinweises ihre Anspruchsberechtigung termingerecht anzuzeigen, wird nicht konkret dargelegt.
Auf den Zeitpunkt der Beweisführung einer behaupteten Gewerkschaftszugehörigkeit ist in diesem Zusammenhang nicht abzustellen, denn dies lässt den im MTV geregelten Fälligkeitstermin gänzlich unberührt.
III.
1. Die unterlegene Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen, § 91 Abs. 1 ZPO.
2. Dem Rechtsstreit wird hinsichtlich der Auslegung des § 11 Abs. 4 Satz 2 MTV grundsätzliche Bedeutung beigemessen, § 72 Abs. 2 Ziff. 1 ArbGG.


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