Arbeitsrecht

Vereinbartes außerordentliches Kündigungsrecht der Gewerkschaft für Sanierungstarifvertrag in der Insolvenz

Aktenzeichen  3 Sa 808/18

Datum:
24.5.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
ZInsO – 2019, 1917
Gerichtsart:
LArbG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Arbeitsgerichtsbarkeit
Normen:
BGB § 133, § 157, § 203, § 314 Abs. 1, Abs. 3, § 320
InsO § 103, § 119

 

Leitsatz

1. Ein besonderes Kündigungsrecht in einem Tarifvertrag ist nicht gem. §§ 103, 119 InsO unwirksam, da der normative Teil eines Tarifvertrages kein gegenseitiger Vertrag ist und die im schuldrechtlichen Teil begründeten gegenseitigen Verpflichtungen keine aus der Masse zu befriedigenden vermögensrechtlichen Verbindlichkeiten enthalten. (Rn. 16 – 21) (red. LS Ulf Kortstock)
2. Die Einräumung eines außerordentlichen Kündigungsrechts „im Fall der Stellung des Insolvenzantrags“ in einem Sanierungstarifvertrag mit Absenkung der Vergütung der Arbeitnehmer ist dahin auszulegen, dass für die außerordentliche Kündigung ein wichtiger Grund i.S.v. § 314 Abs. 1 BGB analog erforderlich ist; dieser wichtige Grund ist dann gegeben, wenn der Betrieb geschlossen werden soll und die Sanierung damit gescheitert ist. (Rn. 23 – 36) (red. LS Ulf Kortstock)

Verfahrensgang

1 Ca 640/18 2018-10-16 Urt ARBGROSENHEIM ArbG Rosenheim

Tenor

I. Auf die Berufung der Kläger wird das Urteil des Arbeitsgerichts Rosenheim vom 16.10.2018 – 1 Ca 640/18 – abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger A. einen Betrag in Höhe von 2.786,93 € brutto zu bezahlen nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 04.06.2018.
2. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger C. einen Betrag in Höhe von 3.223,68 € brutto zu bezahlen nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 04.06.2018.
3. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger E. einen Betrag in Höhe von 4.034,39 € brutto zu bezahlen nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 04.06.2018.
4. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger G. einen Betrag in Höhe von 3.811,29 € brutto zu bezahlen nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 04.06.2018.
5. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger I. einen Betrag in Höhe von 6.360,06 € brutto zu bezahlen nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 04.06.2018.
6. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger K. einen Betrag in Höhe von 4.080,05 € brutto zu bezahlen nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 04.06.2018.
7. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger M. einen Betrag in Höhe von 3.350,84 € brutto zu bezahlen nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 04.06.2018.
8. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger O. einen Betrag in Höhe von 3.363,65 € brutto zu bezahlen nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 04.06.2018.
9. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger Q. einen Betrag in Höhe von 3.007,39 € brutto zu bezahlen nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 04.06.2018.
10. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger S. einen Betrag in Höhe von 3.275,03 € brutto zu bezahlen nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 04.06.2018.
11. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin U. einen Betrag in Höhe von 4.291,65 € brutto zu bezahlen nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 04.06.2018.
12. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger W. einen Betrag in Höhe von 3.856,88 € brutto zu bezahlen nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 04.06.2018.
II. Die Kosten des Rechtsstreits hat der Beklagte zu tragen.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die zulässige Berufung ist begründet.
I.
Die nach § 64 Abs. 2 lit. b) ArbGG statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, §§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG i.V.m. §§ 519, 520 ZPO, und damit zulässig.
II.
Die Berufung ist – nach Rücknahme um die Position der Verzugskostenpauschale – auch begründet. Den Klageparteien stehen die im Schriftsatz vom 06.08.2018 näher dargelegten und zuletzt nicht mehr der Höhe nach bestrittenen Ansprüche auf Zahlung der Differenzbeträge zum monatlichen Entgelt gemäß § 15 Ziff. 1 MTV für die Arbeitnehmer der Bayerischen Metall- und Elektroindustrie i.V.m. den ERA-Tariftabellen, des Weihnachtsgeldes für 2017 gemäß Ziff. 1 und 2 des Tarifvertrags über die Absicherung eines Teils des 13. Monatseinkommens und des zusätzlichen Urlaubsentgelts für 2017 gemäß § 18 c) MTV für die Arbeitnehmer der Bayerischen Metall- und Elektroindustrie zu. Diese Tarifregelungen sind den Arbeitsverhältnissen der tarifgebundenen Klageparteien ab 01.10.2017 zugrunde zu legen, weil die vorübergehenden tariflichen Abweichungen des ETV aufgrund dessen außerordentlicher fristloser Kündigung vom 20.09.2017 mit Zugang am 22.09.2017 nicht mehr gelten. Die Kündigung der IG Metall vom 20.09.2017 ist wirksam.
1. Das in § 8 Abs. 2 ETV zu Gunsten der IG Metall geregelte außerordentliche Kündigungsrecht ist nicht gemäß § 119 InsO unwirksam.
a) Nach § 119 InsO sind Vereinbarungen, durch die im Voraus die Anwendung der §§ 103 bis 108 InsO ausgeschlossen oder beschränkt wird, unwirksam. § 103 InsO regelt das Wahlrecht des Insolvenzverwalters bei gegenseitigen Verträgen: Ist ein solcher Vertrag zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens vom Schuldner oder vom anderen Teil nicht oder nicht vollständig erfüllt, so kann der Insolvenzverwalter anstelle des Schuldners den Vertrag erfüllen und die Erfüllung vom anderen Teil verlangen (Abs. 1). Lehnt der Verwalter die Erfüllung ab, so kann der andere Teil eine Forderung wegen der Nichterfüllung nur als Insolvenzgläubiger geltend machen (Abs. 2 Satz 1). Dabei wird der Begriff des gegenseitigen Vertrags im Sinne des § 103 InsO in demselben Sinn wie bei §§ 320 ff. BGB verwendet.
Er liegt also vor mit einem vollkommen zweiseitig verpflichtenden Vertrag, der durch die synallagmatische Verknüpfung der beiderseitigen Hauptleistungspflichten gekennzeichnet ist. Eine Partei geht ihre Leistungspflicht nur wegen der von der anderen Seite zugleich übernommenen Gegenleistungspflicht ein (vgl. MüKomInsO/Huber, 3. Aufl. 2013, § 103 Rn. 55).
b) Danach ist § 103 InsO nicht auf einen Tarifvertrag anzuwenden. Der normative Teil des Tarifvertrages stellt keinen gegenseitigen Vertrag dar (vgl. Uhlenbruck/Wegener, 15. Aufl. 2019, § 103 Rn. 54). Der schuldrechtliche Teil ist zwar ein gegenseitiger Vertrag, jedoch enthalten die dort begründeten Pflichten (z.B. Friedenspflicht) keine vermögensrechtlichen Verpflichtungen, die aus der Masse zu befriedigen wären, wie es § 103 InsO voraussetzt (vgl. MüKomInsO/Huber, a.a.O., Rn. 96 m.w.N.; Uhlenbruck/Wegener, a.a.O.).
Im Übrigen würde sich die Unwirksamkeit der Regelung eines außerordentlichen Kündigungsrechts gemäß § 8 Abs. 2 ETV auch nicht auf der Grundlage der seitens der Beklagten zitierten Entscheidung des BGH vom 15.11.2012 – IX ZR 169/11 – ergeben. Nach dieser Entscheidung gilt eine insolvenzabhängige Lösungsklausel dann nicht als nach § 119 InsO unwirksam, wenn die Vereinbarung einer gesetzlich vorgesehenen Lösungsmöglichkeit entspricht (vgl. BGH, Urteil vom 15.11.2012 – IX ZR 169/11 – Rn. 13). Bei Tarifverträgen ist eine außerordentliche Kündigung nach allgemeiner Auffassung grundsätzlich zulässig (vgl. schon BAG, Urteil vom 14.11.1958 – 1 AZR 247/57 -), was sich nunmehr aus § 314 BGB analog begründet (vgl. BAG, Urteil vom 27.02.2013 – 4 AZR 78/11 – Rn. 19; ErfK/Franzen, 19. Aufl. 2019, § 1 Rn. 33). Im Übrigen sieht der BGH den Zweck des Erfüllungswahlrechts darin, die Masse zu schützen und im Interesse einer gleichmäßigen Gläubigerbefriedigung zu mehren. Dieser Zweck könnte vereitelt werden, wenn sich der Vertragspartner des Schuldners allein wegen der Insolvenz von einem für die Masse günstigen Vertrag lösen und damit das Wahlrecht des Insolvenzverwalters nach § 103 InsO unterlaufen könnte (vgl. BGH, Urteil vom 15.11.2012 – IX ZR 169/11 – Rn. 13 a.E.). Liegt mit der Stellung des Insolvenzantrags nicht zugleich ein wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung des ETV vor, sondern bedarf es hierzu zusätzlicher Voraussetzungen, wie dies vorliegend Fall ist (vgl. die nachfolgenden Ausführungen), ist die Rechtsfolge der Unwirksamkeit auch aus dem Sinn und Zweck des § 103 InsO nicht geboten.
Dem Beklagten war in diesem Zusammenhang keine weitere Erklärungsfrist einzuräumen. Das Arbeitsgericht hat eine Anwendung des § 103 InsO auf den ETV verneint. Eine Prüfung, ob diese Auffassung auf der Grundlage der konkreten insolvenzrechtlichen Bestimmung zutrifft, wäre geboten und möglich gewesen, zumal dies in der insolvenzrechtlichen Literatur erörtert wird.
2. Der ETV endete aufgrund außerordentlicher fristloser Kündigung der IG Metall mit deren Zugang am 22.09.2017. Die Kündigung ist wirksam.
a) § 8 Abs. 2 ETV räumt der IG Metall ein außerordentliches Kündigungsrecht „im Fall der Stellung des Insolvenzantrags“ ein, für dessen zulässige Ausübung ein Kündigungsgrund im Sinne des § 314 Abs. 1 BGB analog vorliegen muss. Dies folgt aus der Auslegung der Tarifnorm.
aa) Die Auslegung von rechtsgeschäftlichen Willenserklärungen, die wie das Kündigungsrecht nach § 8 Abs. 2 ETV Bestandteil der schuldrechtlichen Vereinbarungen eines Tarifvertrages sind, erfolgt nach den für die Auslegung von Verträgen geltenden Grundsätzen gemäß §§ 133, 157 BGB (vgl. BAG, Urteil vom 27.02.2013 – 4 AZR 78/11 – Rn. 16). Maßgeblich sind danach der Wortlaut, der Gesamtzusammenhang der Regelung sowie deren Sinn und Zweck. Allerdings braucht der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien nicht im Wortlaut der schuldrechtlichen Regelung seinen Niederschlag gefunden haben. Das Argument der Rechtssicherheit der der Norm unterworfenen Arbeitnehmer und Arbeitgeber trägt insoweit nicht, da die schuldrechtlichen Regelungen nur die vertragschließenden Tarifvertragsparteien betreffen (vgl. ErfK/Franzen, 19. Aufl. 2019, § 1 TVG, Rn. 95 m.w.N.).
bb) Danach erfordert § 8 Abs. 2 ETV für eine wirksame außerordentliche Kündigung das Vorliegen eines wichtigen Grundes im Sinne des § 314 Abs. 1 BGB analog.
Durch die Formulierung „Im Fall der Stellung des Insolvenzantrages … kann dieser Tarifvertrag von der IG Metall außerordentlich gekündigt werden“ scheint der Gewerkschaft ein außerordentliches Kündigungsrecht eingeräumt worden zu sein, ohne dass es eines wichtigen Grundes im Sinne des § 314 Abs. 1 BGB bedarf. Für diese Auslegung könnte auch sprechen, dass keine weitere Voraussetzung für den Gebrauch des Kündigungsrechts genannt ist. Allerdings bedarf das Recht, einen Tarifvertrag außerordentlich zu kündigen, grundsätzlich keiner ausdrücklichen Vereinbarung (vgl. BAG, Urteil vom 27.02.2013 – 4 AZR 78/11 – Rn. 18). Es müsste deshalb unterstellt werden, die Tarifvertragsparteien hätten mit dem außerordentlichen Kündigungsrecht in § 8 Abs. 2 ETV eine überflüssige Regelung getroffen.
Demgegenüber hätte § 8 Abs. 2 ETV dann Bedeutung, wenn mit den Worten „mit der Stellung des Insolvenzantrags“ der Eintritt eines bestimmten tatsächlichen Umstands geregelt worden wäre. Die Worte „im Fall der Stellung des Insolvenzantrages…“ wären als konditionale Verknüpfung zu verstehen, würden das Kündigungsrecht nicht vom Vorliegen eines wichtigen Grundes freistellen und auch nicht an den Zeitpunkt binden, in dem die Voraussetzung erstmals gegeben ist. Eine solche Regelungstechnik ist bei Tarifverträgen durchaus üblich (vgl. ErfK/Franzen, a.a.O., § 1 TVG, Rn. 33) und auch aus anderen Vertragsgestaltungen bekannt. Wird bei befristeten Arbeitsverträgen ein ordentliches Kündigungsrecht vereinbart (§ 15 Abs. 3 TzBfG), ist eine Kündigung – im Falle des Bestehens eines allgemeinen Kündigungsschutzes – nur wirksam, wenn ein Kündigungsgrund im Sinne des § 1 KSchG vorliegt.
Für diese Auslegung spricht auch der Sinn und Zweck der Tarifregelung. Die Klageparteien haben unbestritten vorgetragen, dass der Sinn und Zweck des außerordentlichen Kündigungsrechts in § 8 Abs. 2 ETV darin besteht, dass den Arbeitnehmern bei Scheitern der Sanierung zumindest wieder das volle Gehalt gewährt werden soll. Ob die Sanierung scheitert, beurteilt sich indessen nicht danach, ob ein Insolvenzantrag gestellt wird, sondern danach, ob es aufgrund des Insolvenzverfahrens, ggf. durch Unterstützung eines Investors, gelingt, den Betrieb fortzuführen. Solange eine Sanierung des Betriebs der Insolvenzschuldnerin in Betracht käme, dürfte die Gewerkschaft von ihrem Kündigungsrecht nicht Gebrauch machen. Die Ausübung des außerordentlichen Kündigungsrechts der Gewerkschaft würde dann nicht „wie ein Damoklesschwert“ über den Vertragsverhandlungen mit einem Investor schweben. Ein Investitionskonzept könnte auch nicht nachträglich durch die Ausübung des außerordentlichen Kündigungsrechts zerstört werden, wie die Beklagte befürchtet. Andererseits stünde die Gewerkschaft nicht unter Druck, den Sanierungstarifvertrag (vorzeitig) außerordentlich zu kündigen, um der Gefahr der Verfristung der Kündigungserklärung nach § 314 Abs. 3 BGB analog zu entgehen.
Schließlich führt diese Auslegung des § 8 Abs. 2 ETV im Umkehrschluss dazu, dass der IG Metall das grundsätzlich gegebene außerordentliche Kündigungsrecht bis zur Stellung des Insolvenzantrags nicht zustand, wodurch der Arbeitgeberin mit Inkrafttreten des ETV am 15.07.2016 eine verlässliche Planungsgrundlage gegeben war, die der Sanierung des Betriebs und damit auch dem Fortbestand der Arbeitsverhältnisse diente.
b) Die Voraussetzungen des § 8 Abs. 2 ETV lagen bei Ausspruch der außerordentlichen fristlosen Kündigung der IG Metall am 22.09.2017 vor.
aa) Es ist am 29.12.2016 unstreitig ein Insolvenzantrag gestellt worden.
bb) Es liegt ein wichtiger Grund i.S.d. § 314 Abs. 1 BGB analog vor.
(1) Nach § 314 Abs. 1 BGB analog kann ein Tarifvertrag aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn dem kündigenden Teil unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der beiderseitigen Interessen die Fortsetzung des Tarifvertrages bis zur vereinbarten Beendigung oder bis zum Ablauf einer Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann.
(2) Danach war die IG Metall zur außerordentlichen fristlosen Kündigung berechtigt.
Mit der Entscheidung des Insolvenzverwalters im September 2017 und der Vereinbarung des Interessenausgleichs vom 15.12.2017 stand verbindlich fest, dass der Betrieb der Insolvenzschuldnerin zum 31.12.2017 geschlossen werden würde und seine Sanierung gescheitert war. Die tariflichen Regelungen zur Absenkung der Vergütung der Arbeitnehmer konnten damit ihren Zweck nicht mehr erreichen. Die Geschäftsgrundlage des ETV war entfallen.
Der IG Metall war ein Festhalten am ETV bis zum Ablauf seiner Laufzeit am 31.12.2021 nicht zumutbar. Ab dem 01.01.2018 hätten weder der Betrieb noch die Arbeitsverhältnisse der Belegschaft bestanden; der Tarifvertrag konnte seine Rechtswirkungen nicht mehr ab 01.01.2018 nicht mehr entfalten. Es war der IG Metall auch nicht zumutbar, die absenkenden Vergütungsregelungen bis zum 31.12.2017 fortbestehen zu lassen. Die Arbeitnehmer hatten zu Gunsten der Masse und im Interesse der Bemühungen um die Fortführung des Betriebs der Insolvenzschuldnerin bereits seit Inkrafttreten des Tarifvertrags am 15.07.2016 auf Zahlung der ihnen (monatlich) zustehenden Vergütung verzichtet. Dieser Zeitraum von über einem Jahr war weit länger als den der verbleibenden drei Monate bis zur Schließung des Betriebs am 31.12.2017. Ein weiterer Verzicht auf die ihnen tarifvertraglich grundsätzlich zustehenden Vergütungsbestandteile war sinnlos. Eine weitere Vorleistung der Belegschaft lag darin, dass die sie vertretende Gewerkschaft auf ihr grundsätzlich bestehendes außerordentliches Kündigungsrecht bis zur Stellung des Insolvenzantrags verzichtet hatte. Die IG Metall musste nach dem ultimaratio-Prinzip keine Nachverhandlungen versuchen. Es ist zum einen fraglich, ob solche in den verbleibenden 12 Wochen noch zum Abschluss gekommen wären. Zum anderen gab es mit dem endgültigen Scheitern der Sanierung keinen Grund für die von der IG Metall vertretenen Arbeitnehmer, weiter auf ihre tariflichen Ansprüche teilweise zu verzichten.
c) Die IG Metall hat ihr Kündigungsrecht in angemessener Frist, § 314 Abs. 3 BGB analog, ausgeübt. Sie hat im September 2017 vom Kündigungsgrund des Scheiterns der Sanierung bzw. der Betriebsschließung Kenntnis erlangt und hat noch binnen Monatsfrist am 22.09.2017 die außerordentliche fristlose Kündigung des ETV erklärt. Auch der Beklagte hält eine solche Frist im Anschluss an Löwisch/Rieble, TVG, 4. Aufl. 2017, § 1 Rn. 1609 für angemessen.
Nach Auffassung der Kammer wäre die Kündigungserklärungsfrist des § 314 Abs. 3 BGB analog aber auch dann gewahrt, wenn die IG Metall von ihrem außerordentlichen Kündigungsrechts schon „im Fall der Stellung eines Insolvenzantrags“ und ohne weitere Voraussetzungen den ETV hätte Gebrauch machen können. Denn entsprechend dem Rechtsgedanken des § 203 BGB verlängert sich die Kündigungserklärungsfrist, wenn Verhandlungen über den Anspruch bzw. die den Anspruch begründenden Umstände schweben (vgl. Löwisch/Rieble, a.a.O., § 1 Rn. 1609). Zu den den Anspruch begründenden Umstände zählen ausweislich des in der Präambel niedergelegten Sinn und Zweck des ETV die Sanierungsbemühungen, die endgültig erst dann gescheitert waren, als der Beklagte im September 2017 entschied, den Betrieb zum Jahresende stillzulegen.
d) Das Recht zur außerordentlichen fristlosen Kündigung des ETV hat die IG Metall schließlich nicht verwirkt, § 242 BGB. Es fehlt in Bezug auf den Kündigungsgrund des Scheiterns der Sanierung bzw. beschlossenen Betriebsschließung im September 2017 sowohl am Zeit- als auch am Umstandsmoment für ein etwaiges Vertrauen des Beklagten, die IG Metall werde ihr außerordentliches Kündigungsrecht nicht ausüben.
3. Den Klageparteien stehen die geltend gemachten Ansprüche auch der Höhe nach zu. Der Beklagte hat die Ansprüche zuletzt nicht mehr konkret und im Einzelnen bestritten. Soweit er erstinstanzlich gerügt hat, warum und auf Grundlage welcher konkreten Vorschrift sich die angeblich von der jeweiligen Klagepartei geforderte Eingruppierung ergeben könne, liegt weder ein substanziiertes (§ 138 Abs. 2 ZPO) noch ein zulässiges (§ 138 Abs. 4 ZPO) Bestreiten vor. Die Klageparteien haben diejenige Eingruppierung für die Berechnung ihrer Ansprüche zugrunde gelegt, die auch der Beklagte für die abgesenkte Vergütung herangezogen hat.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 2 Ziff. 1 ZPO.
IV.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil kein Grund im Sinne des § 72 Abs. 2 ArbGG gegeben ist. Die hiesige Entscheidung betrifft die Auslegung des schuldrechtlichen Teils eines Tarifvertrages und beruht auf den Grundsätzen bereits getroffener höchstrichterlicher Entscheidungen.


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