Arbeitsrecht

Verpflegungsmehraufwendung – Auslegung eines Tarifvertrages

Aktenzeichen  6 Sa 258/19

Datum:
10.8.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 42107
Gerichtsart:
LArbG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Arbeitsgerichtsbarkeit
Normen:
TVG § 1, § 3 Abs. 1
EStG § 9 Nr. 4
Manteltarifvertrag des Speditions-, Transport- und Logistikgewerbe in Bayern vom 1.10.2014 (MTV) § 18 Nr. 3

 

Leitsatz

Ein im Nahverkehr eingesetzter Auslieferungsfahrer, der an der Niederlassung seines Arbeitgebers nur im Wesentlichen sein Fahrzeug be- und entlädt, sich daneben aber in seinem Bezirk auf Auslieferungsfahrt befindet, hat keine regelmäßige Arbeitsstätte an der Niederlassung. Er kann daher keine Mehraufwandsentschädigung nach § 18 Nr. 3 MTV Bay. Speditions-, Transport- und Logistikgewerbe beanspruchen.

Verfahrensgang

17 Ca 8073/18 2019-02-26 Endurteil ARBGMUENCHEN ArbG München

Tenor

I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Endurteil des Arbeitsgerichts München vom 26.02.2019 – 17 Ca 8073/18 abgeändert und die Klage auf Kosten des Klägers abgewiesen.
II. Die Revision wird zugelassen.

Gründe

Die statthafte Berufung hat in der Sache Erfolg.
I.
Sie ist nach § 64 Abs. 1, 2b ArbGG statthaft sowie in rechter Form und Frist eingelegt und begründet worden (§ 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG, § 519 Abs. 2, § 520 Abs. 3 ZPO i.V.m. § 66 Abs. 1 Sätze 1, 2, 5 ArbGG, § 222 ZPO).
II.
In der Sache hat die Berufung Erfolg.
Dem Kläger steht kein Anspruch auf eine höhere Mehraufwandsentschädigung als die von der Beklagten bezahlte nach § 18 Nr. 3 MTV Logistik zu. Zwar findet der Tarifvertrag kraft beidseitiger Tarifbindung der Parteien (§ 3 Abs. 1 TVG) auf das zwischen ihnen bestehende Arbeitsverhältnis Anwendung. Doch ist der Kläger nicht, „… aufgrund der“ ihm „übertragenen Arbeiten vorübergehend von der regelmäßigen Arbeitsstätte abwesend“. Denn bei der Niederlassung in Y. handelt es sich nicht um die regelmäßige Arbeitsstätte des Klägers, von der er bei Vornahme der Ausfahrertätigkeiten abwesend wäre; vielmehr handelt es sich um seine regelmäßige Arbeitsaufgabe, Pakete auszuliefern bzw. mitzunehmen und in der Niederlassung abzuliefern. Entsprechend spricht auch der Kläger von Vorbereitungstätigkeiten, die er am Standort Y. zu erledigen hat. Nimmt man den Arbeitsplatz des Klägers nicht in Y., sondern in seinem Auslieferungsbezirk, also gleichsam „in seinem Auslieferungsfahrzeug“ an, so ist er von diesem nicht mehr als 8 Stunden täglich abwesend, weswegen keine Aufwandsentschädigung nach § 18 Nr. 3 MTV Logistik verlangt werden kann. Ein Anspruch darauf besteht allerdings auch nicht auf vertraglicher Basis. Die Beklagte hatte eine Abwesenheitsentschädigung, welche sie auch heute noch – unterhalb des tariflichen Satzes – entrichtet, schon vor ihrer Tarifbindung bezahlt. Diese hatte sie zwar zwischen 2004 und 2006 – zu einem nicht mehr genau bestimmbaren Zeitpunkt – auch für Auslieferungsfahrer an den steuerlichen Satz angepasst. Der Kläger trägt allerdings keine Umstände vor, die Beklagte damit habe gleichzeitig bekundet oder bekunden wollen, stets den steuerlichen Satz entrichten zu wollen. Allein die fehlende Jeweiligkeitsklausel spricht – entgegen der Annahme der Beklagten – zwar nicht gegen eine solche Absicht (vgl. BAG v. 20. 4. 2012 – 9 AZR 504/10, NZA 2012, 982); allerdings trägt der Kläger keinerlei Umstände dazu vor, dass diese Anpassung eine Orientierung an den steuerlichen Sätzen auch für die Zukunft mit beinhaltet hat oder beinhalten sollte.
1. Der Kläger hat nach § 18 Nr. 3 MTV Logistik nach Auslegung des Tarifvertrages keinen Anspruch auf eine höhere Aufwandsentschädigung für den streitgegenständlichen Zeitraum, als von der Beklagten bezahlt. Ein solcher lässt sich aus der Tarifnorm nicht herleiten.
a. Ein vom Kläger geltend gemachter Anspruch ergibt sich nicht aus der 2. Alternative des § 18 Nr. 3 MTV Logistik. Diese passt nicht auf die klägerische Tätigkeit und wird von ihm auch nicht zur Begründung des geltend gemachten Differenzanspruches herangezogen.
b. Aus § 18 Nr. 3 1. Alt. MTV Logistik kann aber ebenso kein dahingehender Anspruch abgeleitet werden. Diese Tarifregelung enthält insoweit keine eindeutige Normierung, weswegen im Wege der Auslegung zu klären ist, ob ein Anspruch des Klägers auf Differenzaufwendungsersatz besteht. Dies ist letztlich zu verneinen.
aa. Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags erfolgt nach den bestehenden Regeln zur Auslegung von Gesetzen. Auszugehen ist zunächst vom Wortlaut des Tarifvertrages. Dabei ist der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen, ohne am Buchstaben zu haften. Über den reinen Tarifwortlaut hinaus ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien zu berücksichtigen, wenn und soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Ferner ist auf den tariflichen Gesamtzusammenhang abzustellen, aus dem sich Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien ergeben können und nur so der Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend zu ermitteln ist. Ergeben sich hieraus keine zweifelsfreien Auslegungsergebnisse, so können ohne Bindung an die Reihenfolge weitere Kriterien, wie etwa die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrags, gegebenenfalls auch die praktische Tarifübung, ergänzend herangezogen werden. Jeweils ist aber die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse zu berücksichtigen, wobei im Zweifel derjenigen Tarifauslegung der Vorzug gebührt, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (BAG v. 12. 8. 2015 – 7 AZR 592/13, NZA 2016, 173 Rz. 16; ferner BAG v. 10. 2. 2015 – 3 AZR 904/13, juris Rz. 27; BAG v. 22. 1. 2014 – 7 AZR 243/12, NZA 2014, 483 Rz. 28; LAG München v. 19. 11. 2019 – 6 Sa 370/19, BeckRS 2019, 39683, unter II 1 a bb (2) (b)).
bb. Ausgehend von Tarifwortlaut ergeben sich keine Anhaltspunkte für die verpflichtend höhere Zahlung eines Aufwendungsersatzanspruches an den Kläger. Dazu bedarf es zunächst der Klärung des Begriffes der „Arbeitsstätte“, von welcher der Kläger vorübergehend abwesend wäre. Die Arbeitsstätte könnte zum einen, wovon das Arbeitsgericht ausgeht, die Niederlassung der Beklagten in Y. sein, aber auch der Bezirk – untechnisch gesprochen: das Auto – in dem bzw. mit dem der Kläger die Auslieferung vornimmt.
Ungeachtet der Frage, ob der Begriff der Arbeitsstätte „steuerrechtlich“ zu definieren ist, wie die Beklagte meint, ist die Begrifflichkeit in § 18 Nr. 3 MTV Logistik nach Ansicht der Kammer dahingehend zu verstehen, dass eine Arbeitsstätte gegeben ist, an welcher der Arbeitnehmer primär oder zumindest in nennenswertem Umfang seiner vertraglich geschuldeten Arbeitsleistung nachzugehen hat. Erbringt ein Arbeitnehmer an einem bestimmten Ort nur gelegentlich bestimmte Tätigkeiten oder erbringt er diese zwar regelmäßig an diesem Ort, doch handelt es sich bei dabei nur um Nebenarbeiten, wie etwa Vor- oder Nachbereitungstätigkeiten, so handelt es sich bei dem Ort nicht um den Arbeitsort des Arbeitnehmers. Daran ändert sich nichts, dass diese Aufgaben erforderlich sind, um nachfolgend die Arbeitstätigkeit erbringen zu können. Vielmehr setzt der Arbeitsort voraus, dass die vertraglich geschuldete Arbeitsleistung hier (im Wesentlichen) erfüllt wird. Der Arbeitnehmer erhält dann Aufwandsentschädigung, wenn er von dieser Arbeitsstätte (mehr als 8 Stunden) vorübergehend abwesend ist.
Danach handelt es sich bei Y. nicht um die Arbeitsstätte des Klägers. Die Abwesenheit seiner Person von Y. begründet daher keinen Anspruch auf die Entrichtung der tariflichen Aufwandsentschädigung. Denn der Kläger erbringt seine Arbeitsleistung im Wesentlichen üblicherweise nicht in Y. selbst; dort verrichtet er allein Vorbereitungstätigkeit, wie er sich selbst ausdrückt. Er hat den Zustellcomputer zu holen und vorbereiten, die Arbeitsmaterialien mitzunehmen und nach einem PCM-Gespräch am Fahrzeug eine Abfahrtskontrolle durchzuführen. Er bezeichnet dies im Schriftsatz vom 21. Aug. 2019 (Bl. 391 ff. d. A.) selbst als „vorbereitende Handlungen“, die aber noch keine unmittelbare Erfüllung der vertraglichen Pflichten darstellen und für sich keinen regelmäßigen Arbeitsort an dem Ort, da sie zu erbringen sind, begründen. Entsprechend hat beispielsweise auch ein Bauarbeiter, der seine Werkzeuge morgens jeweils im Magazin am Sitz der Baufirma abzuholen und abends dort zurückzubringen hat, seinen Arbeitsplatz nicht an der Niederlassung der Baufirma, wo sich auch das Magazin befindet, sondern auf der jeweiligen Baustelle. Übertragen auf den Kläger: Dieser hat seinen regelmäßigen Arbeitsplatz nicht an dem Ort, an dem er die auszuliefernden Pakete zu Schichtbeginn aufnimmt und evtl. nicht auslieferbare oder unterwegs mitgenommene Pakete zu Schichtende abliefert, sondern in seinem Bezirk, in dem er die Liefertätigkeiten verrichtet.
Nimmt man aber den Arbeitsplatz des Klägers im Auslieferungsbezirk (im Fahrzeug) an, so ist er von diesem nicht vorübergehend abwesend, wenn er sich auf Auslieferungsfahrt befindet, weswegen die Voraussetzungen einer Aufwandentschädigung nach § 18 Nr. 3 MTV Logistik nicht erfüllt ist.
cc. Die Systematik der Tarifnorm steht dem gefundenen Ergebnis nicht entgegen. Ausdrücklich sind nur als anspruchsberechtigte Kraftfahrer im Inlandsfernverkehr in § 18 Nr. 3 MTV Logistik genannt. Zwar ist dem Arbeitsgericht zuzugestehen, dass es nahegelegen hätte, Kraftfahrer im Inlandsnahverkehr ausdrücklich auszuschließen. Doch hatte es dessen nicht bedurft. Mit der unterbliebenen Nennung waren diese bereits ausgeschlossen.
Die Unterscheidung beider Berufsgruppen war vorliegend auch als sachgerecht anzusehen. Zwar stellt es kein Kriterium der Unterscheidung dar, dass Fernfahrer länger als im Nahverkehr eingesetzte von der Familie fern sind. Die Aufwendungsersatzzahlung stellt eine Entschädigung für einen (Verpflegungs-)Mehraufwand dar und soll nicht Abwesenheitszeiten von zu Hause ausgleichen. Allerdings trifft Fernfahrer ein deutlich höherer Aufwand, als Nahverkehrsfahrer. Diese befinden sich überwiegend auf Autobahnen und müssen im Rahmen der Verpflegung die höheren Preise von Autobahnraststätten entrichten, Auch die Körperpflege (Duschen) kostet für sie Geld. Demgegenüber mag bei Fahrern im Nahverkehr zwar auch die Verpflegung teurer sein, als die Einnahme häuslicher Mahlzeiten. Doch kommen diese üblicherweise täglich nach Hause, mit der Folge, dass zumeist die Einnahme eines Frühstücks oder des Abendessens zu Hause erfolgen kann. Mahlzeiten außer Haus beschränken sich damit zumeist auf das Mittagessen, während Fernfahrer alle Mahlzeiten aushäusig einnehmen müssen, solange sie unterwegs sind.
dd. Ebenso stehen die erholten Tarifauskünfte dem gefundenen Ergebnis nicht entgegen.
Die Auskunft des R. entspricht im Ergebnis bereits der hier gefundenen Lösung, wenn dort ausgesagt ist, § 18 Nr. 3 MTV Logistik komme nicht zur Anwendung, da der Kläger dauerhaft von der Arbeitsstätte entfernt arbeite. Dies ist zwar in der Diktion unzutreffend, da sich der Kläger dauerhaft an bzw. in seiner Arbeitsstätte, dem Auslieferungsbezirk, befindet. Zudem wird – wie hier ebenso – auf die aufwändigeren Verpflegungsmehraufwendungen bei Fernfahrern gegenüber im Nahbereich eingesetzten Fahrern abgestellt.
Wenn die Gewerkschaft ver.di demgegenüber annimmt, das Be- und Entladen an einer Niederlassung erfülle bereits den Begriff der Arbeitsstätte und die Verpflichtung zur Zahlung einer Aufwandsentschädigung sei schon dann geschuldet, wenn der Arbeitnehmer im Übrigen von dieser Arbeitsstätte entfernt sei, so findet dies – wie gesehen – keine Stütze im Wortlaut der Norm. Mag eine solche Folge auch bei Abschluss des Tarifvertrags beabsichtigt gewesen sein, lässt sich am Wortlaut nicht ablesen, dass die Tarifpartner sich darauf geeinigt haben. Ebenso ist nicht zu erkennen, dass die Nennung des Inlandsfernverkehrs in § 18 Nr. 3 MTV Logistik nicht die Abgrenzung zum Nahverkehr betreffe, sondern eine Abgrenzung vom internationalen Verkehr nach dessen Absatz 4 darstelle. Ein Hinweis auf eine Bezugnahme dieses Begriffes auf § 18 Abs. 4 MTV Logistik findet sich im Text des Tarifvertrages nicht.
c. Auf die Ausführungen zur Verwirkung, bei denen nach Ansicht der Kammer dem arbeitsgerichtlichen Urteil vollinhaltlich zuzustimmen ist, kommt es daneben nicht mehr an.
2. Dem Kläger steht aber auch kein vertraglicher Anspruch auf die Differenzaufwen dungszahlungen zu. Denn es ist nach dem Vortrag des insoweit darlegungs- und beweisbelasteten Klägers nicht zu erkennen, dass die zwischen 2004 und 2006 erfolgte Anpassung der freiwilligen Aufwendungsersatzzahlungen im Sinne einer generellen Anlehnung an die steuerlichen Sätze zu verstehen gewesen sei.
a. Die Anpassung der damals entrichteten Aufwendungsersatzleistungen an die steuerlichen Sätze kann nicht bereits Zukunftswirkung zukommen, als eine Jeweiligkeitsklausel damit verbunden worden wäre. Hätte die Beklagte kundgetan, künftig die jeweiligen steuerlichen Sätze entrichten zu wollen, wäre diese Folge eingetreten; allerdings ist eine solche Erklärung nicht erfolgt.
Dem steht nicht entgegen, dass der Kläger die Vorgänge vor seinem Eintritt bei der Beklagten – zulässiger Weise – mit Nichtwissen bestritten hatte. Denn der Kläger ist hinsichtlich eines vertraglichen Versprechens darlegungs- und beweispflichtig. Bestreiten reicht nicht aus. Vielmehr hätte er positiv vortragen und ggf. zu beweisen, dass eine solche Klausel mit der Anpassung verbunden worden war. Solches behauptet er nicht.
b. Die fehlende Jeweiligkeitsklausel schließt aber die Annahme, die Beklagte habe eine an die steuerlichen Sätze angepasste Aufwendungsersatzleitung künftig erbringen zu wollen, nicht aus (vgl. BAG v. 20. 4. 2012, a.a.O.). Allerdings bedürfte es dafür besonderer Umstände, die einen dahingehenden Schluss erlaubten. Solche Umstände trägt der darlegungs- und beweispflichtige Kläger jedoch ebenso nicht vor.
III.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
IV.
Wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache war die Revision zuzulassen (§ 72 Abs. 2 ArbGG).


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