Baurecht

4 B 44/20

Aktenzeichen  4 B 44/20

Datum:
3.5.2021
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Beschluss
ECLI:
ECLI:DE:BVerwG:2021:030521B4B44.20.0
Spruchkörper:
4. Senat

Verfahrensgang

vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, 23. September 2020, Az: 10 A 2544/18, Beschlussvorgehend VG Düsseldorf, 17. Mai 2018, Az: 4 K 14592/16, Urteil

Tenor

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 23. September 2020 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 51 300 € festgesetzt.

Gründe

1
Die auf § 132 Abs. 2 Nr. 1 und 2 VwGO gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg.
2
1. Die Rechtssache hat nicht die grundsätzliche Bedeutung, die ihr die Klägerin beimisst.
3
Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung der Klägerin gegen die Abweisung ihrer Klage auf Erteilung eines bauplanungsrechtlichen Vorbescheids für die Erweiterung eines Lebensmitteldiscountmarktes von einer genehmigten Verkaufsfläche von 860 m² auf 1 202 m² zurückgewiesen. Das Vorhaben sei an dem vorgesehenen Standort im festgesetzten Industriegebiet bauplanungsrechtlich unzulässig; die Klägerin habe die Vermutung des § 11 Abs. 3 Satz 3 BauNVO nicht widerlegt. Zwar könne der Umstand, dass der Einzelhandelsbetrieb in einem zentralen Versorgungsbereich der Beklagten angesiedelt werde, ein Anhaltspunkt dafür sein, dass von dem Betrieb keine nachteiligen Auswirkungen i.S.d. § 11 Abs. 3 Sätze 1 und 2 BauNVO zu erwarten seien. Allerdings könnten sich durch die Ansiedlung eines großflächigen Einzelhandelsbetriebs innerhalb eines zentralen Versorgungsbereichs Auswirkungen auf die Entwicklung anderer zentraler Versorgungsbereiche ergeben, wenn nämlich der zu erwartende Umsatz dieses Einzelhandelsbetriebs die Kaufkraft der ihm funktional zugeordneten Bevölkerung überschreite. Das sei hier der Fall. Das Nahversorgungszentrum, in dem das Vorhaben der Klägerin verwirklicht werden solle, sei eines der leistungsfähigsten in Düsseldorf. Die Mantelbevölkerung umfasse lediglich rund 7 000 Personen. Der fußläufige Einzugsbereich sei wegen der Nähe zum Stadtteilzentrum Ackerstraße/Birkenstraße auf 500 m begrenzt. Unter Berücksichtigung des geschätzten Umsatzes des Vorhabens im Bereich Nahrungs- und Genussmittel habe die Beklagte daraus eine sogenannte Abschöpfungsquote errechnet, mit der sie plausibel dargelegt habe, dass das Vorhaben keine reine Nahversorgungsfunktion besitze. Folglich könne mit Blick auf die in § 11 Abs. 3 BauNVO angesprochenen Auswirkungen auf die Entwicklung zentraler Versorgungsbereiche der Beklagten nicht von einer städtebaulichen Atypik des klägerischen Vorhabens ausgegangen werden.
4
Vor diesem Hintergrund hält die Beschwerde für grundsätzlich klärungsbedürftig,
ob eine städtebauliche Atypik zur Widerlegung der Vermutungsregelung in § 11 Abs. 3 BauNVO bereits dann vorliegt, wenn das Baugrundstück in einem zentralen Versorgungsbereich gelegen ist und der geplante Einzelhandelsbetrieb dem zugewiesenen Versorgungsauftrag des zentralen Versorgungsbereichs dient,
welche Kriterien des § 11 Abs. 3 BauNVO bei einer Lage in einem zentralen Versorgungsbereich für die Annahme einer städtebaulichen Atypik maßgeblich sind,
ob Auswirkungen auf andere zentrale Versorgungsbereiche im Sinne von § 11 Abs. 3 Satz 2 Alt. 5 BauNVO im Rahmen der Prüfung einer atypischen Fallgestaltung nach § 11 Abs. 3 Satz 4 BauNVO zu berücksichtigen sind, wenn das Vorhaben selbst innerhalb eines zentralen Versorgungsbereiches liegt,
und
ob ein im zentralen Versorgungsbereich gelegener Einzelhandelsbetrieb, der durch sein Warensortiment dem Versorgungsauftrag des zentralen Versorgungsbereiches dient, hinsichtlich der Verkaufsfläche auf eine Versorgung der Wohnbevölkerung im Nahbereich beschränkt werden kann.
5
Die Fragen führen nicht zur Zulassung der Revision. Auf sie lässt sich – soweit sie überhaupt einer über den konkreten Einzelfall hinausgehenden Antwort zugänglich sind – auf der Grundlage der vorhandenen Rechtsprechung und mit Hilfe der üblichen Regeln sachgerechter Gesetzesinterpretation antworten, ohne dass es der Durchführung eines Revisionsverfahrens bedarf (stRspr, vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 28. Mai 1997 – 4 B 91.97 – NVwZ 1998, 172 f., vom 24. August 1999 – 4 B 72.99 – BVerwGE 109, 268 , vom 23. Januar 2003 – 4 B 79.02 – Buchholz 406.11 § 1 BauGB Nr. 114 und vom 16. Juli 2019 – 4 B 9.19 – Buchholz 406.12 § 11 BauNVO Nr. 39 Rn. 4).
6
Gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BauNVO sind großflächige Einzelhandelsbetriebe, die sich nach Art, Lage oder Umfang auf die Verwirklichung der Ziele der Raumordnung und Landesplanung oder auf die städtebauliche Entwicklung und Ordnung nicht nur unwesentlich auswirken können, außer in Kerngebieten nur in für sie festgesetzten Sondergebieten zulässig. Solche – in § 11 Abs. 3 Satz 2 BauNVO beispielhaft bezeichneten – Auswirkungen sind gemäß § 11 Abs. 3 Satz 3 BauNVO in der Regel anzunehmen, wenn die Geschossfläche – wie hier (1 497 m²) – 1 200 m² überschreitet. Für das Eingreifen der Regelvermutung kommt es dabei nicht darauf an, ob der Einzelhandelsbetrieb von vornherein in der nun zu beurteilenden Größe errichtet oder ob ein bestehender Betrieb nachträglich erweitert werden soll (BVerwG, Beschluss vom 29. November 2005 – 4 B 72.05 – Buchholz 406.11 § 29 BauGB Nr. 67 Rn. 4). Die Vermutung ist allerdings widerleglich. Nach § 11 Abs. 3 Satz 4 Halbs. 1 BauNVO gilt die Regel des § 11 Abs. 3 Satz 3 BauNVO nicht, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass Auswirkungen bei mehr als 1 200 m² Geschossfläche nicht vorliegen; dabei sind in Bezug auf die in § 11 Abs. 3 Satz 2 BauNVO bezeichneten Auswirkungen gemäß § 11 Abs. 3 Satz 4 Halbs. 2 BauNVO insbesondere die Gliederung und die Größe der Gemeinde und ihrer Ortsteile, die Sicherung der verbrauchernahen Versorgung der Bevölkerung und das Warenangebot des Betriebs zu berücksichtigen. Entsprechende Abweichungen von der typischen Fallgestaltung können auf der betrieblichen Seite darin bestehen, dass der Betrieb beschränkt ist auf ein eingeschränktes Warensortiment (z.B. nur Gartenbedarf), auf Artikel, die üblicherweise in Verbindung mit handwerklichen Dienstleistungen (z.B. Kraftfahrzeughandel mit Werkstatt) angeboten werden, auf solche, die in einer gewissen Beziehung zu gewerblichen Nutzungen stehen (Baustoffhandel, Büromöbelhandel) oder aus sonstigen Gründen einen großen Flächenbedarf aufweisen. Auf der städtebaulichen Seite können Abweichungen von der dem § 11 Abs. 3 Satz 3 BauNVO zugrunde liegenden typischen Situation z.B. darin gesehen werden, dass der Einzugsbereich des Betriebs im Warenangebot bisher unterversorgt ist, dass zentrale Versorgungsbereiche an anderem Standort des Einzugsgebiets nicht geplant sind, oder dass der Betrieb in zentraler und für die Wohnbevölkerung allgemein gut erreichbarer Lage errichtet werden soll (BVerwG, Urteile vom 3. Februar 1984 – 4 C 54.80 – BVerwGE 68, 342 und vom 24. November 2005 – 4 C 10.04 – BVerwGE 124, 364 ).
7
Ob die Vermutung widerlegt werden kann, hängt danach maßgeblich davon ab, welche Waren angeboten werden, auf welchen Einzugsbereich der Betrieb angelegt ist und in welchem Umfang zusätzlicher Verkehr hervorgerufen wird. Entscheidend ist, ob der Betrieb über den Nahbereich hinauswirkt und dadurch, dass er unter Gefährdung funktionsgerecht gewachsener städtebaulicher Strukturen weiträumig Kaufkraft abzieht, auch in weiter entfernten Wohngebieten die Gefahr heraufbeschwört, dass Geschäfte schließen, auf die insbesondere nicht motorisierte Bevölkerungsgruppen angewiesen sind. Nachteilige Wirkungen dieser Art werden noch verstärkt, wenn der Betrieb in erheblichem Umfang zusätzlichen gebietsfremden Verkehr auslöst. Je deutlicher die Regelgrenze von 1 200 m² Geschossfläche überschritten ist, mit desto größerem Gewicht kommt die Vermutungswirkung des § 11 Abs. 3 Satz 3 BauNVO zum Tragen. Dabei kann allerdings die jeweilige Siedlungsstruktur nicht außer Betracht bleiben. Je größer die Gemeinde oder der Ortsteil ist, in dem der Einzelhandelsbetrieb angesiedelt werden soll, desto eher ist die Annahme gerechtfertigt, dass sich die potentiellen negativen städtebaulichen Folgen relativieren (BVerwG, Urteil vom 24. November 2005 – 4 C 10.04 – BVerwGE 124, 364 ; Beschluss vom 22. Juli 2004 – 4 B 29.04 – Buchholz 406.12 § 11 BauNVO Nr. 28 S. 26). Erforderlich ist somit, dass aufgrund konkreter Anhaltspunkte die Annahme gerechtfertigt erscheint, im betreffenden Fall handele es sich um ein Vorhaben, das aufgrund seiner betrieblichen Eigenheiten oder/und der besonderen städtebaulichen Situation nicht zu dem Betriebstyp gerechnet werden kann, den der Verordnungsgeber dem § 11 Abs. 3 Satz 3 BauNVO zugrunde gelegt hat (zu letzterem siehe BVerwG, Urteil vom 3. Februar 1984 – 4 C 54.80 – BVerwGE 68, 342 ).
8
Hieraus folgt, dass bei der Würdigung der städtebaulichen Situation die Lage eines großflächigen Einzelhandelsbetriebs in einem zentralen Versorgungsbereich ein gewichtiger Anhaltspunkt für die Abweichung von der Regel sein kann (vgl. OVG Münster, Urteile vom 2. Dezember 2013 – 2 A 1510/12 – BauR 2014, 1248 und vom 14. Juni 2019 – 7 A 2386/17 – BauR 2019, 1406 ; so auch Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand Oktober 2020, § 11 BauNVO Rn. 84 f.; Bischopink, in: Bönker/Bischopink, BauNVO, 2. Aufl. 2018, § 11 Rn. 151), aber als solches noch nicht notwendigerweise zur Widerlegung der Vermutung des § 11 Abs. 3 Satz 3 BauNVO führt. Denn einzelne Besonderheiten dürfen nicht isoliert von dem Gesamtbild des Betriebes und den maßgeblichen städtebaulichen Verhältnissen betrachtet werden (Stock, in: König/Roeser/Stock, BauNVO, 4. Aufl. 2019, § 11 Rn. 79). Folglich kann es im konkreten Fall auch weitere Anhaltspunkte betrieblicher oder/und städtebaulicher Natur geben, die für oder gegen die Widerlegung der Vermutung des § 11 Abs. 3 Satz 3 BauNVO streiten. Dient etwa die Errichtung eines großflächigen Einzelhandelsbetriebs in einem zentralen Versorgungsbereich dessen Stärkung oder der Beseitigung einer Unterversorgung mit nahversorgungsrelevanten Produkten, wird dies regelmäßig gegen die Vermutung des § 11 Abs. 3 Satz 3 BauNVO sprechen. Gleiches gilt, wenn der betreffende zentrale Versorgungsbereich für die jeweilige Stadt eine wesentliche Aufgabe hat und deswegen erhalten und weiterentwickelt werden soll, was durch seine Aufnahme in ein vorhandenes Einzelhandelskonzept (§ 1 Abs. 6 Nr. 4 BauGB) oder in entsprechenden Darstellungen im Flächennutzungsplan zum Ausdruck kommen kann (Söfker, in: Ernst/ Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand Oktober 2020, § 11 BauNVO Rn. 84 f.). Entsteht dagegen durch den großflächigen Einzelhandelsbetrieb im zentralen Versorgungsbereich eine Überversorgung mit nahversorgungsrelevanten Gütern und begründet dies die Gefahr, dass hierdurch Kaufkraft aus anderen Teilen des Gemeindegebiets, insbesondere anderen ebenfalls der Nahversorgung dienenden zentralen Versorgungsbereichen (siehe BVerwG, Urteil vom 17. Dezember 2009 – 4 C 2.08 – BVerwGE 136, 10 Rn. 8 f.) abgezogen wird, kann es sich gleichwohl um einen i.S.v. § 11 Abs. 3 Satz 3 BauNVO typischen Fall handeln. Die konkreten (Gesamt-)Umstände zu ermitteln und sie im Hinblick auf § 11 Abs. 3 Satz 3 BauNVO zu bewerten, ist indessen Aufgabe des Tatrichters und einer über den Einzelfall hinausgehenden Klärung nicht zugänglich.
9
2. Die Beschwerde legt eine Abweichung der Berufungsentscheidung vom Urteil des Senats vom 24. November 2005 – 4 C 10.04 – (BVerwGE 124, 364 ) nicht dar.
10
Eine Abweichung zu einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts ist nur dann im Sinne des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO hinreichend bezeichnet, wenn die Beschwerde einen inhaltlich bestimmten, die angefochtene Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz benennt, mit dem die Vorinstanz einem in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten, gleichermaßen entscheidungstragenden Rechtssatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift widersprochen hat (BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 – 7 B 261.97 – Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 26 S. 14). Eine solche Abweichung zeigt die Beschwerde nicht auf. Sie zitiert zwar einzelne Passagen aus dem vorgenannten Urteil, stellt diesen aber keinen hiervon divergierenden Rechtssatz der angefochtenen Entscheidung gegenüber. In der Sache wirft sie dem Oberverwaltungsgericht vor, das Urteil des Senats fehlerhaft angewandt zu haben. Auf den Vorwurf einer fehlerhaften Rechtsanwendung im Einzelfall kann die Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO aber nicht gestützt werden (stRspr, z.B. BVerwG, Beschlüsse vom 19. August 1997 – 7 B 261.97 – Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 26 S. 14 und vom 8. Oktober 2020 – 4 BN 60.19 – juris Rn. 8).
11
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Festsetzung des Streitwerts auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.


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