Baurecht

Entscheidung durch den Einzelrichter; Verhältnismäßigkeit einer bauordnungsrechtlichen Nutzungsuntersagung

Aktenzeichen  2 M 159/21

Datum:
23.2.2022
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt 2. Senat
Dokumenttyp:
Beschluss
ECLI:
ECLI:DE:OVGST:2022:0223.2M159.21.00
Normen:
§ 6 Abs 1 VwGO
§ 79 Abs 2 BauO ST 2013
Art 101 Abs 1 S 2 GG
Spruchkörper:
undefined

Leitsatz

1. Zum Verstoß gegen den gesetzlichen Richter bei einer Entscheidung durch den Einzelrichter an Stelle der Kammer.(Rn.21)

2. Zur Verhältnismäßigkeit einer bauordnungsrechtlichen Nutzungsuntersagung bei fehlender Baugenehmigung.(Rn.26)

Verfahrensgang

vorgehend VG Halle (Saale), 19. November 2021, 2 B 250/21 HAL, Beschluss

Tenor

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.500 € festgesetzt.

Gründe

I.
Die Antragsteller wenden sich gegen eine bauordnungsrechtliche Verfügung der Antragsgegnerin, mit der ihnen die Nutzung ihrer Wohnung untersagt wurde.
Mit Bescheid vom 16. März 2016 erteilte die Antragsgegnerin der F. GmbH eine Baugenehmigung für die Änderung und Erweiterung der alten Textilmanufaktur auf den Grundstücken A-Straße und P-Straße … in A-Stadt sowie die Nutzungsänderung zu Wohnen. Diese Baugenehmigung umfasste auch den südöstlichen Teil des Bauteils D.
Mit Bescheid vom 17. Dezember 2018 verfügte die Antragsgegnerin die 3. Änderung dieser Baugenehmigung. Hierin hieß es, die Nutzungseinheiten im südöstlichen Teil des Bauteils D verblieben im Bestand. Auf Seite 3 des Bescheides findet sich der Hinweis, dass die Nutzungseinheiten im südöstlichen Teil des Bauteils D im Bestand verblieben und somit kein Bestandteil dieser 3. Änderung seien.
Am 7. Mai 2020 beantragte die F. GmbH bei der Antragsgegnerin die Erteilung einer Baugenehmigung für das Vorhaben „Aus- und Umbau der bestehenden Wohnungen in 2 Maisonette-Wohnungen und Erneuerung der Balkonanlage“ auf dem Grundstück P-Straße … in A-Stadt. Gegenstand dieses Bauantrags ist der Umbau und die Sanierung des in den beigefügten Lageplänen vom 9. März 2020 (BA Bl. 37 und 38) dargestellten Gebäudes. Hierbei handelt es sich um den südöstlichen Teil des Bauteils D.
In seinem 1. Prüfbericht vom 11. September 2020 (BA Bl. 213 ff.) gelangte der Prüfingenieur Dipl.-Ing J. H. unter Nr. 16 zu dem Ergebnis, dass die dem Bauantrag vom 7. Mai 2020 beigefügte Statik zur Bauausführung nicht geeignet sei. Aus statisch-konstruktiver Sicht könne die Erteilung der Baugenehmigung zur Zeit nicht empfohlen werden. Aus statischer Sicht bestünden Einwände gegen die Erteilung der Baugenehmigung. Unter Nr. 14.4 der Prüfbemerkungen führte er aus, durch den Rückbau der aussteifenden Innenwände und die Herstellung von großen Deckenöffnungen für interne Treppen müsse die Gebäudestatik vollumfänglich untersucht und nachgewiesen werden. Die bisher geplanten Stahlrahmen könnten das Gebäude nicht hinreichend aussteifen. Die geplanten Stahlrahmen wiesen eine zu geringe Steifigkeit auf. Der horizontale und vertikale Lastabtrag der Aussteifungslasten sei nicht nachgewiesen.
Am 15. September 2020 stellte die Antragsgegnerin fest, dass mit den Bauarbeiten auf dem Grundstück P-Straße … in A-Stadt begonnen worden sei, und zwar anders, als in den eingereichten Zeichnungen dargestellt (BA Bl. 110).
Am 16. September 2020 wurde von der Antragsgegnerin gegenüber der Bauherrin, der F. GmbH, telefonisch ein Baustopp ausgesprochen (BA Bl. 111).
Mit Bescheid vom 29. September 2020 (BA Bl. 192 ff.) gab die Antragsgegnerin der F. GmbH unter Anordnung der sofortigen Vollziehung auf, die ohne die erforderliche Baugenehmigung begonnenen Bauarbeiten auf dem Grundstück P-Straße … in A-Stadt mit sofortiger Wirkung einzustellen. Zur Begründung verwies sie darauf, dass die durchgeführten Bauarbeiten einer Baugenehmigung bedürften, die aber nicht vorliege. Zudem bestünden nach dem 1. Prüfbericht vom 11. September 2020 aus statischer Sicht Einwände gegen die Erteilung der Baugenehmigung.
Am 1. Oktober 2020 fand eine Begehung der Baustelle statt. Mit Schreiben vom 2. Oktober 2020 (BA B. 118) erhob die Antragsgegnerin gegenüber der F. GmbH verschiedene Nachforderungen. In dem Schreiben hieß es, eine gültige Baugenehmigung für die beantragten Arbeiten liege nicht vor, somit sei eine Nutzungsaufnahme des Gebäudes P-Straße … nicht möglich. Die Planunterlagen seien an die tatsächlichen Gegebenheiten anzupassen und zur Prüfung vorzulegen. Die angegebenen Wandstärken stimmten nicht mit dem Bestand überein. Die statischen Berechnungen seien unter Beachtung des Prüfberichts vom 11. September 2020 sowie der bisherigen Prüfeintragungen zu überarbeiten und neu zur Prüfung vorzulegen.
Im 2. Prüfbericht vom 4. Dezember 2020 (BA Bl. 218 ff.) gelangte der Prüfingenieur H. unter Nr. 16 zu dem Ergebnis, dass auch die im Oktober 2020 nachgereichte Statik zur Bauausführung nicht geeignet sei und aus statisch-konstruktiver Sicht die Erteilung der Baugenehmigung zur Zeit nicht empfohlen werden könne. Aus statischer Sicht bestünden Einwände gegen die Erteilung der Baugenehmigung. Die Prüfbemerkungen unter Nr. 14.4 entsprachen den Prüfbemerkungen aus dem 1. Prüfbericht vom 11. September 2020.
Mit Schreiben vom 3. September 2021 (BA Bl. 127) teilte die Antragsgegnerin der Bauherrin mit, dass die Einleitung eines bauaufsichtlichen Verfahrens geprüft werde, da festgestellt worden sei, dass die Arbeiten an dem Objekt P-Straße … in A-Stadt trotz Baustopp fertiggestellt worden seien.
Hierzu nahm der Bausachverständige Dipl.-Ing. W. für die Bauherrin mit Schreiben vom 10. September 2021 (BA Bl. 128) Stellung. Der Nachweis der Standsicherheit für den betreffenden Gebäudeteil sei inzwischen durch die nachgereichte Stellungnahme des Tragwerksplaners Kokott erbracht worden. In dem ursprünglichen Bauantrag, der Grundlage für die Baugenehmigung vom 16. März 2016 gewesen sei, sei hingegen kein Standsicherheitsnachweis für den hier maßgeblichen Gebäudeteil des Hinterhauses P-Straße … enthalten gewesen. Der damalige Statiker/Tragwerksplaner Dipl.-Ing. E. habe die statische Berechnung für diesen Gebäudeteil zwar begonnen, aber nicht abgeschlossen. Die fraglichen Räume im Gebäude des Bauteils D hätten damit noch keinen geprüften Standsicherheitsnachweis. Ein umfassender Standsicherheitsnachweis für das Gesamtgebäude (Bauteil D) werde nunmehr kurzfristig in Auftrag gegeben.
Im 3. Prüfbericht vom 13. September 2021 (BA Bl. 262 ff.) gelangte der Prüfingenieur H. unter Nr. 16 zu dem Ergebnis, dass auch die Statik des Dipl.-Ing. (FH) K. vom 22. Januar 2021 (BA Bl. 66 ff.) zur Bauausführung nicht geeignet sei und aus statisch-konstruktiver Sicht die Erteilung der Baugenehmigung zur Zeit nicht empfohlen werden könne. Aus statischer Sicht bestünden Einwände gegen die Erteilung der Baugenehmigung. In den Prüfbemerkungen hieß es unter Nr. 14.2, die nachgereichten Unterlagen enthielten Nachweise zur Gebäudeaussteifung. Demnach solle die Gebäudeaussteifung nun durch eine freistehende Stahlbetonwand im Hof und eine Stahlbetonkragstütze in der Brandwand zum Nachbargebäude sichergestellt werden. Beide Maßnahmen seien hinsichtlich der geringen Biegesteifigkeit, der unverträglichen Kopfverformungen sowie der klaffenden Fuge unter den Fundamenten nicht geeignet, Aussteifungslasten aufzunehmen und in den Baugrund abzuleiten.
Bei einer weiteren Ortsbesichtigung am 15. September 2021 stellte die Antragsgegnerin fest, dass das Objekt P-Straße … in A-Stadt in Nutzung genommen wurde. Eine Überprüfung ergab, dass die Antragsteller am 23. März 2021 in eine der beiden Maisonette-Wohnungen in dem Gebäude P-Straße … in A-Stadt eingezogen waren. Herr Dr. A., der Antragsteller im Parallelverfahren 2 M 160/21, war am 12. Mai 2021 in die andere Maisonette-Wohnung eingezogen.
Mit Schreiben vom 22. September 2021 wurden die Antragsteller sowie Herr Dr. A. zu einem möglichen Nutzungsverbot angehört (BA Bl. 289 ff.). Hierzu nahmen diese mit Schreiben vom 1. Oktober 2021 (BA Bl. 160) Stellung.
Am 5. Oktober 2021 erklärte der prüfende Ingenieur für Standsicherheit B. vom Ingenieurbüro R. und Partner auf Nachfrage, dass eine Duldung der Nutzung im aktuellen Umbauzustand, wie im Schreiben der Antragsteller vom 1. Oktober 2021 angefragt, ausgeschlossen sei (BA Bl. 264).
Mit Bescheid vom 6. Oktober 2021 (BA Bl. 321) gab die Antragsgegnerin den Antragstellern unter Anordnung der sofortigen Vollziehung auf, die Nutzung der Wohnung in dem als Anlage 1 beigefügten Plan rot gekennzeichneten Gebäude P-Straße … in A-Stadt unverzüglich, spätestens bis zum 19. November 2021, einzustellen. Zur Begründung verwies sie darauf, dass der derzeitige Bau- und Nutzungszustand nicht durch eine Baugenehmigung gedeckt sei und mit Prüfbericht vom 13. September 2021 festgestellt worden sei, dass die Standsicherheit für das in Anlage 1 rot gekennzeichnete Gebäude nicht nachgewiesen sei. Eine Duldung der Nutzung im aktuellen Umbaustatus sei ausgeschlossen. Durch die nicht nachgewiesene Standsicherheit des Gebäudes P-Straße … bestehe eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben. Ein weiteres Zuwarten sei nicht hinnehmbar. Hiergegen legten die Antragsteller mit Schreiben vom 16. Oktober 2021 Widerspruch ein, über den noch nicht entschieden ist.
Am 18. November 2021 haben die Antragsteller beim Verwaltungsgericht im Verfahren 2 B 250/21 HAL einen Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs gestellt.
Mit Beschluss vom 23. November 2021 hat das Verwaltungsgericht den Rechtsstreit der Berichterstatterin als Einzelrichterin zur Entscheidung übertragen. Mit einem am 24. November 2021 bei der Geschäftsstelle eingegangenen Beschluss, der das Datum vom 19. November 2021 trägt, hat das Verwaltungsgericht den Antrag abgelehnt und zur Begründung ausgeführt, der Bescheid vom 6. Oktober 2021, mit dem die Antragsgegnerin den Antragstellern aufgegeben habe, die Nutzung ihrer Wohnung einzustellen, sei voraussichtlich rechtmäßig und verletze die Antragsteller nicht in ihren Rechten. Die Voraussetzungen für eine Nutzungsuntersagung nach § 79 Satz 2 BauO LSA lägen vor. Die aufgenommene und durch den angefochtenen Bescheid untersagte Nutzung sei nicht durch eine Baugenehmigung legalisiert. Über den Bauantrag betreffend die zwei Maisonette-Wohnungen im Gebäude D vom 7. Mai 2020, mithin auch die Wohnung, die Gegenstand der Nutzungsuntersagung sei, habe die Antragsgegnerin nicht entschieden. Insoweit sei die Aufnahme der Wohnnutzung ohne die erforderliche Baugenehmigung formell illegal. Die Errichtung der in Rede stehenden Wohnungen sei von der Baugenehmigung vom 16. März 2016 nicht umfasst. Diese genehmige zwar das als „Änderung und Erweiterung der alten Textilmanufaktur, Nutzungsänderung zu Wohnen“ bezeichnete Vorhaben und betreffe mit dem Haus D auch den hier in Rede stehenden Gebäudekomplex. Denn die Maisonette-Wohnung befinde sich in dem Gebäude, das als Haus D bezeichnet werde. Ausweislich der Nebenbestimmung Nr. 22 zur Baugenehmigung vom 16. März 2016 sei das Haus D „nicht Bestandteil der vorliegenden statischen Berechnung“, die „notwendigen statischen Nachweise“ seien (noch) „zu führen und zur Prüfung vorzulegen“. An dem genehmigten Bauvorhaben betreffend den Gebäudeteil D habe der Bauherr aber nicht festgehalten. Denn er habe zu der Baugenehmigung vom 16. März 2016 mehrere Nachträge und Änderungen beantragt, aus denen sich ergebe, dass die Nutzungseinheiten im südöstlichen Teil des Bauteils D im Bestand verbleiben sollten. Dass der Bauherr gegenüber seinem ursprünglichen Bauantrag Änderungen im Bauteil D vorgenommen habe, ergebe sich auch aus dem Schreiben seines Bevollmächtigten vom 26. Oktober 2021, in dem es heiße, dass Änderungen im Bauteil D nur insoweit vorgenommen worden seien, als anstatt Wendeltreppen Steigtreppen eingebaut worden seien. Insoweit würden Baumaßnahmen an den innenliegenden Öffnungen eingeräumt. Dass die derzeitige Nutzung nicht von einer Baugenehmigung umfasst sei, ergebe sich aus den zahlreichen Änderungen des Ursprungsvorhabens und dem Umstand, dass der Bauherr selbst den neuen Bauantrag im Mai 2020 bei der Antragsgegnerin betreffend die in Rede stehende Wohnungen gestellt habe. Die Nutzungsuntersagung leide auch nicht an Ermessensfehlern. Die Heranziehung der Nutzer stelle eine effektive Gefahrenabwehr dar. Zwar gehe die Gefahr von dem Gebäude und nicht von den Nutzern aus. Die Untersagung der Nutzung erfolge indes aus dem Umstand, dass eine Nutzung ohne Erteilung der erforderlichen Baugenehmigung nicht aufgenommen werden dürfe. Zwar erweise sich die Nutzungsuntersagung für die Nutzer der Wohnung, die dort offenbar bereits ihren Hauptwohnsitz genommen hätten, als besonders schwerwiegender Eingriff. Die Nutzungsuntersagung diene aber gerade (auch) dem Schutz dieser Nutzer. Denn sie wären im Falle eines (Teil-) Einsturzes in erster Linie betroffen. Ermessenseinschränkend sei nicht zu berücksichtigen gewesen, dass die Antragsteller offenbar keine Kenntnis von der fehlenden Baugenehmigung gehabt hätten. Es gehe nicht um einen individuellen Schuldvorwurf gegen sie, sondern um eine Maßnahme der Gefahrenabwehr zum Schutz von Leib und Leben. Ermessenseinschränkend sei auch nicht zu berücksichtigen gewesen, dass offenbar die Ansicht vertreten werde, auch ohne Standsicherheitsnachweis sei die Standsicherheit gegeben. Dies sei nicht glaubhaft gemacht. Sinn und Zweck eines Standsicherheitsnachweises sei gerade der Nachweis der Standsicherheit, der hier nicht erbracht sei. Die Nutzungsuntersagung verstoße auch nicht gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Die erheblichen Eingriffe seien aufgrund der Gefahr für Leib und Leben und Hab und Gut der Nutzer der Wohnungen in dem Haus D gerechtfertigt. Dabei dürfe sich die Antragsgegnerin auf den fehlenden Statiknachweis beziehen. Es gehe um Leib und Leben der Nutzer der Wohnungen in einem Gebäude, dessen Statik nicht nachgewiesen sei. Ein Statiknachweis habe bereits in dem Baugenehmigungsverfahren gefehlt, das zur Baugenehmigung vom 16. März 2016 geführt habe. Soweit das Vorliegen der Standsicherheit zwischen den Beteiligten streitig sei, sei es nicht unverhältnismäßig, wenn die Antragsgegnerin sich im Rahmen der Nutzungsuntersagung auf die Prüfberichte in dem Baugenehmigungsverfahren betreffend den Antrag von Mai 2020 beziehe. Dass damit die Antragsgegnerin nicht der Einschätzung des Entwurfsverfassers folge, sei nicht ermessensfehlerhaft. Es sei nicht unverhältnismäßig, wenn die Antragsgegnerin im Rahmen ihrer Ermessenserwägungen von der materiellen Rechtswidrigkeit der Nutzungsaufnahme wegen der nicht nachgewiesenen Statik ausgehe. Es sei plausibel, dass sich durch das Einbringen der Steigtreppen und dem damit verbundenen Entfernen von innenliegenden (tragenden) Wänden die Statik des gesamten Gebäudes ändere. Zudem erweise es sich auch nicht als ermessensfehlerhaft, wenn die Antragsgegnerin zunächst nur gegen die Nutzer der Maisonette-Wohnung eine Nutzungsuntersagung ausspreche. Dass möglicherweise weitere Personen gefährdet seien, erfordere möglicherweise eine weitere Nutzungsuntersagung gegenüber diesen Personen.
II.
Die Beschwerde der Antragsteller hat keinen Erfolg. Die dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigen keine Änderung der erstinstanzlichen Entscheidung.
1. Ohne Erfolg machen die Antragsteller eine Verletzung ihres Rechts auf Entscheidung durch den gesetzlichen Richter geltend, da das Verwaltungsgericht bereits am 19. November 2021 durch die Einzelrichterin entschieden habe, obwohl das Verfahren erst am 23. November 2021 gemäß § 6 Abs. 1 VwGO durch die Kammer auf die Berichterstatterin als Einzelrichterin übertragen worden sei. Diese Rüge ist unberechtigt. Zwar kann sich ein Verstoß gegen den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG auch aus einer Entscheidung durch den Einzelrichter an Stelle der Kammer ergeben (OVG NRW, Beschluss vom 21. Dezember 2018 – 8 B 1335/18 – juris Rn. 4 m.w.N.). Für die Annahme eines Verstoßes gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG reicht jedoch nicht jede irrtümliche Überschreitung der Kompetenzen und nicht jede fehlerhafte Anwendung des Prozessrechts aus. Die Grenze zur Verfassungswidrigkeit ist erst überschritten, wenn die fehlerhafte Auslegung und Anwendung einfachen Rechts willkürlich oder manipulativ ist (BVerwG, Beschluss vom 15. Oktober 2001 – 8 B 104/01 – juris Rn. 7 m.w.N.). Im vorliegenden Fall ist die Entscheidung in der Sache durch die Einzelrichterin erst nach Wirksamwerden des Beschlusses über die Übertragung des Rechtsstreits auf die Berichterstatterin als Einzelrichterin ergangen. Die Einzelrichterübertragung wird nach verbreiteter Auffassung erst wirksam, wenn sie den Beteiligten bekannt gegeben wird. Nach anderer Auffassung soll die Wirksamkeit schon eintreten, wenn die Entscheidung zur Post gegeben oder auf der Geschäftsstelle niedergelegt wird (OVG NRW, Beschluss vom 2. November 2017 – 4 B 891/17 – juris Rn. 22 m.w.N.). Hiernach wurde die Einzelrichterübertragung spätestens am 24. November 2021 mit der Übersendung des Einzelrichterbeschlusses vom 23. November 2021 an die Beteiligten (im elektronischen Rechtsverkehr) wirksam (GA Bl. 55). Die Entscheidung durch die Einzelrichterin erging nach Aktenlage erst danach. Zwar trägt der in der Sache ergangene Beschluss der Einzelrichterin das Datum vom 19. November 2021. Das ist aber offenbar nur eine Falschbezeichnung, denn auf dem in den Gerichtsakten enthaltenen Original des Beschlusses befindet sich der Vermerk: „Bei der Geschäftsstelle eingegangen am 24. November 2021“ (GA Bl. 58). Eine Zustellung an die Beteiligten erfolgte erst am 25. November 2021 (GA B. 72 ff.). Da ein Beschluss erst mit der Übermittlung an die Beteiligten, nach anderer Ansicht schon mit der Übergabe an die Geschäftsstelle erlassen wird (vgl. Clausing/Kimmel, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Band VwGO, Stand: Juli 2021, § 116 VwGO Rn. 10), gilt für das vorliegende Verfahren, dass die Einzelrichterin erst nach der am 24. November 2021 wirksam gewordenen Übertragung des Rechtsstreits auf sie in der Sache entschieden hat. Zumindest durfte sie wegen des bereits am 23. November 2021 gefassten Kammerbeschlusses über die Einzelrichterübertragung von ihrer Zuständigkeit ausgehen. Dass der Entscheidungsentwurf bereits vollständig fertig gestellt war, bevor die Rechtssache der Einzelrichterin zur Entscheidung übertragen worden ist, und der Übertragungsbeschluss vor der Sachentscheidung durch die Einzelrichterin noch nicht bei der Geschäftsstelle niedergelegt war, so dass es an jeder Grundlage für eine verfassungsrechtlich noch vertretbare Annahme der Entscheidungszuständigkeit der Einzelrichterin fehlt (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 2. November 2017 – 4 B 891/17 – a.a.O. Rn. 24 ff.), kann hier nicht festgestellt werden. Selbst wenn dem Verwaltungsgericht insoweit ein Verfahrensfehler unterlaufen sein sollte, was fern liegt, würde dies allein der Beschwerde selbst dann nicht zum Erfolg verhelfen, wenn die angegriffene Entscheidung darauf beruhte. Hierauf wäre es nur nach dem bis zum 31. Dezember 2001 geltenden Prozessrecht angekommen. Danach hatte das Rechtsmittelgericht zunächst über die Zulassung der Beschwerde zu befinden. Die Beschwerde war unter anderem zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wurde und vorlag, auf dem die erstinstanzliche Entscheidung beruhen konnte. Im Fall der Zulassung war die Beschwerde jedoch schon nach altem Prozessrecht nur dann erfolgreich, wenn die Rechtsverfolgung oder -verteidigung des Beschwerdeführers inhaltlich begründet war. Nachdem das Zulassungserfordernis weggefallen und das Beschwerdeverfahren unbeschränkt eröffnet ist, kommt es nur noch auf den Erfolg in der Sache selbst an (vgl. Beschluss des Senats vom 29. September 2021 – 2 M 64/21 – juris Rn. 7).
2. Die Antragsteller machen darüber hinaus geltend, die Nutzungsuntersagung verstoße – entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts – gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip, da die Umsetzung der in der neuen statischen Berechnung der Diplomingenieure H. GmbH vom 18. November 2021 geplanten statischen Ertüchtigung, der der Prüfingenieur H. in seinem 4. Prüfbericht vom 10. Dezember 2021 zugestimmt habe und die auch mit Teilbaugenehmigung der Antragsgegnerin vom 17. Dezember 2021 zugelassen worden sei, kurzfristig erfolgen werde. Hiermit seien alle Bedenken der Antragsgegnerin ausgeräumt. Zwar seien Ertüchtigungsmaßnahmen erforderlich, es seien aber (weiterhin) keine Ansätze für eine Einsturzgefahr des Gebäudes ersichtlich. Aktuell werde die Werkplanung erstellt. Die ausführenden Firmen seien bereits vertraglich gebunden. Die Arbeiten würden mit Hochdruck weiter vorbereitet und durchgeführt, so dass es unter Berücksichtigung des bisherigen Zeitablaufs unverhältnismäßig wäre, ihre Hauptwohnung noch vorab zwangsweise räumen zu lassen. Dies habe offensichtlich auch das Verwaltungsgericht im Nachgang erkannt und die Nutzungsuntersagung der Antragsgegnerin gegen die Bauherrin, die F. GmbH, mit Beschluss vom 26. November 2021 – 2 B 246/21 HAL – als ermessensfehlerhaft angesehen.
Diese Einwände greifen nicht durch. Das Verwaltungsgericht hat zu Recht angenommen, dass die Nutzungsuntersagung der Antragsgegnerin vom 6. Oktober 2021 voraussichtlich rechtmäßig ist und die Antragsteller nicht in ihren Rechten verletzt.
Rechtsgrundlage hierfür ist § 79 Satz 2 BauO LSA. Nach dieser Vorschrift kann, wenn bauliche Anlagen im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften genutzt werden, diese Nutzung untersagt werden.
Die Voraussetzungen eines Einschreitens nach § 79 Satz 2 BauO LSA liegen vor. Sie sind erfüllt, wenn eine bauliche Anlage formell illegal – also ohne die erforderliche Genehmigung – genutzt wird. Die Nutzung einer baulichen Anlage ist formell illegal, wenn sie baugenehmigungspflichtig, aber nicht genehmigt ist, wenn also eine für sie erforderliche Baugenehmigung nicht oder nicht mehr vorliegt (Beschluss des Senats vom 18. Oktober 2018 – 2 M 71/18 – juris Rn. 16 m.w.N.). Die Nutzung der Maisonette-Wohnung in dem südöstlichen Teil des Bauteils D der alten Textilmanufaktur auf dem Grundstück P-Straße … in A-Stadt durch die Antragsteller zu Wohnzwecken ist formell illegal, weil hierfür eine Baugenehmigung erforderlich wäre, die aber nicht vorliegt. Dies folgt – wie die Antragsgegnerin in ihrem Schreiben vom 13. Januar 2022 noch einmal erläutert hat – daraus, dass mit Erteilung der 3. Änderung zur Baugenehmigung vom 16. März 2016 am 17. Dezember 2018 antragsgemäß beschieden wurde, dass die Nutzungseinheiten im südöstlichen Teil des Bauteils D nicht länger einer baulichen Änderung unterzogen werden und im Bestand verbleiben sollten. Damit waren statisch relevante und damit bauaufsichtlich zu prüfende Umbaumaßnahmen im südöstlichen Teil des Bauteils D nicht mehr Gegenstand der Baugenehmigung. Die geplanten Deckendurchbrüche für Innentreppen sowie statisch relevante Änderungen von Innenwänden im südöstlichen Teil des Bauteils D sind stattdessen Gegenstand des Antrags auf Erteilung einer Baugenehmigung vom 7. Mai 2020, über den die Antragsgegnerin noch nicht entschieden hat. Gleichwohl wurden statisch relevante Bauteile im südöstlichen Teil des Bauteils D ausgeführt. Hierbei handelt es sich insbesondere um Innentreppen zwischen dem EG und dem 1. OG sowie zwischen dem 2. OG und dem 3. OG. sowie um statisch relevante Änderungen von Innenwänden. Dies ist (mittlerweile) zwischen den Beteiligten auch unstreitig.
Das Verwaltungsgericht hat zutreffend erkannt, dass die Nutzungsuntersagung frei von Ermessensfehlern ist. Sie verstößt – entgegen der Auffassung der Antragsteller – insbesondere nicht gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Die Unverhältnismäßigkeit einer bauordnungsrechtlichen Nutzungsuntersagung setzt voraus, dass der erforderliche Bauantrag vorliegt, das Vorhaben auch nach Auffassung der Baugenehmigungsbehörde genehmigungsfähig ist und der Erteilung der Baugenehmigung keine sonstigen Hindernisse entgegenstehen (OVG NRW, Beschluss vom 9. Februar 2016 – 7 B 901/15 – juris Rn. 5 m.w.N.). Nur wenn sich die Genehmigungsfähigkeit geradezu aufdrängt, kann sich die Behörde wegen des auch im öffentlichen Recht geltenden Grundsatzes von Treu und Glauben auf die fehlende Genehmigung nicht berufen (Beschluss des Senats vom 10. April 2018 – 2 M 6/18 – juris Rn. 10 m.w.N.). Insbesondere bei Fehlen des erforderlichen Standsicherheitsnachweises ist eine Nutzungsuntersagung jedoch regelmäßig gerechtfertigt (vgl. BayVGH, Beschluss vom 27. August 2002 – 26 B 00.2110 – juris Rn. 23).
Gemessen daran ist die angefochtene Nutzungsuntersagung verhältnismäßig. Die Verhältnismäßigkeit folgt daraus, dass nach den Angaben in den Prüfberichten des Prüfingenieurs H. vom 11. September 2020, 4. Dezember 2020 und 13. September 2021 der Nachweis der Standsicherheit der geplanten (und mittlerweile offenbar auch durchgeführten) Umbaumaßnahmen in dem südöstlichen Teil des Bauteils D nicht erbracht ist. Soweit die Antragsteller geltend machen, der fehlende Nachweis der Standsicherheit bedeute nicht, dass die Standsicherheit fehle, handelt es sich um eine reine Spekulation. Gerade um größere Unglücksfälle auszuschließen, kann die Nutzung eines Gebäudes nach einer Umbaumaßnahme erst dann zugelassen werden, wenn die Standsicherheit des fraglichen Gebäudes sicher festgestellt ist.
Etwas anderes folgt auch nicht daraus, dass – nach den Angaben der Antragsteller – die Umsetzung der in der neuen statischen Berechnung der Diplomingenieure H. GmbH vom 18. November 2021 geplanten statischen Ertüchtigung kurzfristig erfolgt. Geplant ist die Ertüchtigung der Decken als statisch wirksame Deckenscheiben für das Bauvorhaben P-Straße …, Bauteil D. Die vorhandene Holzbalkendecke über dem 1. OG sowie die Dachdecke sollen für die erforderliche Gebäudeaussteifung als statisch wirksame Scheiben ausgebildet werden. Hierzu ist jeweils eine einseitige Beplankung mit einer Lage OSB-Platten vorgesehen. Die vorhandene Deckenschalung ist hierfür zu entfernen. Die Decken werden unterseitig beplankt unter Erhalt des Fußbodenaufbaus. Putz und Unterdecke sind (vorübergehend) zu entfernen. Die Decken über dem EG und 2. OG mit giebelseitiger Treppenöffnung bleiben ohne Scheibenwirkung im Bestand erhalten. In seinem 4. Prüfbericht vom 10. Dezember 2021 führt der Prüfingenieur H. dazu aus, dass aus statischer Sicht bei Beachtung der Grüneintragungen und der Angaben im Prüfbericht keine Einwände bestünden. Gegen die Bauausführung nach den geprüften Unterlagen bestünden hinsichtlich der Standsicherheit keine Bedenken. Mit Teilbaugenehmigung vom 17. Dezember 2021 erteilte die Antragsgegnerin der F. GmbH als Bauherrin eine Teilbaugenehmigung für die statische Ertüchtigung der Geschossdecken und die dazugehörigen Nebenarbeiten gemäß der im Prüfbericht vom 10. Dezember 2021 aufgeführten statischen Nachweise auf dem Grundstück P-Straße … in A-Stadt.
Es spricht zwar manches dafür, dass auf der Grundlage der neuen statischen Berechnung vom 18. November 2021 die am 7. Mai 2020 beantragte Baugenehmigung für die Umbaumaßnahmen auf dem Grundstück P-Straße … erteilt werden kann. Diese Maßnahmen sind jedoch erst noch umzusetzen. Es ist nicht absehbar, wie lange die Umsetzung noch dauern wird. Es fehlt zudem an einer Abnahme der Maßnahmen. Selbst wenn also davon auszugehen sein sollte, dass die Standsicherheit nach Umsetzung der in der statischen Berechnung vom 18. November 2021 vorgeschlagenen Maßnahmen gegeben ist, so bleibt die Standsicherheit des Gebäudes derzeit (noch) nicht nachgewiesen. Eine Einsturzgefahr des Gebäudes ist zwar nicht belegt, aber auch nicht ausgeschlossen. Dies rechtfertigt die Nutzungsuntersagung.
Aus dem Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 26. November 2021 – 2 B 246/21 HAL – folgt nichts Anderes. Entgegen der Behauptung der Antragsteller hat das Verwaltungsgericht hierin keineswegs eine gegen die F. GmbH gerichtete Nutzungsuntersagung als ermessensfehlerhaft angesehen (und sich damit zu seinem Beschluss im vorliegenden Verfahren in Widerspruch gesetzt). Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts vom 26. November 2021 betraf vielmehr eine gegen die F. GmbH gerichtete Duldungsverfügung, die das Verwaltungsgericht als unnötig ansah, weil die Untersagung der Nutzung eines Grundstücks nicht geeignet sei, die Rechtsstellung des Grundeigentümers nachteilig zu berühren.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47, 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG. Die sich aus dem Antrag der Antragsteller für sie ergebende Bedeutung der Sache bemisst der Senat nach den Empfehlungen in Nr. 9.4 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013. Darin wird bei Streitigkeiten im Baurecht um ein Nutzungsverbot als Streitwert ein Betrag in Höhe des Schadens oder der Aufwendungen (geschätzt) vorgeschlagen. Hiernach erscheint ein Wert von 5.000 € angemessen, der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren zu halbieren ist.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).


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