Baurecht

Nichtzulassungsbeschwerde: Verletzung des Grundsatzes der Öffentlichkeit der Verhandlung bei Verzichtserklärung der Parteien

Aktenzeichen  XI ZR 355/19

Datum:
24.11.2020
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
BGH
Dokumenttyp:
Beschluss
ECLI:
ECLI:DE:BGH:2020:241120BXIZR355.19.0
Normen:
§ 547 Nr 5 ZPO
§ 169 Abs 1 S 1 GVG
Spruchkörper:
11. Zivilsenat

Verfahrensgang

vorgehend OLG Stuttgart, 1. Juli 2019, Az: 9 U 270/18vorgehend LG Stuttgart, 17. Oktober 2018, Az: 29 O 653/16nachgehend BGH, 30. März 2021, Az: XI ZR 355/19, Beschluss

Tenor

Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des 9. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 1. Juli 2019 in der Fassung des Beschlusses vom 5. August 2019 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens (§ 97 Abs. 1 ZPO).
Der Gegenstandswert des Beschwerdeverfahrens beträgt bis zu 27.150.000 €.

Gründe

I.
1
Die Klägerin begehrt von der Beklagten Schadensersatz wegen behaupteter fehlerhafter Beratung in Zusammenhang mit dem Abschluss von zwei Swap-Verträgen.
2
Das Landgericht hat die auf Zahlung und verschiedene Feststellungen gerichtete Klage abgewiesen. Gegen dieses Urteil hat die Klägerin Berufung eingelegt.
3
Das Berufungsgericht hat für den 8. Mai 2019, 14 Uhr, Termin zur mündlichen Verhandlung über die Berufung bestimmt und das persönliche Erscheinen der Parteien sowie die Ladung von sechs Zeugen angeordnet. Nach dem Protokoll, das den Eingangsvermerk “aufgenommen in der öffentlichen Sitzung” enthält, hat das Berufungsgericht in diesem Termin nach Stellung der Anträge zunächst die beiden Gesellschafter der Klägerin angehört und sodann die Zeugen A.        I.     und M.     I.      vernommen. Anschließend ist der Zeuge B.    vernommen worden. Im Verlauf dieser Vernehmung hat das Berufungsgericht in das Protokoll (Seite 27) aufgenommen:
“Es ist kurz nach 19:00 Uhr.
Der Senat weist darauf hin, dass Dienstschluss für die Wachtmeister ist.
Von daher erklären die Prozessbevollmächtigten übereinstimmend, dass sie auf die Wahrung der Öffentlichkeit in diesem Verfahren ab jetzt verzichten.”
4
Nach Entlassung des Zeugen B.    um 19.20 Uhr hat das Berufungsgericht noch die Zeugen H.   , Ma.       und S.      sowie die beiden Gesellschafter der Klägerin als Partei vernommen. Anschließend ist die Sach- und Rechtslage sowie das Ergebnis der Beweisaufnahme mit den Parteivertretern erörtert worden, die hierzu Stellung genommen haben. Sodann ist die Sitzung unterbrochen worden und nach Wiedereintritt in die Sitzung haben beide Parteien erklärt, sich in Vergleichsverhandlungen zu befinden und bis zum 4. Juni 2019 mitzuteilen, ob eine Einigung möglich sei. Im Hinblick darauf hat das Berufungsgericht Termin zur Verkündung einer Entscheidung auf den 11. Juni 2019 bestimmt, den Streitwert festgesetzt und die Sitzung um 22.20 Uhr geschlossen.
5
Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 29. Mai 2019 zum Ergebnis der Beweisaufnahme Stellung genommen, die Einrede der Verjährung erhoben und die Notwendigkeit der Revisionszulassung im Hinblick auf die Anforderungen an das Vorliegen eines Beratungsvertrags und die Frage der Kausalität einer fehlenden Aufklärung über den anfänglichen negativen Marktwert eines Swap-Vertrags geltend gemacht.
6
In der Folgezeit haben die Prozessbevollmächtigten beider Parteien das Scheitern der Vergleichsverhandlungen mitgeteilt. Nach Verlegung des Verkündungstermins aus dienstlichen Gründen auf den 1. Juli 2019 hat das Berufungsgericht mit dem an diesem Tag verkündeten Urteil das landgerichtliche Urteil abgeändert und der Klage ganz überwiegend stattgegeben.
7
Dagegen wendet sich die Beklagte mit der Nichtzulassungsbeschwerde.
II.
8
Die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten hat keinen Erfolg, weil die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und die Fortbildung des Rechts sowie die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts nicht erfordern (§ 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO).
9
1. Die Nichtzulassungsbeschwerde beanstandet zwar mit Recht, dass das Berufungsgericht § 169 Abs. 1 Satz 1 GVG nicht beachtet hat. Dieser Umstand erfordert im Streitfall aber nicht die Zulassung der Revision zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Fall 2 ZPO).
10
a) Nach dem Vermerk im Sitzungsprotokoll zum Dienstschluss der Wachtmeister und der Erklärung der Prozessbevollmächtigten zum Verzicht auf die weitere Wahrung der Öffentlichkeit ist davon auszugehen, dass die Verhandlung ab diesem Zeitpunkt nicht mehr öffentlich im Sinne von § 169 Abs. 1 Satz 1 GVG war.
11
Nach dieser Vorschrift muss gewährleistet sein, dass sich jedermann ohne besondere Schwierigkeit Kenntnis von Ort und Zeit der Sitzung verschaffen kann und dass ihm im Rahmen der tatsächlichen Gegebenheiten der Zutritt eröffnet wird (BVerfG, NJW-RR 2006, 1653; BVerwG, DVBl 1999, 95; BAG, NJW 2016, 3611 Rn. 5), was bei verschlossenen Eingangstüren – unabhängig vom Vorliegen eines Beschlusses über den Ausschluss der Öffentlichkeit – nicht der Fall ist (MünchKommZPO/Zimmermann, 5. Aufl., § 169 GVG Rn. 61).
12
Da gemäß § 160 Abs. 1 Nr. 5 ZPO im Protokoll anzugeben ist, dass öffentlich verhandelt oder die Öffentlichkeit ausgeschlossen worden ist, ist hier aufgrund der Einleitung des Protokolls (“aufgenommen in der öffentlichen Sitzung”) und des Vermerks auf dessen Seite 27 davon auszugehen, dass die Verhandlung bis zu diesem Zeitpunkt öffentlich stattgefunden hat, aber nach dem Dienstschluss der Wachtmeister für externe Personen ein Zugang zum Gerichtsgebäude und zu der Verhandlung nicht mehr eröffnet war. Denn zum Aufgabenbereich des Justizwachtmeisterdienstes gehört insbesondere der Ordnungsdienst, der unter anderem die für die Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung in den Justizgebäuden erforderlichen Maßnahmen wie Einlass- und Eingangskontrollen umfasst (vgl. Nr. 1.2.1.1 und 1.2.4 der Verwaltungsvorschrift des Justizministeriums Baden-Württemberg über den Justizwachtmeisterdienst vom 11. Juni 2015 – Az. 2370/0103, Die Justiz 2015, 165).
13
Angesichts der Beweiskraft des Protokolls nach § 165 Satz 1 ZPO wird der Vermerk im Sitzungsprotokoll nicht durch den Einwand der Nichtzulassungsbeschwerdeerwiderung in Frage gestellt, nach der Lebenserfahrung müsse davon ausgegangen werden, dass im Gebäude eines großstädtischen Obergerichts ein oder mehrere Hausmeister auch nach Dienstschluss der Wachtmeister anwesend blieben und potentiellen Zuhörern auf Klingeln Einlass ins Gebäude und Zugang zum Sitzungssaal gewähren könnten. Dieser Einwand stützt sich nur auf allgemeine Vermutungen, nicht jedoch auf konkreten, auf das hiesige Berufungsgericht bezogenen Tatsachenvortrag. Der Umstand, dass beim Verlassen des Gebäudes nach der in Rede stehenden Verhandlung die Klingelanlage an einem Nebeneingang noch beleuchtet gewesen sei, reicht hierfür nicht, zumal nicht behauptet wird, dass am Haupteingang auf diesen Nebeneingang verwiesen und nach Dienstschluss der Wachtmeister auf Betätigung der Klingel Einlass zu noch laufenden Sitzungen gewährt worden sei.
14
b) Es kann dahinstehen, ob die Beklagte, die im Anschluss an den ausdrücklichen Hinweis des Berufungsgerichts den Verzicht auf die Befolgung von § 169 Abs. 1 Satz 1 GVG erklärt hat, dadurch ihr Recht zur Rüge des Verstoßes gegen diese Vorschrift nach § 295 ZPO verloren hat (ablehnend RGZ 157, 341, 347; BGH, Beschluss vom 24. November 1993 – BLw 37/93, BGHZ 124, 204, 209; in diesem Sinne wohl auch BGH, Urteil vom 29. März 2000 – VIII ZR 297/98, NJW 2000, 2508, 2509; BAG, NJW 2016, 3611 Rn. 10, 18 f.; aA BVerwG, Beschlüsse vom 4. November 1977 – IV C 71.77, Buchholz 303 § 295 ZPO Nr. 1 und vom 30. November 2004 – 10 B 64.04, juris Rn. 2; BFH, Beschlüsse vom 24. August 1990 – X R 45-46/90, BFHE 161, 427, 428 f. sowie vom 30. November 2009 – I B 111/09, BFH/NV 2010, 1102 Rn. 8; BSG, Urteil vom 28. März 2000 – B 8 KN 7/99 R, juris Rn. 15 und Beschluss vom 17. Oktober 2018 – B 9 V 20/18 B, juris Rn. 14). Denn selbst wenn trotz des erklärten Verzichts der absolute Revisionsgrund des § 547 Nr. 5 ZPO vorliegen würde, erforderte dieser Umstand im Streitfall nicht die Zulassung der Revision zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Fall 2 ZPO).
15
aa) Nach der Systematik der Zivilprozessordnung können absolute Revisionsgründe grundsätzlich nur im Rahmen einer statthaften und auch im Übrigen zulässigen Revision geltend gemacht werden (BGH, Beschlüsse vom 21. Dezember 1962 – I ZB 27/62, BGHZ 39, 333, 335 und vom 30. November 2011 – I ZR 26/11, NJW-RR 2012, 760 Rn. 4 mwN). Das Vorliegen eines absoluten Revisionsgrunds indiziert daher nicht ohne weiteres das Bestehen eines Zulassungsgrunds im Sinne von § 543 Abs. 2 ZPO (BGH, Beschluss vom 30. November 2011, aaO mwN).
16
bb) Zwar ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Revision zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zuzulassen, wenn ein absoluter Revisionsgrund nach § 547 Nr. 1 bis 4 ZPO geltend gemacht wird und vorliegt (BGH, Beschlüsse vom 15. Mai 2007 – X ZR 20/05, BGHZ 172, 250 Rn. 8, vom 15. November 2011 – II ZR 6/11, WM 2012, 78 Rn. 7 und vom 22. Dezember 2016 – IX ZR 259/15, WM 2017, 925 Rn. 4). Dagegen ist, wenn der absolute Revisionsgrund des § 547 Nr. 6 ZPO geltend gemacht wird und dieser auch vorliegt, bei der Beurteilung der Frage, ob die Revision gemäß § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Fall 2 ZPO zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zuzulassen ist, darauf abzustellen, mit welcher Intensität sich die fehlende Begründung auf die Entscheidung auswirkt. Dies hängt von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls ab mit der Folge, dass eine fehlende Begründung nicht in jedem Fall zur Zulassung der Revision führt (BGH, Beschluss vom 30. November 2011 – I ZR 26/11, NJW-RR 2012, 760 Rn. 6).
17
cc) Die Frage, ob letzteres auch dann gilt, wenn das Vorliegen des absoluten Revisionsgrundes aus § 547 Nr. 5 ZPO geltend gemacht wird, hat der Bundesgerichtshof bislang offengelassen (BGH, Beschluss vom 22. Mai 2014 – IX ZR 195/13, juris Rn. 3). Der Senat entscheidet die Frage dahingehend, dass die Nichtbeachtung von § 169 Abs. 1 Satz 1 GVG nicht in jedem Fall und jedenfalls dann nicht die Notwendigkeit der Zulassung der Revision begründet, wenn – wie im vorliegenden Fall – in einem kontradiktorischen Zivilverfahren beide Parteien durch Rechtsanwälte vertreten sind und im Verlauf einer mündlichen Verhandlung, die zunächst öffentlich stattgefunden hat, nach einem Hinweis des Gerichts darauf, dass nun aus tatsächlichen Gründen die Öffentlichkeit nicht mehr gewährleistet sei, ausdrücklich den Verzicht auf die Einhaltung von § 169 Abs. 1 Satz 1 GVG erklären.
18
Die Erwägungen, mit denen der X. Zivilsenat begründet hat, dass die Revision zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zuzulassen ist, wenn ein absoluter Revisionsgrund nach § 547 Nr. 1 bis 4 ZPO geltend gemacht wird und vorliegt, treffen für den in § 547 Nr. 5 ZPO normierten absoluten Revisionsgrund nicht in gleicher Weise zu. Eine Nichtigkeitsklage nach § 579 ZPO kann nicht mit Erfolg darauf gestützt werden, dass ein rechtskräftig gewordenes Endurteil (§ 578 Abs. 1 ZPO) auf Grund einer mündlichen Verhandlung ergangen ist, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt worden sind. Ebenso wenig rechtfertigt der absolute Revisionsgrund des § 547 Nr. 5 ZPO eine Restitutionsklage gemäß § 580 ZPO. Daraus folgt, dass ein Verstoß gegen § 169 Abs. 1 Satz 1 GVG nicht in jedem Fall zur Zulassung der Revision führt. Vielmehr sind der Umfang des Verstoßes und die Reaktion der Parteien zu berücksichtigen.
19
Im vorliegenden Fall ist die mündliche Verhandlung mit der Beweisaufnahme zunächst über mehrere Stunden öffentlich durchgeführt worden. Nur soweit die Verhandlung in den Abendstunden fortgesetzt worden ist, um auch die weiteren geladenen Zeugen noch in diesem Termin vernehmen zu können, sind die Vorgaben des § 169 Abs. 1 Satz 1 GVG nicht eingehalten worden, nachdem das Berufungsgericht die Parteien zuvor darauf hingewiesen hat, dass wegen des Dienstschlusses der Wachtmeister die Öffentlichkeit forthin nicht mehr gewährleistet sei, und die Parteien durch ihre Prozessbevollmächtigten ausdrücklich zu Protokoll erklärt haben, ab jetzt auf die Wahrung der Öffentlichkeit in diesem Verfahren zu verzichten. Die Beklagte und Beschwerdeführerin hat auch in ihrem nachfolgenden Schriftsatz vom 29. Mai 2019, in dem sie zum Ergebnis der Beweisaufnahme Stellung genommen hat, die Verletzung von § 169 Abs. 1 Satz 1 GVG nicht gerügt. Unter diesen Umständen ist es nicht geboten, die Revision allein wegen der Nichteinhaltung des § 169 Abs. 1 Satz 1 GVG nach § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Fall 2 ZPO zuzulassen.
20
2. Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 544 Abs. 6 Satz 2 Halbsatz 2 ZPO abgesehen.
Joeres     
      
Grüneberg     
      
Matthias
      
Derstadt     
      
Schild von Spannenberg     
      


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