Europarecht

8 C 21/19

Aktenzeichen  8 C 21/19

Datum:
25.11.2020
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:BVerwG:2020:251120U8C21.19.0
Spruchkörper:
8. Senat

Leitsatz

Das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot schützt das Vertrauen in ein auf der Grundlage der Rechtsordnung erworbenes Recht. Dies setzt eine dem Berechtigten individuell verliehene Rechtsposition voraus. Ein Anspruch auf Einräumung eines solchen Rechts oder das Bestehen einer für den Betroffenen günstigen Rechtslage genügt dafür nicht.

Verfahrensgang

vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, 21. August 2019, Az: 12 A 2440/16, Urteilvorgehend VG Minden, 28. Oktober 2016, Az: 2 K 783/14, Urteil

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 21. August 2019 geändert. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Minden vom 28. Oktober 2016 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt.

Tatbestand

1
Die Klägerin, eine kreisangehörige Gemeinde des Beklagten, wendet sich gegen die Heranziehung zur Zahlung eines Härteausgleichs zwischen kreisangehörigen Gemeinden im Zusammenhang mit den ihnen übertragenen Aufgaben nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch.
2
Der Beklagte übertrug durch Satzung über die Durchführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch im Kreis Minden-Lübbecke vom 16. Dezember 2004 (Durchführungssatzung 2004) der Klägerin und den anderen kreisangehörigen Städten und Gemeinden die Durchführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende zur Entscheidung im eigenen Namen. Für diesen Fall regelte § 5 Abs. 5 Satz 1 des Gesetzes zur Ausführung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch für das Land Nordrhein-Westfalen vom 16. Dezember 2004 in der am 8. Juli 2006 in Kraft getretenen Fassung vom 27. Juni 2006 (GV. NRW. S. 292, nachfolgend: AG SGB II NRW), dass die Gemeinden 50 vom Hundert der entsprechenden Aufwendungen zu tragen hatten. Zudem sah Satz 2 dieser Vorschrift vor, dass die Kreise durch Satzung einen Härteausgleich festlegen konnten, wenn infolge erheblicher struktureller Unterschiede im Kreisgebiet die Beteiligung kreisangehöriger Gemeinden an den Aufwendungen für diese zu einer erheblichen Härte führte. Eine solche Ausgleichsregelung traf der Beklagte zunächst nicht.
3
Auf Klage der Beigeladenen stellte das Oberverwaltungsgericht mit rechtskräftigem Beschluss vom 11. Januar 2012 (12 A 958/10) fest, dass der Beklagte verpflichtet sei, in die Durchführungssatzung 2004 eine finanzielle Härteausgleichsregelung für das Jahr 2006 zum Ausgleich bestehender erheblicher struktureller Unterschiede im Kreisgebiet aufzunehmen. Daraufhin beschloss der Kreistag des Beklagten am 17. Dezember 2012 eine neue Satzung über die Durchführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende (Durchführungssatzung 2013). Sie trat am 1. Januar 2013 in Kraft und enthielt in § 8 Abs. 2 eine Regelung über den Härteausgleich zwischen den kreisangehörigen Städten und Gemeinden. Nach Absatz 3 dieser Vorschrift sollte der Härteausgleich rückwirkend ab dem 8. Juli 2006 berechnet werden. Auf dieser Grundlage zog der Beklagte die Klägerin mit Bescheid vom 27. März 2013 zum Härteausgleich für die Jahre 2006 (ab 8. Juli 2006) und 2007 heran.
4
Die hiergegen erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht abgewiesen. Das Oberverwaltungsgericht hat den Bescheid vom 27. März 2013 aufgehoben. Die Heranziehung der Klägerin zum Härteausgleich sei rechtswidrig. Die dem Bescheid zugrunde liegende Satzungsregelung des § 8 Abs. 2 und 3 der Durchführungssatzung 2013 verstoße aufgrund ihrer Rückwirkungsbestimmung gegen das Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG und sei daher unwirksam. § 5 Abs. 5 Satz 2 AG SGB II NRW vermittle der Klägerin ein subjektiv-öffentliches, Vertrauensschutz begründendes Recht gegenüber dem Beklagten. In dieses greife der Erlass der Härteausgleichsregelung im Sinne echter Rückwirkung unzulässig belastend ein. Die Klägerin sei zwar als juristische Person des öffentlichen Rechts nicht grundrechtsfähig, könne sich aber gleichwohl auf Vertrauensschutz und damit auf das Rückwirkungsverbot berufen.
5
Zur Begründung der Revision macht der Beklagte geltend, das Berufungsgericht nehme zu Unrecht die Voraussetzungen einer echten Rückwirkung an. § 5 Abs. 5 Satz 2 AG SGB II NRW vermittle der Klägerin kein subjektiv-öffentliches Recht, das Vertrauensschutz begründe. Sie habe nicht damit rechnen können, vom Härteausgleich verschont zu bleiben. Das Berufungsgericht verneine auch zu Unrecht einen Ausnahmetatbestand, dessen Vorliegen eine Durchbrechung des Rückwirkungsverbots rechtfertige. Zudem könne sich die Klägerin als juristische Person des öffentlichen Rechts nicht auf das Rückwirkungsverbot berufen.
6
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 21. August 2019 zu ändern und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Minden vom 28. Oktober 2016 zurückzuweisen.
7
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
8
Die Klägerin verteidigt das Berufungsurteil und führt ergänzend aus, der Anspruch auf Härteausgleich sei auch in entsprechender Anwendung des § 111 SGB X ausgeschlossen.
9
Der Vertreter des Bundesinteresses und die Beigeladene unterstützen das Vorbringen des Beklagten und tragen ergänzend vor, das Berufungsgericht leite zu Unrecht aus der Möglichkeit einer Rechtsverletzung das Bestehen einer vom Rückwirkungsverbot geschützten Rechtsposition ab.


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