Europarecht

Ablauf der Überstellungsfrist

Aktenzeichen  M 1 K 16.50375

Datum:
9.1.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
NVwZ – 2017, 983
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, § 31 Abs. 2, § 34a
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 29 Abs. 2
AufenthG AufenthG § 11 Abs. 1

 

Leitsatz

1 Ist die Überstellungsfrist abgelaufen, ist die Abschiebungsanordnung aufgrund des Zuständigkeitsübergangs auf die Bundesrepublik Deutschland rechtswidrig geworden. (redaktioneller Leitsatz)
2 Die 6-monatige Überstellungsfrist verlängert sich nicht durch den Aufenthalt im Kirchenasyl. Denn die Situation eines solchen Schutzsuchenden ist nicht vergleichbar mit jener, die bei einer inhaftierten oder flüchtigen Person vorliegt. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 6. Juni 2016 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Gem. § 101 Abs. 2 VwGO konnte über die Klage ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, da beide Parteien auf eine mündliche Verhandlung verzichtet haben.
Die Klage ist zulässig und begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 6. Juni 2016 ist im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Die Voraussetzungen für den Erlass einer Abschiebungsanordnung betreffend Bulgarien als den zunächst zuständigen Mitgliedstaat auf der Grundlage des § 34a i. V. m. § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG liegen nicht mehr vor. Der streitgegenständliche Bescheid ist aufgrund des Ablaufs der sog. Überstellungsfrist und des hierdurch bedingten Zuständigkeitsübergangs auf die Bundesrepublik Deutschland gem. Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin lll-VO rechtswidrig geworden.
Die sechsmonatige Frist des Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin lll-VO begann mit Zuständigkeitserklärung der bulgarischen Behörden am 18. März 2016 zu laufen und ist am 18. September 2016 abgelaufen (vgl. auch Aktenvermerk Bl. 50 d. Behördenakte).
Die Sachlage bei einer sich im Kirchenasyl befindlichen Person ist nicht mit jener vergleichbar, die bei einer inhaftierten oder flüchtigen Person vorliegt. Ist eine Person inhaftiert oder flüchtig, so ist eine Überstellung unmöglich. Die Möglichkeit der Fristverlängerung nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin lll-VO soll als Ausnahme von dem den Fristen des Dublin-Systems zugrunde liegenden Beschleunigungsgrundsatz ein längeres Zuwarten bei der Rücküberstellung ermöglichen, weil ein tatsächliches oder rechtliches Hindernis die Einhaltung der Frist vereitelt. Ein solches Hindernis, das einen vergleichbaren Ausnahmefall rechtfertigen könnte, besteht beim sogenannten Kirchenasyl nicht (diese Auffassung hat offenbar auch das Bundesamt in der Vergangenheit vertreten: vgl. Antwort der Bundesregierung auf eine Bundestags-Anfrage vom 25.6.2013: BT-Drs. 17/13724, S.11). Der Staat ist weder rechtlich noch tatsächlich daran gehindert, die Überstellung durchzuführen. Er verzichtet vielmehr bewusst darauf, das Recht durchzusetzen. Es existiert kein Sonderrecht der Kirchen, aufgrund dessen die Behörden bei Aufnahme einer Person in das Kirchenasyl gehindert wären, eine Überstellung durchzuführen und hierzu gegebenenfalls unmittelbaren Zwang anzuwenden. Der Umstand, dass die für die Aufenthaltsbeendigung zuständigen Behörden wohl davor zurückschrecken, die ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten bei Personen im Kirchenasyl auszuschöpfen, also insbesondere auch unmittelbaren Zwang in kirchlichen Räumen anzuwenden, macht die Überstellung nicht unmöglich. Der freiwillige Verzicht auf eine Rücküberstellung im Fall des Kirchenasyls ist nicht anders zu bewerten, als die Fälle, in denen eine Rücküberstellung mangels entsprechender Vollzugskapazitäten oder anderer in der Sphäre des Staates liegender Umstände nicht möglich ist. Eine in der Sphäre des Klägers liegendes Hindernis für den Vollzug der Rücküberstellung, wie im Fall der Flucht, ist nicht gegeben (VG München, U.v. 23.12.2016 – M 1 K 15.50681).
Der Fristablauf begründet nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin lll-VO den Übergang der Zuständigkeit für die Prüfung des Asylbegehrens auf die Beklagte. Der Asylantrag ist damit nicht mehr nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG wegen Unzuständigkeit der Beklagten unzulässig. Eine Umdeutung der Entscheidung in die Ablehnung eines Zweitantrages gem. § 71a AsylG ist nicht möglich (BayVGH, B.v. 29.7.2015 – 13a ZB 15.50096 -juris Rn. 13; BVerwG, U.v. 27.4.2016 – 1 C 24.15 – juris Rn. 19).
Mit dieser zunächst objektiven Rechtswidrigkeit geht auch eine subjektive Rechtsverletzung der Klagepartei i.S. von § 42 Abs. 2, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO einher. Der nach den Bestimmungen der Dublin-Ill-Verordnung infolge Fristablaufs zuständige Mitgliedsstaat darf einen Schutzsuchenden jedenfalls dann nicht auf eine Prüfung durch einen anderen Mitgliedsstaat verweisen, wenn dessen (Wieder-) Aufnahmebereitschaft nicht positiv feststeht (BVerwG, U.v. 27.4.2016 – 1 C 24.15 – juris Rn. 20). Die Beklagte hat auch nicht vorgetragen, dass Bulgarien trotz des Ablaufs der Überstellungsfrist zur RückÜbernahme des Klägers bereit wäre. Hierfür bestehen auch keine sonstigen Anhaltspunkte. Damit kann sich der Kläger auf den Ablauf der Überstellungsfrist berufen, da Bulgarien jedenfalls nicht verpflichtet ist, das Asylverfahren durchzuführen und der Anspruch des Klägers auf Durchführung eines Asylverfahrens verletzt wäre.
Das Bundesamt ist in der Folge kraft Gesetzes (vgl. § 31 Abs. 2 AsylG) verpflichtet, das Asylverfahren des Klägers fortzuführen und eine Sachentscheidung zu treffen (vgl. BayVGH, U.v. 28.2.2014 – 13a B 13.30295 – juris Rn. 22).
Die Kostenfolge beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83b AsylG nicht erhoben.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V. mit §§ 708 ff. ZPO.


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