Europarecht

Asylrechts – Hauptsacheverfahren (Dublin-Verfahren nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a) AsylG); Polen

Aktenzeichen  3 A 111/22 MD

Datum:
25.5.2022
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG Magdeburg 3. Kammer
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:VGMAGDE:2022:0525.3A111.22MD.00
Spruchkörper:
undefined

Leitsatz

Polen ist zurzeit aufgrund der Aufnahme der Ukraine-Flüchtlinge nicht in der Lage seinen Verpflichtungen nach dem Dublin-Vorschriften zu erfüllen. Daher ist Deutschland verpflichtet von seinem Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen.

Tenor

Dem Kläger wird Prozesskostenhilfe für das Verfahren der ersten Instanz unter Beiordnung der Rechtsanwältin K. S.-H. bewilligt.
Der Rechtsstreit wird gemäß § 76 Abs. 1 AsylG auf den Einzelrichter übertragen, weil die Rechtssache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und keine grundsätzliche Bedeutung hat.

Gründe

Gemäß den §§ 166 VwGO i. V. m. 114 ZPO hat die beabsichtigte Rechtsverfolgung des Klägers zum jetzigen entscheidungserheblichen Zeitpunkt hinreichende Aussicht auf Erfolg.
Der streitbefangene Bescheid des Bundesamtes vom 22.03.2022, mit welchem der Asylantrag des Klägers wegen der polnischen Dublin-Zuständigkeit als unzulässig abgelehnt, Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG verneint und die Abschiebung nach Polen angeordnet wurde, ist voraussichtlich rechtswidrig (geworden). Denn die Bundesrepublik Deutschland ist – jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt – bezüglich der in Polen gestellten Asylanträge verpflichtet, von ihrem Selbsteintrittsrecht nach den Dublin-Vorschriften Gebrauch zu machen (vgl. Art. 17 Abs. 1 Abs. 1 Dublin-III-VO). Dies gebietet zur Überzeugung des Gerichts die besondere Ausnahmesituation, der sich Polen seit dem Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine durch die Aufnahme von ukrainischen Kriegsflüchtlingen ausgesetzt sieht. Damit ist nicht nur die (Rück-)Überstellung nach Polen zeitnah nicht mehr möglich, sondern Polen ist auch für die Behandlung der Asylanträge nach den Dublin-Vorschriften nicht mehr zuständig.
Nach Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-Verordnung kann jeder Mitgliedstaat abweichend von Art. 3 Abs. 1 Dublin-III-Verordnung beschließen, einen bei ihm gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist. Der Mitgliedstaat wird dadurch zuständig und übernimmt die mit dieser Zuständigkeit einhergehenden Verpflichtungen (Art. 17 Abs. 1 Satz 1 Dublin-III-Verordnung).
Ersichtlich haben bislang nur das VG Aachen (Beschluss v. 18.03.2022, 6 L 156/22.A; juris) und das VG Düsseldorf (Beschluss v. 12.04.2022, 12 L 627/22.A; juris) auf die augenblickliche Ausnahmesituation durch ukrainische Kriegsflüchtlinge in Polen reagiert. Die bei einer juris-Recherche zu findenden und alle vom Bundesamt an juris gemeldeten Entscheidungen deutscher Verwaltungsgerichte (VG Sigmaringen, Beschluss v. 02.04.2022, A 7 K 2540/21; VG Braunschweig, Beschluss v. 01.04.2022, 6 B 48/22, VG Osnabrück, Beschluss v. 31.03.2022, 5 B 38/22; VG Schwerin, Beschluss v. 31.03.2022, 5 B 425/22 SN; VG München, Beschluss v. 21.03.2022, M 5 S 22.50140; VG Potsdam, Beschluss v. 18.03.2022, VG 1 L 110/22.A;) gehen davon aus, dass Polen zeitnah seinen Verpflichtungen aus dem Dublin-System wieder nachkommen wird.
Dies sieht das erkennende Gericht mit dem VG Aachen und dem VG Düsseldorf anders: Das VG Düsseldorf hat zuletzt in seinem Beschluss v. 12.04.2022 (12 L 627/22.A; juris Rz. 31 – 41) zu den zum Zeitpunkt der dortigen Entscheidung zugrunde gelegten Flüchtlingszahlen ausgeführt:
„Die Kapazitäten Polens zur Aufnahme von Flüchtlingen sind zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung erschöpft. Der polnische Staat verzeichnet aktuell einen in der jüngeren europäischen Geschichte einzigartigen Zustrom von Geflüchteten. Seit Beginn des Krieges in der Ukraine am 24. Februar 2022 haben bereits 2.622.117 Personen die ukrainisch-polnische Grenze überschritten (vgl. UNHCR, […]).
Selbst wenn ein nicht unerheblicher Anteil der aus der Ukraine Geflüchteten in andere EU-Mitgliedstaaten weiterreist oder bei Familie oder Bekannten aufgenommen werden kann, muss eine große Zahl dieser Menschen in Polen staatlicherseits untergebracht werden.
Die lokalen Behörden in Polen haben Unterkunftszentren mit einer Kapazität für rund 280.000 Menschen eingerichtet. In den ersten Tagen sind diese noch weitgehend unbesetzt geblieben, da die ankommenden Personen zumeist in privat organisierten Unterkünften untergebracht worden sind oder weiterreisen wollten. Im weiteren Kriegsverlauf ist die Anzahl der auf die staatlichen Unterkünfte angewiesenen Personen aber gestiegen (vgl. UNHCR, […].
Nach einer aktuellen Umfrage zu der Art der Unterbringung ukrainischer Flüchtlinge haben 32 Prozent der Befragten die vorhergehende Nacht in einem Aufnahmezentrum, einer längerfristigen Unterkunft oder Gemeinschaftsunterkunft verbracht. Zudem fühlen sich einige Haushalte, die sich als Gastgeber für vertriebene Familien zur Verfügung gestellt haben, bereits überfordert und suchen nach Unterstützung, um den Familien zu helfen, in alternative Unterkünfte zu wechseln. Schlüsselinformanten haben darauf hingewiesen, dass der Wohnungsmarkt in Warschau, Krakau und Breslau bereits voll sei (vgl. International Rescue Committee, Rapid Needs Assessment Report – Refugees from Ukraine in Poland, 1. April 2022 (Umfrage vom 11. bis 24. März 2022), S. 7, […].
Berücksichtigt man zusätzlich, dass in Polen für Asylbewerber vor dem Krieg in der Ukraine (lediglich) in zehn Unterkunftszentren insgesamt 1.962 Plätze zur Verfügung standen (vgl. AIDA, Country Report Poland, 2020 Update, April 2021, S. 55, abrufbar unter: https://asylumineurope.org/wp-content/uploads/2021/04/AIDA-PL_2020update.pdf) vermag die Kammer nicht zu erkennen, dass der polnische Staat derzeit zur Unterbringung weiterer Flüchtlinge in der Lage wäre.
Dementsprechend haben die polnischen Behörden bereits am 25. Februar 2022 erklärt, dass Überstellungen im Rahmen der Dublin III-Verordnung ab sofort zunächst nicht mehr entgegengenommen werden, um den aus dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine am 24. Februar 2022 resultierenden erheblichen Flüchtlingsbewegungen gerecht zu werden.“
Das polnische Rundschreiben an alle Dublin-Einheiten der EU wird im Beschluss des VG Aachen vom 18.03.2022, (6 L 156/22.A; juris Rz. 14) zitiert:
„[…] Due to the situation on the territory of Ukraine, Poland immediately suspends all INCOMING transfers. All incoming transfers are suspended until further notice. Please cancel all incoming transfers scheduled from 28.02.2022 [ …].“
Daher steht zum jetzigen entscheidungserheblichen Zeitpunkt (§ 77 Abs. 1 AsylG) für die erkennende Kammer fest, dass Polen wegen des andauernden Krieges in der Ukraine bis auf weiteres und jedenfalls nicht innerhalb der nächsten sechs Monate (vgl. Art. 29 Abs. 2 Dublin-III-VO) generell nicht mehr zur (Wieder)Aufnahme von Dublin-Flüchtlingen bereit ist. Der bereits zwei Monate andauernde russische Überfall auf die Ukraine geht nach wie vor unvermindert weiter, ohne dass ein alsbaldiges Ende in Sicht wäre. Angesichts der zerstörten ukrainischen Städte wird auch eine baldige Rückkehr der Flüchtlinge an tatsächlichen Gegebenheiten scheitern. Die aktuelle Kriegs-Situation in der Ukraine darf als gerichts- und allgemeinbekannt gelten und muss hier nicht weiter ausgeführt werden. Alles andere wäre zur Überzeugung des Gerichts eine lebensfremde Bewertung des tatsächlichen Kriegsgeschehens in der Ukraine und den dadurch bedingten tatsächlichen Auswirkungen auf den Rest Europas und damit auch auf das Dublin-System. Es stellt einen Akt der europäischen Solidarität dar, den EU-Mitgliedstaat Polen bei der Bewältigung der enormen Flüchtlingsströme aus der Ukraine zu helfen und keine Dublin-Flüchtlinge dorthin zu schicken. Berücksichtigt man zudem, dass das polnische Flüchtlingssystem nie frei von Tadel und Unzulänglichkeiten war, dürften sich diese bislang noch mit Art. 3 EMRK im Einklang gestandenen Verhältnisse weiter verschlechtern. Dies gilt auch, weil die polnische Regierung und die polnische Bevölkerung eher zur Aufnahme der Kriegsflüchtlinge aus dem unmittelbaren Nachbarland der Ukraine bereit sein werden als dies bei Flüchtlingen aus entfernteren Ländern der Fall sein wird.
Das Gericht sieht es im Übrigen als äußerst befremdlich an, dass das Bundesamt die sich aufdrängende aktuelle Situation in Polen aufgrund der Kriegsgeschehnisse im Nachbarland Ukraine im Bescheid nicht prüft und auch im gerichtlichen Verfahren mit keinem Wort dazu Stellung nimmt. Im Gegensatz dazu geht aus der Antwort der Bundesregierung vom 08.04.2022 auf eine „Kleine Anfrage“ (BT-Drs. 20/1367; Frage 15), ob weiterhin Überstellungen gemäß der Dublin-III-Verordnung in diese Länder [Polen, Rumänien, Ungarn] erfolgen, hervor,
„Mitgliedstaaten, welche an die Ukraine angrenzen, stehen aufgrund der dort ankommenden Kriegsflüchtlinge vor besonderen Herausforderungen. Die Belange dieser Mitgliedstaaten werden im Rahmen des Dublin-Verfahrens entsprechend berücksichtigt und die Lage fortwährend beobachtet.“
Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.


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