Europarecht

Erfolgreiche Anfechtung eines Dublin-Bescheides (Italien)

Aktenzeichen  W 2 K 17.50182

Datum:
2.8.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2

 

Leitsatz

Eine Überstellung von besonders schutzbedürftigen Personen – zu denen auch Schwangere gehören – nach Italien ist derzeit wegen der dort bestehenden systemischen Mängel iSd Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO nicht möglich. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 27. März 2017 (Az. …) wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Kläger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leisten

Gründe

Gemäß § 101 Abs. 2 VwGO kann das Gericht mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden. Entsprechende Einverständniserklärungen liegen mit dem Schreiben des Klägerbevollmächtigten vom 31. Juli 2017 und der allgemeinen Prozesserklärung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 27. Juni 2017 vor.
Gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz Asylgesetz (AsylG) i.d.F. d Bek. vom 2. September 2008 (BGBl. I 2008, 1798), zuletzt geändert durch Gesetz vom 13. April 2017 (BGBl I 2017, 872), ist für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage der Zeitpunkt der Entscheidungsfindung maßgeblich.
Die Klage ist zu diesem Zeitpunkt sowohl zulässig, als auch begründet.
Der angefochtene Bescheid vom 27. März 2017 ist zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidungsfindung rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO).
Gem. § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
Eine Zuständigkeit Italiens nach den Regelungen der Dublin III-VO ist jedenfalls im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht (mehr) gegeben, da eine Überstellung nach Italien wegen dort bestehender systemischer Mängel für besonders schutzbedürftige Personen i.S.d. Art. 21 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (Aufnahmerichtlinie), zu denen auch Schwangere gehören, gem. Art. 3 Abs. 2 UA. 2 Dublin III-VO derzeit nicht möglich ist.
In seiner Entscheidung vom 4. November 2014 – Tarakhel ./. Schweiz, Nr. 29217/12 – hat der EGMR ausgeführt, dass die Anzahl und die Bedingungen in den Aufnahmeeinrichtungen Italiens Befürchtungen zulassen, dass im Einzelfall Asylsuchende ohne Unterkunft bleiben bzw. in überfüllten Einrichtungen untergebracht werden, auch wenn die Struktur und die Gesamtsituation des Aufnahmesystems in Italien nicht mit der Griechenlands vergleichbar sei und keine systemischen Mängel vorlägen (Rn. 114, 115). Vor der Abschiebung einer Familie mit Kindern als besonders Schutzbedürftige seien daher individuelle Garantien von den italienischen Behörden einzuholen, dass die Familie bei ihrer Ankunft in Italien in Einrichtungen und unter Bedingungen aufgenommen werde, die dem Alter der Kinder angemessen seien, und dass sie als Familie zusammenbleiben könnten (Rn. 120, 122). Weder an der Zahl der Flüchtlinge noch an den Aufnahmebedingungen in Italien haben sich nach Kenntnis des Gerichts gegenüber dem Zeitpunkt der Tarakhel – Entscheidung wesentliche Änderungen ergeben.
Das Gericht geht im Hinblick auf diese Ausführungen davon aus, dass auch bei der Klägerin zu 2 als besonders schutzbedürftiger Person eine Verletzung von Art. 3 EMRK bei der Rückführung nach Italien nur dann ausgeschlossen ist, wenn die Beklagte entsprechende individuelle Garantien vorlegen könnte, dass eine angemessene Unterbringung und Versorgung und gegebenenfalls Gesundheitsversorgung sichergestellt sind. Solche Garantien liegen nicht vor. Im Hinblick auf die tatsächliche Überstellungspraxis bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Beklagte solche Garantien in angemessener Zeit seitens der italienischen Behörden erwirken kann, so dass es bei der rechtlichen Unmöglichkeit der Überstellung nach Italien gem. Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO verbleibt.
Anhaltspunkte für die vorrangige Zuständigkeit eines anderen Mitgliedsstaates sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Damit geht die Zuständigkeit für die Asylanträge der Kläger gem. Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 a.E. Dublin III-VO auf die Beklagte über.
Die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig findet mithin in § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG keine Rechtsgrundlage. Anhaltspunkte dafür, dass die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig auf einer anderen Rechtsgrundlage aufrechterhalten werden könnte, sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
Ziffer 1 des verfahrensgegenständlichen Bescheides ist mithin aufzuheben. Gleiches gilt für die auf dieser Grundlage fußenden Ziffern 2 bis 4, die ebenfalls rechtswidrig und für die Kläger belasten sind.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO; Gerichtskosten wer-den nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kosten ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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