Europarecht

Fehlende Dringlichkeit bei bestehender Wahrscheinlichkeit der Vernichtung des Verfügungspatents

Aktenzeichen  21 O 12508/20

Datum:
4.11.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
GRUR-RS – 2020, 31236
Gerichtsart:
LG
Gerichtsort:
München I
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
EPÜ Art. 64 Abs. 1
PatG § 139 Abs. 1

 

Leitsatz

1. Für die Feststellung eines Verfügungsgrundes als Voraussetzung des Erlasses einer einstweiligen Verfügung bedarf es der Glaubhaftmachung einer objektiv begründeten Gefahr, dass durch die Veränderung des status quo die Rechtsverwirklichung des Antragstellers mittels des im Hauptsacheprozess erlangten Urteils einschließlich dessen Vollstreckung vereitelt oder erschwert werden könnte.     (redaktioneller Leitsatz)
2. Notwendig ist eine einstweilige Verfügung dann nicht, wenn der Antragsteller mit der Geltendmachung seiner Rechte unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls so lange zugwartet hat, dass eine nun bestehende Dringlichkeit dadurch erst entstanden ist. (redaktioneller Leitsatz)
3. Drängt sich die Unwirksamkeit eines Patents geradezu auf und ist ein Widerruf im Rahmen eines Einspruchsverfahrens mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, fehlt es an der für den Erlasseiner einstweiligen Verfügung erforderlichen Dringlichkeit.  (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
4. Jede Änderung an den die Offenbarung betreffenden Teilen einer europäischen Patentanmeldung oder eines europäischen Patents (der Beschreibung, der Patentansprüche und der Zeichnungen) unterliegt dem in Art. 123 Abs. 2 EPÜ statuierten Erweiterungsverbot und darf daher unabhängig vom Kontext der vorgenommenen Änderung nur im Rahmen dessen erfolgen, was der Fachmann der Gesamtheit dieser Unterlagen in ihrer ursprünglich eingereichten Fassung unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens objektiv und bezogen auf den Anmeldetag unmittelbar und eindeutig entnehmen kann („Goldstandard“).  (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Der Antrag der Verfügungsklägerin auf Erlass einer einstweiligen Verfügung vom 25.09.2020 wird zurückgewiesen.
2. Die Kosten des Verfahrens trägt die Verfügungsklägerin.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Verfügungsklägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Verfügungsbeklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrages leistet.

Gründe

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung ist zulässig, aber unbegründet.
I.
Ein Verfügungsanspruch ergibt sich aus Art. 64 Abs. 1 EPÜ i.V.m. § 139 Abs. 1 PatG. Die angegriffene Ausführungsform macht wortsinngemäß von sämtlichen Merkmalen des Verfügungspatents Gebrauch.
1. Das Verfügungspatent betrifft eine Schnellauflösungsformulierung enthaltend den Wirkstoff Cinacalcet-HCI. Gemäß Abs. [0002] der Patentschrift sind Kalziumrezeptor-aktive Verbindungen wie beispielsweise Cinacalcet HCI im Stand der Technik bekannt. Solche Kalziumrezeptor-aktiven Verbindungen können unlöslich oder kaum löslich sein in Wasser, speziell in ihrem nicht-ionisiertem Zustand. Beispielsweise hat Cinacalcet eine Löslichkeit in Wasser von weniger als 1 µg/ml bei neutralem pH. Die Löslichkeit von Cinacalcet kann dem Verfügungspatent zu Folge bis ungefähr von 1,6 mg/ml reichen, wenn der pH im Bereich zwischen ungefähr 3 bis ungefähr 5 liegt. Liegt der pH jedoch ungefähr bei dem Wert 1, sinkt die Löslichkeit auf ungefähr 0,1 mg/ml. Eine solche begrenzte Löslichkeit kann die Anzahl der Formulierungen und Darreichungsformen begrenzen, welche für diese Kalziumrezeptor-aktiven Verbindungen verfügbar sind. Begrenzte Wasserlöslichkeit kann zudem in einer niedrigen Bioverfügbarkeit der Verbindungen resultieren.
Ausgehend von diesem Stand der Technik stellt sich das Verfügungspatent die Aufgabe, die Auflösbarkeit der Kalziumrezeptor-aktiven Verbindung aus einer Dosierungsform – möglichst während der in vivo-Exposition – zu maximieren (Abs. [0003] des Verfügungspatents). Ferner besteht dem Verfügungspatent zu Folge das Bedürfnis, die Bioverfügbarkeit der Kalziumrezeptor-aktiven Verbindung während der in vivo-Exposition zu verbessern.
Zur Lösung dieser Aufgabe schlägt das Verfügungspatent gemäß seines Patentanspruchs 1 folgende Zusammensetzung vor:
(1) Eine pharmazeutische Zusammensetzung umfassend
(2) a) von 10% bis 40% nach Gewicht an Cinacalcet-HCI;
(3) b) von 45% bis 85% nach Gewicht mindestens eines Verdünnungsmittels, das ausgewählt ist aus Stärke, mikrokristalliner Cellulose, Dicalciumphosphat, Lactose, Sorbit, Mannit, Saccharose, Methyldextrinen und Mischungen davon;
(4) c) von 1% bis 10% mindestens eines Sprengmittels, das ausgewählt ist aus Crospovidon, Natriumstärkeglykolat, Croscarmellose-Natrium und Mischungen davon;
(5) wobei der Prozentsatz nach Gewicht auf das Gesamtgewicht der Zusammensetzung bezogen ist.
2. Die angegriffene Ausführungsform macht von den vorstehend genannten Merkmalen Gebrauch. Eine von der Verfügungsklägerin durchgeführte Analyse hat ergeben, dass die angegriffene Ausführungsform die patentgemäßen Inhaltsstoffe mit dem jeweils patentgemäß vorausgesetzten Gewichtsanteil enthält. Die Verfügungsbeklagte selbst ist der Verwirklichung der anspruchsgemäßen Merkmale nicht entgegengetreten.
II.
Trotz des dem Grunde nach bestehenden Unterlassungsanspruches kommt der Erlass einer einstweiligen Verfügung indes im Ergebnis nicht in Betracht, da der für den Erlass einer einstweiligen Verfügung notwendige Verfügungsgrund nicht gegeben ist.
1. Dabei kommt es der Kammer zu Folge im vorliegenden Fall nicht darauf an, ob der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte München und Düsseldorf insoweit zu folgen ist, dass eine einstweilige Verfügung in Patentverletzungsfällen grundsätzlich nur dann in Betracht kommt, wenn das Verfügungspatent bereits in einem kontradiktorischen Verfahren einer Überprüfung auf seine Schutzfähigkeit standgehalten hat (OLG Düsseldorf, BeckRS 2010, 15862 – Hamkatheterset; GRUR-RR 2011, 81, 82 – Gleitsattelscheibenbremse II; GRUR-RS 2017, 142305, Rn. 12 – Kombinationszusammensetzung; OLG München, GRUR 2020, 385, 386 – Elektrische Anschlussklemme), oder ob einstweilige Verfügungen mit Blick auf die gebotene effektive Rechtsdurchsetzung angesichts der gesetzlich vorgesehenen Bindung der Verletzungsgerichte an die Entscheidungen der für den Rechtsbestand zuständigen, fachkundigen Behörden bereits grundsätzlich und nicht nur in den in den vorgenannten Entscheidungen aufgeführten Sonderkonstellationen gewährt werden müssen (Art. 9, 3 Abs. 2 der Richtlinie zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums vom 29.04.2009, ABl. L 195/16; nachfolgend: Durchsetzungsrichtlinie).
Selbst wenn man entgegen der derzeitigen Rechtsprechung der zuständigen Oberlandesgerichte von dem grundsätzlichen Erfordernis eines kontradiktorisch geführten Rechtsbestandsverfahrens absehen wollte, muss ein nach den allgemeinen Kriterien zu prüfender Verfügungsgrund gegeben sein. Voraussetzung ist daher in jedem Fall die Glaubhaftmachung einer objektiv begründeten Gefahr, dass durch Veränderung des status quo die Rechtsverwirklichung des Antragstellers mittels des im Hauptsacheprozess erlangten Urteils einschließlich dessen Vollstreckung vereitelt oder erschwert werden könnte (Drescher in Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Aufl. 2020, Rn. 15). Dabei ist das Sicherungsinteresse des Antragstellers auf der einen Seite und der Eingriff in die Rechte des Antragsgegners, der sich aus der einstweiligen Verfügung ergibt auf der anderen Seite abzuwägen (Kemper in Saenger, Zivilprozessordnung, 8. Aufl. 2019, § 940 Rn. 8). Notwendig ist eine einstweilige Verfügung vor allem dann nicht, wenn der Antragsteller mit der Geltendmachung seiner Rechte unter Berücksichtigung der Umstände des jeweiligen Einzelfalles so lange zugewartet hat, dass die nun bestehende Dringlichkeit dadurch erst entstanden ist (Kemper, a.a.O.; Drescher, a.a.O., Rn. 18 ff.). Obgleich bei Anwendung der allgemeinen Maßstäbe das Interesse eines Verfügungsbeklagten der gesetzlichen Regelung nach über die Schadensersatzregelung des § 945 ZPO für den Fall abgesichert ist, dass sich eine einstweilige Verfügung nachträglich als ungerechtfertigt erweisen sollte, müssen mit einem vorläufigen Unterlassungstitel gegebenenfalls verbundene, unverhältnismäßige Härten gerade auch mit Blick auf Art. 3 Abs. 2 der Durchsetzungsrichtlinie vermieden werden. Daher kommt nach Auffassung der Kammer jedenfalls in Fällen, in denen sich die Unwirksamkeit eines Patents geradezu aufdrängt und ein Widerruf im Rahmen eines anhängigen Einspruchsverfahrens mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, die Annahme der für den Erlass einer einstweiligen Verfügung notwendigen Dringlichkeit nicht in Betracht.
2. Im vorliegenden Fall kann der Verfügungsklägerin nach Ansicht der Kammer zwar nicht entgegengehalten werden, die Rechtsverfolgung nicht hinreichend dringlich betrieben zu haben. Der Antrag auf Erlass der einstweiligen Verfügung wurde seitens der Verfügungsklägerin weniger als zwei Wochen nach Eintrag der angegriffenen Ausführungsform in der Lauer Taxe gestellt.
3. Allerdings ist der Erlass einer einstweiligen Verfügung im vorliegenden Fall nicht notwendig im Sinne von § 940 ZPO, da nach Ansicht der Kammer mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass das Verfügungspatent im Rahmen der anhängigen Einspruchsverfahren widerrufen wird. Die ganz überwiegenden Gründe sprechen vorliegend dafür, dass die Voraussetzungen des Einspruchsgrundes der unzulässigen Erweiterung gemäß Art. 100 lit. c) EPÜ erfüllt sind.
a. Gemäß Art. 101 Abs. 2, 100 lit. c), Art. 123 Abs. 2 EPÜ ist ein europäisches Patent zu widerrufen, wenn dessen Gegenstand über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung oder, wenn das Patent auf einer Teilanmeldung oder einer nach Artikel 61 eingereichten neuen Anmeldung beruht, über den Inhalt der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht. Entscheidend ist damit, ob der von der Verfügungsklägerin geltend gemachte Anspruch 1 über den Inhalt der Stammanmeldung … hinausgeht (vgl. …). Irrelevant ist daher, dass die in Patentanspruch 1 des Verfügungspatents vorgeschlagene Formulierung eines Cinacalcet-Produkts in Abs. [0004] der Anmeldung des Verfügungspatents offenbart wird. Mit Blick auf die Eigenart des Verfügungspatents als Teilanmeldung ist zur Beurteilung der Frage einer möglichen unzulässigen Erweiterung daher insbesondere auf einen Vergleich mit der Offenbarung der Stammanmeldung und nicht lediglich der Teilanmeldung an sich abzustellen.
Der insoweit erhobene Einwand der Verfügungsbeklagten, dass Patentanspruch 1 des Verfügungspatents eine unzulässige Erweiterung im Vergleich zu der Stammanmeldung … darstellt, weil diese die von der Verfügungsklägerin beanspruchte Merkmalskombination ohne das Merkmal „1% bis 5% nach Gewicht mindestens eines Bindemittels“
nicht offenbart, greift nach Ansicht der Kammer durch.
Nach Art. 123 Abs. 2 EPÜ dürfen die europäische Patentanmeldung und das europäische Patent nicht in der Weise geändert werden, dass ihr Gegenstand über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht. Das Verbot der Erweiterung gilt gem. Art. 76 Abs. 1 EPÜ gleichermaßen für Teilanmeldungen in Verhältnis zur Stammanmeldung, wobei die gleichen Grundsätze wie bei Art. 123 Abs. 2 EPÜ anzuwenden sind (Benkard/Schäfers/Sendrowski, 3. Aufl. 2019, EPÜ, Art. 123 Rn. 178 f.).
Art. 123 Abs. 2 EPÜ liegt der Gedanke zugrunde, dass es einem Anmelder nicht gestattet ist, seine Position durch Hinzufügung von in der ursprünglichen Anmeldung nicht offenbarten Gegenständen zu verbessern, weil ihm dies zu einem ungerechtfertigten Vorteil verhülfe und der Rechtssicherheit für Dritte, die sich auf den Inhalt der ursprünglichen Anmeldung verlassen, abträglich sein könnte (Richtlinien für die Prüfung des Europäischen Patentamts, Teil H, Ziff. 2.1). Vor dem Hintergrund des daher gebotenen, strengen Prüfungsmaßstabes gilt, dass jede Änderung an den die Offenbarung betreffenden Teilen einer europäischen Patentanmeldung oder eines europäischen Patents (der Beschreibung, der Patentansprüche und der Zeichnungen) dem in Art. 123 Abs. 2 EPÜ statuierten zwingenden Erweiterungsverbot unterliegt und daher unabhängig vom Kontext der vorgenommenen Änderung nur im Rahmen dessen erfolgen darf, was der Fachmann der Gesamtheit dieser Unterlagen in ihrer ursprünglich eingereichten Fassung unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens – objektiv und bezogen auf den Anmeldetag – unmittelbar und eindeutig entnehmen kann (sog. „Goldstandard“, s. Große Beschwerdekammer, G 2/10, OJ 2012, 376 = GRURInt 2012, 797, 802, Ziff. 4.5.1 zurückgehend auf Stellungnahme der Großen Beschwerdekammer v. 19.11.1992 – G 3/89). Maßgeblich ist der Vergleich mit der jeweiligen Fassung von Beschreibung, Patentansprüchen und Zeichnungen (Benkard/Schäfers/Sendrowski, 3. Aufl. 2019, EPÜ, Art. 123 Rn. 91; s. a. Stellungnahme der Großen Beschwerdekammer v. 19.11.1992 – G 3/89, BeckRS 1992 30479462, Ziff. 2).
Ob eine Änderung durch Weglassen eines Merkmals zulässig ist, ohne dass ein entsprechend geänderter Anspruch über den ursprünglichen Offenbarungsgehalt hinausgeht, bestimmt sich dem Europäischen Patentamt zu Folge nach einem dreistufigen Wesentlichkeitstest. Wenn die Änderung mittels Ersetzen oder Streichen eines Merkmals aus einem Anspruch aufgrund mindestens eines Kriteriums den folgenden Test nicht besteht, verstößt sie gegen Art. 123 Abs. 2 EPÜ (Richtlinien für die Prüfung des Europäischen Patentamts, Teil H, Kapitel V, Ziff. 3.1): Zunächst darf das ersetzte oder gestrichene Merkmal in der ursprünglich eingereichten Offenbarung nicht als wesentlich hingestellt werden. Zudem muss der Fachmann unmittelbar und eindeutig erkennen, dass das Merkmal als solches für die Funktion der Erfindung unter Berücksichtigung der technischen Aufgabe, die sie lösen soll, nicht unerlässlich ist. Schließlich muss der Fachmann erkennen, dass das Ersetzen oder Streichen keine Angleichung eines oder mehrerer Merkmale erfordert.
Nach diesen Maßstäben ist davon auszugehen, dass das Verfügungspatent eine unzulässige Erweiterung der Stammanmeldung … darstellt:
b. Die maßgebliche Offenbarung des Anspruchs 1 des Verfügungspatents ergibt sich der Verfügungsklägerin zufolge aus den Ansprüchen 78 und 79 der Stammanmeldung. Im Vergleich dazu ist in Anspruch 1 des Verfügungspatents das in der Stammanmeldung offenbarte Vorhandensein eines Bindemittels mit einem Gewichtsanteil von 1% bis 5% weggelassen.
c. Die Kammer vermag bereits auf der ersten Stufe des den Richtlinien des Europäischen Patentamts zufolge maßgeblichen Wesentlichkeitstests keine hinreichende Anhaltspunkte erkennen, die den Schluss erlauben würden, dass es sich bei dem in einem bestimmten Gewichtsanteil offenbarten Bindemittel nicht um ein in der Stammanmeldung als wesentlich hingestelltes Merkmal handelt (so zum Verfügungspatent auch bereits LG Düsseldorf, 03.07.2020, Az. 4c O 24/20, Rn. 70 ff.).
(1) Insbesondere kann dem Argument der Verfügungsklägerin, wonach sich die Offenbarung der patentgemäßen Formulierung ohne Bindemittel aus Abs. [0004] der Stammanmeldung ergibt, nicht gefolgt werden. Abs. [0004] lautet wie folgt:
„[004] One aspect of the present invention provides a pharmaceutical composition comprising at least one calcium receptor active compound in combination with at least one pharmaceutically acceptable carrier. Certain embodiments of the present invention are directed to a pharmaceutical composition with a defined dissolution profile.“
Zu Deutsch:
„Ein Aspekt der vorliegenden Erfindung sieht eine pharmazeutische Zusammensetzung vor, die mindestens einen calciumrezeptoraktiven Wirkstoff in Kombination mit mindestens einem pharmazeutisch verträglichen Trägerstoff umfasst. Bestimmte Ausführungsformen der vorliegenden Erfindung sind auf eine pharmazeutische Zusammensetzung mit einem definierten Auflösungsprofil gerichtet.“
Es erschließt sich der Kammer nicht, woraus sich hier aus Sicht eines Fachmannes die Offenbarung einer Arzneimittel-Verbindung mit einem calciumrezeptoraktiven Wirkstoff ohne Bindemittel ergeben soll. Abs. [0004] enthält lediglich eine ganz allgemeine und aus dem Stand der Technik hinlänglich bekannte Zielsetzung, einen bestimmten Wirkstoff mit einem geeigneten Arzneimittelträger zur Verfügung zu stellen. Zugleich wird betont, dass für die vorliegende Erfindung das Erreichen eines bestimmten Auflösungsprofils von Bedeutung ist. Worin genau das zu lösende technische Problem liegt und wie die entsprechende Lösung erreicht wird, ist hieraus nicht ersichtlich.
(2) Auch aus den von der Verfügungsklägerin genannten Abs. [0033] und [0037] der Stammanmeldung ergibt sich nicht, dass in der hier geltend gemachten Kombination der Ansprüche 78 und 79 der Stammanmeldung das Bindemittel einen unwesentlichen Bestandteil darstellt und daher weggelassen werden kann. Abs. [0033] der Stammanmeldung beschreibt unterschiedliche Arten von funktional untergliederten Hilfsstoffen (Verdünnungsmittel, Bindemittel, Sprengmittel, Schmiermittel, Gleitmittel) und nennt jeweils konkrete Beispiele, die für die pharmazeutische Zusammensetzung verwendet werden können. Allerdings ergibt sich hieraus nicht, dass der Fachmann für eine erfindungsgemäße Arzneimittelverbindung beliebig den einen oder anderen Bestandteil verwenden oder weglassen kann. Vielmehr ergibt sich aus der Auflistung in Abs. [0033] nur eine Übersicht über die im Rahmen der Erfindung verwendbaren Inhaltsstoffe. In welcher Zusammensetzung und insbesondere in welchem Gewichtsverhältnis die einzelnen Stoffe verwendet werden können, ist hieraus nicht ersichtlich. Zudem ergibt sich aus dem von der Verfügungsklägerin selbst zitierten Abs. [0037], dass bestimmte Gewichtsverhältnisse der einzelnen als solche dem Grunde nach möglichen Inhaltsstoffe erfindungswesentlich sind. Insbesondere aber sieht Abs. [0037] ausdrücklich die Verwendung eines Bindemittels und zwar mit dem auch dem Verfügungspatent nach vorgesehenen Gewichtsanteil vor. Eine Verzichtbarkeit gerade dieses ausdrücklich genannten Bestandteils erschließt sich dem Fachmann daher gerade nicht.
(3) Dem entspricht auch der Offenbarungsgehalt des Abs. [0038] der Stammanmeldung, in dem eine Formulierung mit konkret benannten Hilfsstoffen und bestimmten Mengenangaben beschrieben wird (10% bis 40% Cinacalcet HCI; 5% bis 10% Stärke; 40% bis 75% mikrokristalline Cellulose (Verdünnungsmittel); 1% bis 5% Povidon (Bindemittel) und 1 bis 10% Crospovidon (Sprengmittel). Auch hier wird der Fachmann daher ausdrücklich auf die Verwendung eines Bindemittels hingewiesen.
(4) Dagegen lassen sich der gesamten Offenbarung der Stammanmeldung weder in deren Ansprüchen noch in der Beschreibung für den Fachmann relevante Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass ein Bindemittel bei der wie im Verfügungspatent beanspruchten Formulierung verzichtbar ist. Wie ausgeführt, ergibt sich im Gegenteil aus Ansprüchen 78 und 79 sowie aus Abs. [0037] der Stammanmeldung, dass ein Bindemittel in der vorliegend geltend gemachten Anspruchsfassung als notwendiger Bestandteil vorgesehen ist. Gleiches folgt aus den Abschnitten [0057] bis [0070], in denen die Herstellung von Tabletten in drei verschiedenen Stärken (30 mg, 60 mg, 90 mg Cinacalcet HDI) beschrieben wird. Sämtlich sind als Hilfsstoffe Stärke, mikrokristalline Cellulose als Verdünnungsmittel, Povidon als Bindemittel und Crospovidon als Sprengmittel enthalten.
(5) Überdies hat die Verfügungsklägerin selbst im Rahmen des Einspruchsverfahrens betreffend die Stammanmeldung betont, dass es sich bei dem in einem bestimmten Gewichtsanteil vorgesehenen Bindemittel um einen für die Erfindung entscheidenden Bestandteil handelt (Schriftsatz vom 28.05.2014 im Einspruchsverfahren betreffend EP …:
„A comparison of batches 23380-21 and 23380-26 shows that the amount of binder is relevant. (…) The results above therefore show that rapid dissolution an disintegration of the compositions can be obtained if the amount of cinacalcet HCI is limited to 40%, the amount of diluent is at least 45% and the amount of the binder is limited to at most 5%. The ranges for the components recited in granted claim 1 are thus not arbitrarly chosen, but lead tot he described technical effects.“
Zu Deutsch:
„Ein Vergleich der Chargen 23380-21 und 23380-26 zeigt, dass die Menge an Bindemittel relevant ist. (…) Die obigen Ergebnisse zeigen daher, dass eine schnelle Auflösung und ein Zerfall der Zusammensetzungen erzielt werden kann, wenn die Menge an Cinacalcet-HCI auf 40%, die Menge an Verdünnungsmittel auf mindestens 45% und die Menge an Bindemittel auf maximal 5% begrenzt ist. Die Bereiche für die in dem gewährten Anspruch 1 genannten Verbindungen wurden daher nicht willkürlich ausgewählt, sondern führen zu den beschriebenen technischen Effekten.“
Dabei ist der Kammer bewusst, dass es sich bei dem von der Verfügungsklägerin im Rahmen des Einspruchsverfahrens zitierten Chargen-Vergleich um einen nachträglich durchgeführten Test handelte. Allerdings hat die Verfügungsklägerin im Rahmen des die Stammanmeldung betreffenden Einspruchsverfahrens wie zuvor ausgeführt betont, dass es sich bei der Menge an Bindemittel um einen entscheidenden Bestandteil der Erfindung handelt. Diese, die der Stammanmeldung zu Grunde liegende Erfindung betreffende Aussage, sollte mit dem von der Verfügungsklägerin nachträglich durchgeführten Test lediglich belegt werden. Vor diesem Hintergrund stellt es aus Sicht der Kammer einen letztlich unauflösbaren Widerspruch dar, wenn man im Rahmen des Verfügungsverfahrens nunmehr ein Bindemittel als verzichtbaren und unwesentlichen Bestandteil betrachten wollte.
(6) Nichts anderes ergibt sich aus dem von der Verfügungsklägerin vorgelegten Entwicklungsbericht vom 14.08.2020 zum Einfluss der Bindemittel-Providon-Konzentration und des Gewichtsverhältnisses von mikrokristalliner Cellulose zu Stärke auf die Auflösung von Cinacalcet HCI 90 mg Tablettenkemen. Bei diesen Erkenntnissen handelt es sich um Ergebnisse eines aktuell durchgeführten Tests. Die Sicht des relevanten Fachmanns im Zeitpunkt der Einreichung der Stammanmeldung lässt sich damit bereits im Ansatz nicht belegen. Überdies kommt der Entwicklungsbericht zu dem Ergebnis, dass eine Bindemittelkonzentration von 0,0% bis 2,04% keinen signifikanten Einfluss auf die Auflösung von Cinacalcet HCI 90 mg Tabletten hat. Damit kann aber aus dem Bericht keine Schlussfolgerung dahingehend erfolgen, ob die Verwendung eines Bindemittels ab einer bestimmten höheren Konzentration gegebenenfalls (negative) Einflüsse auf die Löslichkeit von Cinacalcet hat. Die Frage, ob es sich bei dem mit einem Gewichtsanteil von 1% bis 5% vorgesehenen Bindemittel um ein wesentliches Merkmal handelt, kann daher auf der Grundlage des entsprechenden Entwicklungsberichts in der Sache nicht beantwortet werden.
(7) Auch die von der Verfügungsklägerin darüber hinaus vorgelegte Sachverständigenerklärung von Professor … gibt aus Sicht der Kammer keinen Anhaltspunkt dafür, dass es sich nach dem Offenbarungsgehalt der Stammanmeldung bei dem mit einem Gewichtsanteil von 1% bis 5% verwendeten Bindemittel um einen verzichtbaren, unwesentlichen Bestandteil handelt. Professor … gibt in seiner Erklärung eine allgemeine sachverständige Einschätzung dazu ab, ob der Fachmann im Prioritätszeitpunkt ein Bindemittel als wichtigen Hilfsstoff ansah. Zu der Frage, ob Bindemittel mit einem bestimmten Gewichtsanteil in der anspruchsgemäßen Formulierung nach der Offenbarung der Stammanmeldung als wesentlich anzusehen sind, verhält sich Professor … nicht. Entscheidend ist nach den rechtlichen Vorgaben der Art. 100 lit. c), 123 Abs. 2, 76 Abs. 1 EPÜ eine Betrachtung des Offenbarungsgehalts der Stammanmeldung des Verfügungspatents. Daraus aber lässt sich – wie ausgeführt – gerade nicht entnehmen, dass das Bindemittel in einer anspruchsgemäßen Verbindung einen unwesentlichen Bestandteil darstellt.
d. Darüber hinaus erkennt der Fachmann aus dem Offenbarungsgehalt der Stammanmeldung auch nicht unmittelbar und eindeutig, dass die Verwendung des in Anspruch 78 und Abs. [0037] der Stammanmeldung gelehrten Gewichtsanteils an Bindemittel als solches für die Funktion der Erfindung unter Berücksichtigung der technischen Aufgabe, die sie lösen soll, verzichtbar ist.
Im Gegenteil stellt sich die Verwendung eines bestimmten Gewichtsanteils an Bindemittel letztlich gerade bei technisch-funktionaler Betrachtung als wesentlicher Aspekt der der Stammanmeldung zu Grunde liegenden technischen Lehre dar. Bereits aus dem Titel der Stammanmeldung „schnellauflösende Formulierung einer Calciumrezeptor-aktiven Verbindung“ versteht der Fachmann, dass es dem Erfinder darum geht, eine Arzneimittelverbindung zur Verfügung zu stellen, deren Wirkstoff auf schnelle Art und Weise aufgelöst und im Körper des zu behandelnden Patienten aufgenommen werden kann. Gemäß Abs. [0002] der Stammanmeldung besteht bei Calcium rezeptor-aktiven Verbindungen wie Cinacalcet insbesondere das Problem, dass diese nur begrenzt wasserlöslich sind. Abs. [0006] und [0007] betonen weiter, dass das Auflösungsprofil von besonderer Bedeutung für die verfahrensgegenständliche Erfindung ist. Angesichts der schweren Löslichkeit des eigentlichen Wirkstoffs Cinacalcet kann ein geeignetes Auflöseprofil nur dann erreicht werden, wenn die weiteren Arzneimittelbestandteile in entsprechend geeigneter Weise aufeinander abgestimmt sind.
Vor diesem Hintergrund sieht auch der selbständige Anspruch 78 der Stammanmeldung eine Kombination in jeweils mit einem bestimmten Gewichtsanteil vorhandenen Wirkstoff Cinacalcet, Verdünnungsmittel und Bindemittel vor. Als zusätzlicher Bestandteil wird dann in dem abhängigen Anspruch 79 die Verwendung eines Sprengmittels gelehrt. Verdünnungsmittel und Bindemittel beeinflussen sich indes notwendig wechselseitig. Ein zu viel des einen oder des anderen Bestandteils beeinflusst unmittelbar die Löslichkeit des Wirkstoffs und kann letztlich das Kernziel der der Stammanmeldung zu Grunde liegenden Erfindung, eine schnellauflösende Formulierung für Cinacalcet-Produkte bereit zu stellen, konterkarieren. Verdünnungsmittel und Bindemittel sind im Rahmen des gemäß Anspruch 78 der Stammanmeldung geschützten Ausführungsbeispiels die unmittelbaren Gegenspieler um die Löslichkeit des an sich nur schwer löslichen Wirkstoffs Cinacalcet.
Insgesamt ist dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung der Erfolg daher zu versagen.
III.
Die Nebenentscheidungen über die Kosten und die vorläufige Vollstreckbarkeit folgen aus §§ 91 Abs. 1, 708 Nr. 6, 711 ZPO.


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