Europarecht

Gasnetz Berlin

Aktenzeichen  KZR 55/19

Datum:
9.3.2021
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
BGH
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:BGH:2021:090321UKZR55.19.0
Normen:
§ 19 Abs 2 Nr 1 GWB
§ 46 EnWG
Spruchkörper:
Kartellsenat

Leitsatz

Gasnetz Berlin
1. Hat bei der Vergabe der Konzession für ein Strom- oder Gasnetz die Gemeinde die Vergabekriterien materiell und formell rechtmäßig bestimmt und ordnungsgemäß bekanntgegeben, ist demjenigen Bieter, der bei fehlerfreier Anwendung dieser Kriterien durch die Gemeinde das beste Angebot gemacht hat, die Konzession zu erteilen.
2. Ist das Verfahren dagegen fehlerhaft, weil die Gemeinde die Vergabekriterien materiell oder formell nicht rechtmäßig bestimmt, nicht ordnungsgemäß bekanntgegeben oder nicht fehlerfrei angewendet hat, kann jedenfalls dann ein Anspruch auf Erteilung der Konzession bestehen, wenn sich die Auswahlmöglichkeiten der Gemeinde unter den besonderen Umständen des Einzelfalls dahin verdichtet haben, dass trotz des fehlerhaften Verfahrens eine Vergabeentscheidung und die Erteilung der Konzession nur zugunsten des einzig verbliebenen Bewerbers ermessensfehlerfrei ist, weil allein auf diese Weise das Ziel der regelmäßigen Neuvergabe der Konzession in einem wettbewerblichen Verfahren zwar nicht vollkommen, aber unter den gegebenen Umständen noch bestmöglich verwirklicht werden kann.
3. Eine Aufhebung oder teilweise Rückversetzung des Konzessionsvergabeverfahrens in ein früheres Stadium kommt nur in Betracht, wenn dafür ein gewichtiger Grund vorliegt.
4. Liegt ein gewichtiger Grund vor, hat die Gemeinde nach pflichtgemäßem Ermessen darüber zu entscheiden, ob sie das Vergabeverfahren aufhebt oder es mit dem Ziel der Konzessionsvergabe fortsetzt. Die Entscheidung erfordert eine Gesamtwürdigung und Abwägung aller beteiligten Interessen unter Berücksichtigung der auf die Freiheit des Wettbewerbs gerichteten Zielsetzung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen, die auf die Sicherung des Leistungswettbewerbs und insbesondere die Offenheit der Marktzugänge gerichtet ist.

Verfahrensgang

vorgehend KG Berlin, 4. April 2019, Az: 2 U 5/15 Kart, Urteilvorgehend LG Berlin, 9. Dezember 2014, Az: 16 O 224/14 Kart, Urteil

Tenor

Auf die Rechtsmittel der Klägerinnen werden das Urteil des Kartellsenats des Kammergerichts vom 4. April 2019 aufgehoben und das Urteil der Zivilkammer 16 des Landgerichts Berlin vom 9. Dezember 2014 abgeändert.
Der Beklagte wird verurteilt, das durch Veröffentlichung im elektronischen Bundesanzeiger am 20. Dezember 2011 ausgeschriebene Wegenutzungsrecht für den Betrieb des Gasversorgungsnetzes der allgemeinen Versorgung im Gebiet des Landes Berlin durch Annahme des Angebots der Klägerin zu 2 für den Abschluss eines Gaskonzessionsvertrages mit dem Land Berlin vom 3. April 2014 (Anlage K3) zu vergeben.
Hinsichtlich des Antrags der Klägerinnen auf Verurteilung des Beklagten zur wahlweisen Vergabe des Wegenutzungsrechts durch Annahme des Kooperationsangebots der Klägerinnen anstelle des Vertragsangebots der Klägerin zu 2 ist der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt.
Die Kosten des Rechtsstreits werden dem Beklagten auferlegt.
Von Rechts wegen

Tatbestand

1
Die Klägerin zu 1 ist Eigentümerin des Berliner Gasverteilernetzes und war Inhaberin der bis Ende 2013 laufenden Konzession zur Nutzung des Wegenetzes für die Gasversorgung (im Folgenden: Gaskonzession). Die Klägerin zu 2 wurde 2006 als selbständige Netzbetreiberin für die Region Berlin-Brandenburg aus der Klägerin zu 1 und der EMB Energie Mark Brandenburg GmbH ausgegründet. Sie hat das Gasverteilernetz von der Klägerin zu 1 gepachtet, die 80,5 % ihrer Gesellschaftsanteile hält.
2
Mit Bekanntmachung vom 20. Dezember 2011 leitete das beklagte Land Berlin ein Verfahren zur Neuvergabe der Gaskonzession ein. Verfahrensleitende Stelle war das Referat I A der Senatsverwaltung für Finanzen. Diese schuf im März 2012 zum Zweck der Bewerbung um die Gaskonzession einen “Landesbetrieb Berlin Energie” (nachfolgend: Landesbetrieb) als rechtlich unselbständigen Teil der Berliner Verwaltung nach § 26 LHO Berlin. Die Geschäftsleitung oblag dem Referat I E, die Fachaufsicht dem Referat I C der Senatsverwaltung für Finanzen, wobei die Geschäftsleitung durch eine Geschäftsanweisung allein den Weisungen der für die Abteilung I zuständigen Staatssekretärin unterstellt worden war.
3
Außer den Klägerinnen und dem Landesbetrieb bekundeten sieben Bewerber fristgemäß ihr Interesse an der Gaskonzession. In der Folge erarbeitete die Senatsverwaltung für Finanzen Entwürfe für einen Ersten und einen Zweiten Verfahrensbrief, wobei sie letzteren im Sommer 2012 mit dem Bundeskartellamt abstimmte. Der dem Amt übersandte Entwurf des Zweiten Verfahrensbriefs enthielt die Auswahlkriterien, eine Beschreibung des Verfahrens und den Entwurf des Konzessionsvertrags.
4
Am 20. November 2012 übertrug der Senat von Berlin die Zuständigkeit für den Landesbetrieb von der Senatsverwaltung für Finanzen auf die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt und beschloss den Ersten Verfahrensbrief, in dem das weitere Verfahren in den Grundsätzen dargestellt wurde und der am 10. Dezember 2012 an die Bewerber versandt wurde. Der Beklagte teilte darin mit, dass er außer einer reinen Konzessionsvergabe auch die Optionen einer institutionalisierten öffentlich-privaten Partnerschaft mit einem Kooperationspartner und einer reinen Rekommunalisierung prüfen werde. Bewerber sollten bis zum 21. Januar 2013 ihre Eignung nachweisen.
5
Mit dem Zweiten Verfahrensbrief vom 18. April 2013, der das weitere Verfahren und die Auswahlkriterien erläuterte, forderte der Beklagte die für geeignet befundenen Bewerber auf, ein unverbindliches Angebot abzugeben; gleichzeitig sollten die Bewerber einen Finanzierungsnachweis erbringen. In der dafür gesetzten Frist gaben nur die Klägerinnen, der Landesbetrieb und die A.      AG Angebote ab, während sich die Stadtwerke S.            GmbH und die T.    Aktiengesellschaft aus dem Verfahren zurückzogen. Die Klägerin zu 2 reichte ein Angebot für eine reine Konzessionierung ein, die Klägerinnen gemeinsam ein Kooperationsangebot; im Übrigen waren ihre Angebote identisch.
6
Mit einem Dritten Verfahrensbrief vom 31. Januar 2014 forderte der Beklagte die Bewerber zur Abgabe rechtsverbindlicher Angebote auf. Angebote reichten daraufhin nur noch die Klägerinnen und der Landesbetrieb ein. Bei der Auswertung durch die Senatsverwaltung für Finanzen erhielt das Angebot des Landesbetriebs 311 von 315 möglichen Punkten, die beiden Angebote der Klägerinnen wurden jeweils mit 299 Punkten bewertet, wobei diese Angebote bei den Kriterien “Sicherheit des Netzbetriebs und Qualität des Netzes” und “umweltverträglicher Netzbetrieb/netzbezogener Beitrag zum Ausbau der erneuerbaren Energien” jeweils eine um zwei Punkte höhere Punktzahl als das Angebot des Landesbetriebs erhielten. Der Senat von Berlin nahm am 24. Juni 2014 die Auswertung der Senatsverwaltung für Finanzen zustimmend zur Kenntnis und legte sie dem Abgeordnetenhaus zur Zustimmung vor. Diese ist bislang nicht erteilt worden.
7
Die Klägerinnen haben den Beklagten zunächst auf Annahme eines ihrer Angebote in Anspruch genommen.
8
Das Landgericht hat die Klage mit dem Hauptantrag abgewiesen und den Beklagten auf den Hilfsantrag der Klägerinnen verurteilt, es zu unterlassen, das ausgeschriebene Wegenutzungsrecht an den Landesbetrieb zu vergeben oder mit einem noch zu gründenden, aus dem Landesbetrieb hervorgehenden Unternehmen einen Gaskonzessionsvertrag zu schließen (LG Berlin, EnWZ 2015, 230).
9
Gegen dieses Urteil haben beide Parteien Berufung eingelegt. Zusätzlich zum primär weiter verfolgten Hauptantrag haben die Klägerinnen in zweiter Instanz hilfsweise beantragt, den Landesbetrieb als Teilnehmer vom weiteren Verfahren zur Vergabe der Gaskonzession auszuschließen. Das Berufungsgericht hat beide Berufungen zurückgewiesen (KG, WuW 2019, 379).
10
Am 27. Januar 2020 teilte die Senatsverwaltung für Finanzen den Klägerinnen mit, vor dem Hintergrund des Urteils des Berufungsgerichts werde das Konzessionsvergabeverfahren in den Stand vor Versendung des Zweiten Verfahrensbriefs zurückversetzt; der modifizierte Zweite Verfahrensbrief samt Kriterienkatalog werde zunächst dem Senat zur Beschlussfassung und sodann dem Hauptausschuss des Abgeordnetenhauses zur Kenntnisnahme zugeleitet und den Klägerinnen anschließend zugesandt.
11
Mit ihrer vom Senat zugelassenen Revision haben sich die Klägerinnen gegen das Berufungsurteil gewandt, soweit darin zu ihrem Nachteil entschieden worden ist. Mit Schreiben vom 18. Januar 2021 widerriefen sie ihr Kooperationsangebot gegenüber dem Beklagten. Sie begehren insoweit die Feststellung der Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache; im Übrigen verfolgt die Klägerin zu 2 – ebenso wie der Beklagte mit der Anschlussrevision – ihre Berufungsanträge weiter.


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