Europarecht

Heranziehung zur Dienstleistungsstatistik

Aktenzeichen  8 C 6/16

Datum:
15.3.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:BVerwG:2017:150317U8C6.16.0
Normen:
Art 2 Abs 1 GG
Art 3 Abs 1 GG
Art 12 Abs 1 GG
§ 1 Abs 1 DlStatG
§ 1 Abs 2 DlStatG
§ 2 Abs 1 S 2 DlStatG
§ 5 Abs 1 DlStatG
§ 1 BStatG 1987
§ 15 Abs 1 BStatG 1987
§ 40 VwVfG
Spruchkörper:
8. Senat

Leitsatz

1. Der Zweck von Stichprobenerhebungen für die Bundesstatistik wird verfehlt, wenn das Verfahren zur Auswahl der auskunftspflichtigen Unternehmen allein auf die Erzielung optimaler, möglichst genauer Ergebnisse und nicht darauf ausgerichtet wird, bezogen auf den jeweiligen Verwendungszweck hinreichend repräsentative Ergebnisse zu erzielen.
2. Für die Festlegung der danach notwendigen Ergebnisgenauigkeit kommt der Erhebungsbehörde ein fachwissenschaftlicher Einschätzungsspielraum zu.
3. Das Gleichbehandlungsgebot gebietet bei Stichprobenerhebungen die Anwendung eines Auswahlverfahrens, das die Belastung möglichst gleichmäßig auf die Auskunftspflichtigen verteilt und allen Unternehmen die Chance bietet, an einer Rotation teilnehmen zu können. Totalschichten sind allenfalls dann zulässig, wenn und soweit sie zwingend notwendig sind, um noch hinreichend repräsentative Ergebnisse erzielen zu können.
4. Die Rüge einer schlechthin nicht mehr hinnehmbaren Gesamtbeeinträchtigung der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit von Unternehmen bestimmter Art und Größe durch eine Vielzahl von Auskunfts-, Berichts- und Dokumentationspflichten (“additive Grundrechtseingriffe”) bedarf besonderer Darlegung (im Anschluss an BVerfG, Beschluss vom 13. September 2005 – 2 BvF 2/03 – BVerfGE 114, 196 ).

Verfahrensgang

vorgehend Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz, 16. Dezember 2015, Az: 10 A 10746/15, Urteilvorgehend VG Koblenz, 1. Juli 2015, Az: 2 K 581/14.KO, Urteil

Tatbestand

1
Der Kläger wendet sich gegen die Heranziehung zur Dienstleistungsstatistik. Die Dienstleistungsstatistik ist eine Bundesstatistik, welche die Entwicklung der wirtschaftlichen Tätigkeit im Dienstleistungsbereich darstellt und jährlich als Stichprobe erhoben wird.
2
Mit Bescheid vom 18. März 2014 zog das Statistische Landesamt Rheinland-Pfalz (im Folgenden: Statistisches Landesamt) den Kläger in seiner Funktion als vertretungsberechtigter Vorstand einer gemeinnützigen Baugenossenschaft zur Erteilung von Auskünften über sein Unternehmen für die Dienstleistungsstatistik 2012 heran. Seinen Widerspruch wies das Statistische Landesamt mit Widerspruchsbescheid vom 16. Mai 2014 zurück. Darin führte es aus, zur Erzielung repräsentativer Ergebnisse würden durchschnittlich bundesweit 15 % der Unternehmen und Einrichtungen befragt. Die Auswahl der in die Stichprobe einzubeziehenden Unternehmen erfolge zufällig nach einem wissenschaftlich anerkannten Verfahren, das bundeseinheitlich zur Anwendung komme. Vor der Stichprobenziehung werde die Auswahlgesamtheit der Unternehmen nach Ländern, Wirtschaftszweigen und Umsatzgrößenklassen in Schichten untergliedert. In jeder dieser Schichten werde eine separate Zufallsstichprobe gezogen. Das Unternehmen des Klägers habe sich in einer Größenklasse befunden, in der von 21 verfügbaren Unternehmen sämtliche 21 Unternehmen gezogen worden seien. Es gehöre deshalb einer so genannten Totalschicht an, in der keine Rotation (systematischer Austausch der Erhebungseinheiten) erfolge.
3
Der Kläger hat gegen diese Bescheide Anfechtungsklage erhoben. Nachdem die Vertreterin des Beklagten in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht die angefochtenen Bescheide für gegenstandslos erklärt hatte, hat er seine Klage als Fortsetzungsfeststellungsklage weiterverfolgt. Das Verwaltungsgericht hat mit Urteil vom 1. Juli 2015 festgestellt, dass der Bescheid vom 18. März 2014 und der Widerspruchsbescheid vom 16. Mai 2014 rechtswidrig gewesen sind. Den Kläger als Vertreter eines Unternehmens, das einer so genannten Totalschicht angehöre und bei gleichbleibenden Verhältnissen keine Chance habe, künftig verschont zu werden, zum zehnten Mal in Folge zur Auskunftserteilung heranzuziehen, entbehre einer Rechtsgrundlage.
4
Mit Urteil vom 16. Dezember 2015 hat das Oberverwaltungsgericht das Urteil des Verwaltungsgerichts geändert und die Klage abgewiesen. Der Kläger sei als geschäftsführender Vorstand der Genossenschaft nach § 5 und § 15 Bundesstatistikgesetz (BStatG) i.V.m. § 5 Abs. 1 Dienstleistungsstatistikgesetz (DlStatG) auskunftspflichtig. Die Einbeziehung der Genossenschaft in die Dienstleistungsstatistik für das Kalenderjahr 2012 sei nicht zu beanstanden. Der Beklagte habe die gesetzlich festgelegte Höchstzahl der heranzuziehenden Unternehmen von bundesweit 15 % eingehalten und die Erhebung als Stichprobe durchgeführt. Weiterhin gebiete das Gesetz die Auswahl der Erhebungseinheiten nach mathematisch-statistischen Verfahren und verlange die Entwicklung eines Auswahlverfahrens und von Auswahlgrundsätzen durch die Behörde. Das Statistische Landesamt habe das der Behörde dabei eingeräumte Auswahlermessen fehlerfrei ausgeübt. Seine Vorgehensweise werde insbesondere dem Zweck der Ermessensermächtigung gerecht. Die Bildung von Schichten mit unterschiedlichen Auswahlsätzen sei grundsätzlich unbedenklich, weil sie eine hohe Qualität der Ergebnisse sichere. Ebenso sei die Schichtung nach Ländern, Wirtschaftszweigen und Umsatzgrößenklassen sachgerecht und ermessensfehlerfrei. Auch die Bildung von Totalschichten und die Heranziehung des Unternehmens des Klägers innerhalb einer Totalschicht seien zulässig. Der Begründung zum Entwurf des Dienstleistungsstatistikgesetzes lasse sich entnehmen, dass Totalschichten gebildet werden dürften, sofern dies zur Erreichung aussagekräftiger Ergebnisse zwingend erforderlich sei. Dass die Schicht, der das Unternehmen des Klägers zugeordnet sei, aufgrund ihrer Heterogenität sowie der Umsatzbedeutung und der geringen Anzahl der ihr angehörenden Unternehmen nach dem angewandten Optimierungsalgorithmus zur Totalschicht werde, sei nach dem Vortrag des Beklagten nachvollziehbar. Dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit werde derzeit ausreichend durch das Ziehen neuer Stichproben in mehrjährigem Abstand und durch die jährliche Überprüfung der Schichtenbildung Rechnung getragen. Auch wenn das Unternehmen des Klägers bereits seit 2004 zur Dienstleistungsstatistik herangezogen werde, sei die Heranziehung für das Jahr 2012 nicht unzumutbar.
5
Mit der Revision rügt der Kläger, die mit der Zuordnung seines Unternehmens zu einer Totalschicht verbundene dauerhafte Heranziehung zur Dienstleistungsstatistik sei unzulässig. Nach der Gesetzesbegründung bilde die partielle Rotation die ausdrückliche Obergrenze der Beanspruchung der Auskunftspflichtigen. Eine Stichprobenerhebung, die Totalschichten aus Qualitätsgründen in Kauf nehme, ordne faktisch eine Vollerhebung ohne Rotation an und widerspreche damit den Vorgaben des Gesetzgebers. Selbst wenn Totalschichten gebildet werden dürften, sofern dies zur Erreichung aussagekräftiger Ergebnisse zwingend erforderlich sei, dürfe die Bildung von Totalschichten allenfalls ultima ratio sein; vorliegend bedeute die Totalschicht aber den Normalfall. Sie lasse sich auch mit dem Begriff der “Stichprobe” nicht in Einklang bringen, vielmehr werde in der Gruppe seines Unternehmens eine Vollerhebung praktiziert. Im Übrigen bedürfe die dauerhafte Heranziehung im Rahmen einer Totalschicht einer gesetzlichen Grundlage, die nicht vorliege und zudem verfassungsrechtlich bedenklich wäre. Schließlich sei die dauerhafte Heranziehung zur Dienstleistungsstatistik mit einem für sein Unternehmen unzumutbaren Aufwand verbunden.
6
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 16. Dezember 2015 zu ändern und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Koblenz vom 1. Juli 2015 zurückzuweisen.
7
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
8
Er verteidigt das angegriffene Urteil. Der Begründung zum Entwurf des Dienstleistungsstatistikgesetzes lasse sich kein Verbot von Totalschichten entnehmen. Eine systematische Rotation sei bereits dann gewährleistet, wenn der Auswahlsatz bezogen auf die Auswahlgesamtheit der Unternehmen insgesamt eine Rotation ermögliche und innerhalb der einzelnen Schichten regelmäßig überprüft werde, ob ein Austausch der Elemente möglich sei. Dies werde gewährleistet, indem die Schichtbesetzung durch das Statistische Bundesamt bei jeder neuen Stichprobe überprüft werde. Der Stichprobenplanung liege ein mathematisches Optimierungsverfahren (Neyman-Tschuprow-Verfahren) zugrunde. Die Entstehung von Totalschichten in den oberen Größenklassen sei Resultat dieses Optimierungsverfahrens. Die fortdauernde Pflicht zur Auskunftserteilung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Totalschicht sei nicht unverhältnismäßig. Der Aufwand für die Beantwortung der Anfrage sei nicht umfangreich und entstehe nur einmal jährlich. Die geforderten Angaben ließen sich in der Regel den im Unternehmen bereits vorhandenen Geschäftsunterlagen entnehmen.
9
Der Vertreter des Bundesinteresses unterstützt das Vorbringen des Beklagten und weist auf die Bedeutung der Dienstleistungsstatistik als Grundlage für rationale Entscheidungen insbesondere in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik hin.

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