Europarecht

Keine systemischen Mängel des Asylverfahrens in Italien

Aktenzeichen  M 7 K 16.50400

Datum:
26.8.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 34a
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 3, Art. 18, Art. 24
GRCh GRCh Art. 4

 

Leitsatz

Es bestehen keine systemischen Mängel im italienischen Asylverfahren. Insbesondere ein alleinstehender Mann läuft im Falle seiner Rückkehr nach Italien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr, wegen systemischer Mängel des dortigen Asylverfahrens und/oder der Aufnahmebedingungen einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu werden. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die Klage wird abgewiesen.
II.
Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Über die Klage konnte durch Gerichtsbescheid entschieden werden, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist (§ 84 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Der Kläger wurde vorher angehört (§ 84 Abs. 1 Satz 2 VwGO), die Beklagte und der Vertreter des öffentlichen Interesses haben durch allgemeine Prozesserklärungen auf vorherige Anhörung verzichtet.
Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Bescheid des Bundesamts vom 7. Juni 2016 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO).
Die Rechtsgrundlage für die Abschiebungsanordnung findet sich in § 34 a Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 i. V. m. Satz 1 AsylG. Danach kann das Bundesamt auch in Fällen, in denen im Inland ein Ausländer angetroffen wird, der zwar nicht in Deutschland, aber in einem anderen aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat einen Asylantrag gestellt hat, eine Abschiebungsanordnung erlassen, sobald feststeht, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann (sog. Aufgriffsfälle).
Maßgebliche Rechtsvorschrift zur Bestimmung des zuständigen Staates ist vorliegend die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III-VO). Art. 3 Abs. 1 Dublin III-VO sieht vor, dass der Asylantrag von dem Mitgliedstaat geprüft wird, der nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin III-VO als zuständiger Staat bestimmt wird. Bei Anwendung dieser Kriterien ist vorliegend Italien für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig. Der Kläger hat bei seiner Befragung durch die Schweizer Behörden und in seiner Klagebegründung angegeben, illegal nach Italien in das Hoheitsgebiet der Dublin-Staaten eingereist zu sein. Nach den vorgelegten Behördenakten hat der Kläger am 30. Oktober 2015 in Italien einen Asylantrag (BA Bl. 50) gestellt. Nach Art. 18 Abs. 1b der Dublin III-VO ist Italien demnach verpflichtet, den Antragsteller nach Maßgabe der Art. 24, 25 und 29 Dublin III-VO wieder aufzunehmen, da er sich während der Prüfung seines dort gestellten Antrags auf internationalen Schutz im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates, nämlich der Bundesrepublik Deutschland, ohne Aufenthaltstitel aufhält.
Der Kläger kann der Überstellung nach Italien auch nicht mit dem Einwand entgegentreten, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Italien systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung i. S. d. Art. 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich bringen, so dass eine Überstellung nach Italien unmöglich wäre (Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 3 Dublin-III-VO).
Das Gemeinsame Europäische Asylsystem stützt sich auf die uneingeschränkte und umfassende Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention und die Versicherung, dass niemand dorthin zurückgeschickt wird, wo er Verfolgung ausgesetzt ist. Es gilt grundsätzlich die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechte-Charta sowie der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention steht. Diese Vermutung kann jedoch widerlegt werden. Allerdings hat nicht jede Verletzung eines Grundrechts durch den zuständigen Mitgliedstaat zur Folge, dass der Mitgliedstaat, in dem ein Asylantrag eingereicht wurde, daran gehindert ist, den Antragsteller an diesen Mitgliedstaat zu überstellen. Nur wenn ernsthaft zu befürchten wäre, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 der Charta implizieren, so wäre die Überstellung mit dieser Bestimmung unvereinbar (vgl. EuGH, U. v. 21.12.2011 – C-411/10 u. a. – juris Rn. 75, 80, 82, 85 und 86). Diese vom Europäischen Gerichtshof aufgestellten Grundsätze sind nunmehr auch ausdrücklich in die Dublin-Verordnung aufgenommen worden. Der Tatrichter muss sich zur Widerlegung der auf dem Prinzip gegenseitigen Vertrauens unter den Mitgliedstaaten gründenden Vermutung, die Behandlung der Asyl-bewerber stehe in jedem Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechte-Charta sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK, die Überzeugungsgewissheit (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) verschaffen, dass der Asyl-bewerber wegen systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat mit beachtlicher, d. h. überwiegender Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wird (vgl. BVerwG, B. v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 – juris Rn. 9). Für die Frage, ob dem Kläger bei einer Überstellung nach Italien eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht, ist insbesondere auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Auslieferungs-, Ausweisungs- und Abschiebungsfällen zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, U. v. 27.4.2010 – 10 C 5/09 – juris Rn. 15, 17; BVerfG, B. v. 18.8.2013 – 2 BvR 1380/08 – juris Rn. 28).
Ausgehend von diesen Maßstäben liegen systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in Italien, die einer Abschiebung des Klägers entgegenstehen, nicht vor.
Das Gericht schließt sich hier der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte an (vgl. zunächst Beschlüsse des EGMR v. 2.4.2013, Nr. 27725/10, und v. 18.6.2013, Nr. 53852/11, ZAR 2013, 336, 338; s. auch BayVGH, U. v. 28.2.2014 – 13a B13.30295 – juris Rn. 42). Unter Berücksichtigung der Berichte von Regierungs- und Nichtregierungsinstitutionen und -organisationen über die Aufnahmeprogramme für Asylbewerber in Italien kam der Gerichtshof zu dem Schluss, dass die allgemeine Situation und die Lebensbedingungen in Italien für Asylbewerber, anerkannte Flüchtlinge und Ausländer, die aus Gründen des internationalen Schutzes oder zu humanitären Zwecken eine Aufenthaltserlaubnis erhalten hätten, zwar einige Mängel ausweisen mögen, dass die vorliegenden Materialien jedoch kein systemisches Versagen der Hilfs- und Unterstützungsmaßnahmen für Asylbewerber als Mitglieder einer besonders schutzbedürftigen Personengruppe aufzeigen würden. Berichte des UNHCR und des Menschenrechtskommissars wiesen auf jüngste Verbesserungen der Situation hin mit dem Ziel der Mängelbeseitigung; alle Berichte zeigten übereinstimmend und ausführlich die Existenz ausgearbeiteter Strukturen von Einrichtungen und Hilfsmaßnahmen, die auf die Bedürfnisse der Asylbewerber zugeschnitten seien. In dem Verfahren der Familie Tarakhel gegen die Schweiz (Nr. 29217/12) hatte die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Gelegenheit, sich mit den Verhältnissen in Italien erneut auseinanderzusetzen. Sie nahm die offenkundige Diskrepanz zwischen der im Jahr 2013 gestellten Asylanträge und der in den Einrichtungen verfügbaren Plätze zur Kenntnis sowie die Tatsache, dass der UNHCR in seinen Empfehlungen von 2013 tatsächlich eine Reihe von Problemen beschrieben hat, die sich auf die unterschiedliche Qualität der zur Verfügung stehenden Dienstleistungen – abhängig von der Größe der Einrichtungen – und auf einen Mangel an Koordinierung auf nationaler Ebene bezogen (vgl. U. v. 4.11.2014, abrufbar auf der Internetseite des EGMR, Rn. 110, 112, s. auch NVwZ 2015, 127 ff.). Sie stellte aber fest, dass die Struktur und die Gesamtsituation der Ausgestaltung der Aufnahmebedingungen in Italien allein nicht jegliches Überstellen von Asylbewerbern in dieses Land verhindert (Rn. 115). Diesen Grundsatz betonte der EGMR erneut in seiner Entscheidung vom 13. Januar 2015 (Nr. 51428/10, A.M.E./.Niederlande, abrufbar auf der Internetseite des EGMR) und wies die Beschwerde des Asylbewerbers gegen seine Überstellung nach Italien als unzulässig ab.
Soweit der EGMR in der Entscheidung Tarakhel die individuelle Lage der Beschwerdeführer im Lichte der Gesamtsituation untersucht und hierbei aufgrund der besonderen Schutzbedürftigkeit der Personen individuelle Garantien von den italienischen Behörden bei der Wiederaufnahme verlangt hat, liegt hier eine vergleichbare Situation nicht vor. Das Gericht hat die besondere Schutzbedürftigkeit insbesondere asylsuchender Kinder betont, da sie spezifische Bedürfnisse hätten und extrem verletzlich seien. Dies gelte auch dann, wenn die Kinder von ihren Eltern begleitet würden (EGMR, U. v. 4.11.2014, a. a. O., Rn. 119). Diesen Unterschied zu einem – wie hier – fähigen allein reisenden Mann, hat der Europäische Gerichtshof auch in seiner Entscheidung vom 13. Januar 2015 (Nr. 51428/10, a. a. O., Rn. 34) herausgestellt und ausgeführt, dass dem Beschwerdeführer keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung bei einer Rückführung droht.
Es ist mittlerweile gefestigte obergerichtliche Rechtsprechung, dass ein alleinstehender Mann im Falle seiner Rückkehr nach Italien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr läuft, wegen systemischer Mängel des dortigen Asylverfahrens und/oder der Aufnahmebedingungen einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Zuletzt haben dies das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen und das Oberverwaltungsgericht Niedersachsen bestätigt (OVG NRW, U. v. 24.4.2015 – 14 A 2356/12.A – juris Rn. 20 ff. m. w. N.; U. v. 19.5.2016 – 13 A 516/14.A – juris Rn. 65 ff. m. w. N.; NdsOVG, U. v. 25.6.2015 – 11 LB 248/14 – juris Rn. 47 ff. m. w. N.). In diesen Entscheidungen wird ausgeführt, dass die vorliegenden Erkenntnisse nicht den Schluss rechtfertigten, dass der Asylbewerber während des Asylverfahrens die elementaren Grundbedürfnisse (wie Unterkunft, Nahrungsaufnahme, Hygienebedürfnis, medizinische Grundversorgung) nicht in einer noch zumutbaren Weise befriedigen könne. Die Unterbringung in den staatlichen Einrichtungen werde grundsätzlich für die Zeit des Asylverfahrens und eines etwaigen Rechtsmittelverfahrens gewährleistet. Die bestehenden Mängel seien nicht so gravierend, dass damit ein grundlegendes systemisches Versagen des Mitgliedstaats vorliege. Eine andere Beurteilung sei auch nicht im Hinblick auf die derzeit besonders hohe Zahl von über das Mittelmeer in Italien ankommenden Flüchtlingen geboten. Die Schwelle zur unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung würde erst dann überschritten, wenn auf die erhöhte Zahl von Einwanderern keinerlei Maßnahmen zur Bewältigung des Problems ergriffen würden. Italien reagiere flexibel auf den Zu-strom. Ein alleinstehender Mann gehöre grundsätzlich nicht zu den besonders schutzbedürftigen Personen im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, deren Rücküberstellung eine individuelle Garantieerklärung der italienischen Behörden hinsichtlich der Unterbringung erfordere (vgl. OVG NRW, U. v. 19.5.2016, a. a. O., Rn. 99 ff.; NdsOVG, U. v. 25.6.2015, a. a. O., Rn. 51, 56). Den in diesen Entscheidungen getroffenen tatsächlichen Feststellungen und Rechtsauffassungen schließt sich das Gericht an.
Zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote hinsichtlich Italiens bestehen nicht. Inlandsbezogene Abschiebungshindernisse und Duldungsgründe, die im Rahmen des § 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylG vom Bundesamt zu prüfen sind (BayVGH, B. v. 12.3.2014 – 10 CE 14.427- juris Ls.), sind ebenfalls nicht ersichtlich.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 Abs. 2 und Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.

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