Europarecht

Patentnichtigkeitssache: Rechtsschutzinteresse für eine Nichtigkeitsklage nach Ablauf der Schutzdauer eines ergänzenden Schutzzertifikats; Patentschutz für die Kombination zweier Wirkstoffe; Identifizierbarkeit eines Wirkstoffes – Truvada

Aktenzeichen  X ZR 172/18

Datum:
22.9.2020
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
BGH
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:BGH:2020:220920UXZR172.18.0
Normen:
§ 81 PatG
Art 3 Buchst a EGV 469/2009
Art 15 Abs 1 Buchst a EGV 469/2009
Spruchkörper:
10. Zivilsenat

Leitsatz

Truvada
1. Das nach Ablauf der Schutzdauer eines ergänzenden Schutzzertifikats erforderliche Rechtsschutzinteresse für eine Nichtigkeitsklage liegt vor, wenn nicht auszuschließen ist, dass der Kläger aufgrund von Handlungen eines mit ihm verbundenen Unternehmens wegen Verletzung des Zertifikats in Anspruch genommen wird.
2a. Die Kombination zweier Wirkstoffe wird in der Regel nicht von einem Patent geschützt, das in einem seiner Patentansprüche einen der beiden Wirkstoffe nur als optionalen Bestandteil vorsieht.
2b. Dem Erfordernis, dass ein Wirkstoff nach dem Stand der Technik bei der Einreichung oder am Prioritätstag des Grundpatents in spezifischer Weise identifizierbar sein muss, wird nicht genügt, wenn er weder nach seiner Struktur noch nach seiner Funktion näher bestimmt ist.

Verfahrensgang

vorgehend BPatG München, 15. Mai 2018, Az: 4 Ni 12/17, Urteil

Tenor

Die Berufung gegen das Urteil des 4. Senats (Nichtigkeitssenats) des Bundespatentgerichts vom 15. Mai 2018 wird auf Kosten der Beklagten zurückgewiesen.
Von Rechts wegen

Tatbestand

1
Die Beklagte ist Inhaberin des europäischen Patents 915 894 (Grundpatents), das am 25. Juli 1997 unter Inanspruchnahme einer US-amerikanischen Priorität vom 26. Juli 1996 angemeldet wurde und Zwischenprodukte für Nukleotidanaloga betrifft. Ansprüche 1, 25 und 27 des Grundpatents lauten in der Verfahrenssprache:
1. A compound having formula (1a)
A-O-CH2-P(O)(-OC(R2)2OC(O)X(R)a)(Z)       (1a)
wherein
Z is -OC(R2)2OC(O)X(R)a, an ester, an amidate or -OH;
A is the residue of an antiviral phosphonomethoxy nucleotide analog;
X is N or O;
R2 independently is -H, C1-C12 alkyl, C5-C12 aryl, C2-C12 alkenyl, C2-C12 alkynyl, C7-C12 alkenylaryl, C7-C12 alkynaryl, or C6-C12 alkaryl, any one of which is unsubstituted or is substituted with 1 or 2 halo, cyano, azido, nitro or -OR3 in which R3, is C1-C12 alkyl, C2-C12 alkenyl, C2-C12 alkynyl or C5-C12 aryl;
R is independently -H, C1-C12 alkyl, C5-C12 aryl, C2-C12 alkenyl, C2-C12 alkynyl, C7-C12 alkyenylaryl, C7-C12 alkynaryl, or C6-C12 alkaryl, any one of which is unsubstituted or is substituted with 1 or 2 halo cynao, azido, nitro, -N(R4)2 or -OR3, where R4 independently is -H or C1-C8 alkyl, provided that at least one R is not H; and a is 1 when X is o, or 1 or 2, when X is N;
with the proviso that when a is 2 and X is N, (a) two N-linked R groups can be taken together to form a heterocycle containing nitrogen or a heterocycle containing nitrogen and oxygen (b) one N-linked R additionally can be -OR3 or (c) both N-linked R-groups can be -H;
and the salts, hydrates, tautomeres and solvates thereof.
25. The bis(isopropyl oxymethyl carbonate) of (R)-9-[2-(phosphonomethoxy)propyl]adenine = BIS(POC)PMPA.
27. A pharmaceutical composition comprising a compound according to any one of claims 1-25 together with a pharmaceutically acceptable carrier and optionally other therapeutic ingredients.
2
Am 21. Februar 2005 erlangte die Beklagte die arzneimittelrechtliche Zulassung für das Erzeugnis “Truvada”, das als Wirkstoffe die in Patentanspruch 25 aufgeführte Substanz Tenofovirdisoproxil sowie Emtricitabin enthält. Aufgrund einer Anmeldung vom 5. Juli 2005 erhielt die Beklagte durch Beschluss des Bundespatentgerichts vom 12. Mai 2011 (15 W [pat] 24/07) das ergänzende Schutzzertifikat 12 2005 000 041 (Streitzertifikat) für Tenofovirdisoproxil und die Salze, insbesondere das Fumarat, Hydrate, Tautomere und Solvate davon in Kombination mit Emtricitabin. Die Laufzeit des Streitzertifikats endete am 24. Februar 2020.
3
Die Klägerinnen haben geltend gemacht, das Streitzertifikat sei nach Art. 15 Abs. 1 Buchst. a in Verbindung mit Art. 3 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 469/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Mai 2009 über das ergänzende Schutzzertifikat für Arzneimittel (nachfolgend: ESZVO oder Verordnung) für nichtig zu erklären. Die Beklagte hat das Streitzertifikat verteidigt.
4
Das Patentgericht hat das Streitzertifikat für nichtig erklärt. Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten, der die Klägerinnen entgegentreten.

Entscheidungsgründe

5
Die Berufung der Beklagten ist zulässig, bleibt jedoch in der Sache erfolglos.
6
I. Das Rechtsschutzinteresse der Klägerinnen ist durch das Erlöschen des Streitzertifikats nicht entfallen.
7
Eine Nichtigkeitsklage gegen ein Schutzzertifikat ist nach dessen Ablauf nur insoweit zulässig, als der Kläger ein eigenes Rechtsschutzinteresse hat. Ein solches kann sich daraus ergeben, dass der Kläger wegen Verletzung des Zertifikats gerichtlich in Anspruch genommen wird oder Anlass zu der Besorgnis hat, er könne trotz Ablaufs der Schutzdauer Ansprüchen wegen zurückliegender Handlungen ausgesetzt sein. Ein Rechtsschutzinteresse ist in solchen Fällen nur zu verneinen, wenn eine solche Inanspruchnahme ernstlich nicht mehr in Betracht kommt (st. Rspr., s. etwa BGH, Beschluss vom 13. Juli 2020 – X ZR 90/18 Rn. 28 – Signalübertragungssystem).
8
Nach dem Vortrag der Klägerinnen zu 2 und 4, dem die Beklagte nicht entgegengetreten ist, haben diese im August 2017 jeweils den Vertrieb eines generischen Kombinationspräparats mit den Wirkstoffen Emtricitabin und Tenofovirdisoproxil aufgenommen. Die Beklagte hat sie deswegen vor dem Landgericht München I im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes auf Unterlassung in Anspruch genommen und damit deutlich gemacht, dass sie in einem solchen Verhalten eine Verletzung des Streitzertifikats sieht.
9
Die Klägerinnen zu 1 und 3 haben unwidersprochen vorgetragen, dass entsprechende Kombinationspräparate von mit ihnen verbundenen Unternehmen vertrieben werden und nicht auszuschließen ist, dass die Beklagte sie deshalb wegen Verletzung des Streitzertifikats in Anspruch nimmt.
10
Unter diesen Umständen müssen alle Klägerinnen auch nach Ablauf des Streitzertifikats damit rechnen, dass die Beklagte sie auf Schadensersatz in Anspruch nimmt. Eine von den Klägerinnen angeregte Erklärung, auf die Geltendmachung solcher Ansprüche zu verzichten, hat die Beklagte nicht abgegeben.
11
II. Das Grundpatent betrifft Zwischenprodukte für Phosphonomethoxynucleotid-Analoga, insbesondere solche, die sich zur Verwendung bei der effizienten oralen Abgabe solcher Analoga eignen (Abs. 1).
12
Der Beschreibung des Grundpatents zufolge eignen sich die erfindungsgemäßen Verbindungen zur Behandlung oder Vorbeugung von einer oder mehreren viralen Infektionen bei Menschen oder Tieren. Dazu zählten Infektionen, die durch DNA-Viren, RNA-Viren, Herpesviren, Retroviren, Hepadnaviren, Papillomaviren, Hantaviren, Adenoviren und das humane Immundefizienzvirus (HIV) verursacht werden, ferner durch das Muir-Springs-Virus (MSV), das Rous-Sarkomavirus (RSV), das Immundefizienzvirus des Affen (SIV), das feline Immundefizienzvirus (FIV), das Muleshoevirus (MuLV) und andere retrovirale Infektionen von Tieren (Abs. 44). Wie andere Nukleotid-Analoga können solche Verbindungen aufgrund ihrer strukturellen Verwandtschaft mit dem natürlichen Substrat an dessen Stelle in die DNA eines Virus eingebaut werden und in der Folge dessen Vermehrung hemmen.
13
Nach dem Grundpatent können die erfindungsgemäßen Verbindungen und ihre pharmazeutisch verträglichen Salze je nach dem zu behandelnden Zustand auf beliebigen geeigneten Verabreichungswegen verabfolgt werden; im Allgemeinen würden sie oral verabreicht (Abs. 46). Während es möglich sei, die Wirkstoffe als reine Verbindungen zu verabreichen, sei es bevorzugt, sie in Form von pharmazeutischen Zubereitungen darzureichen. Solche Zubereitungen umfassten mindestens einen der zuvor beschriebenen Wirkstoffe zusammen mit einem oder mehreren verträglichen Trägerstoffen und gegebenenfalls anderen therapeutischen Wirkstoffen (Abs. 47).
14
III. Das Patentgericht hat seine Entscheidung (BPatG, PharmaR 2019, 587 = BlPMZ 2019, 58) im Wesentlichen wie folgt begründet:
15
Das Streitzertifikat sei entgegen der in Art. 3 Buchst. a ESZVO normierten Voraussetzung erteilt worden, weil das zugrundeliegende Erzeugnis, die Wirkstoffzusammensetzung Tenofovirdisoproxil und Emtricitabin, nicht durch das Grundpatent geschützt sei. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union sei es zwar nicht zwingend, dass ein Wirkstoff ausdrücklich im Grundpatent genannt sei, vielmehr könne es genügen, wenn er unter eine funktionelle Definition falle. Erforderlich sei dann jedoch, dass sich der Patentanspruch stillschweigend, aber notwendigerweise auf den in Rede stehenden Wirkstoff beziehe, und zwar in spezifischer Art und Weise.
16
Danach sei Emtricitabin nicht durch das Grundpatent geschützt. Die Bezeichnung “therapeutische Bestandteile” in Anspruch 27 sei weder im Anspruch selbst noch in der Beschreibung näher spezifiziert. Daher sei Emtricitabin, ein Nukleosid-Analogon für die antivirale Therapie, nicht Erfindungsgegenstand des Grundpatents. Dies gelte auch dann, wenn man zugunsten der Beklagten annehme, der Fachmann verstehe Patentanspruch 27 dahin, dass der Begriff “therapeutische Bestandteile” sich nur auf antiretrovirale Wirkstoffe beziehe. Selbst hierunter fielen eine Vielzahl von Wirkstoffen und Wirkstoffklassen mit unterschiedlichen Wirkmechanismen, etwa Protease-Inhibitoren, nukleotidische Reverse-Transkriptase-Inhibitoren (NtRTI) und nukleosidische Reverse-Transkriptase-Inhibitoren (NRTI).
17
IV. Diese Beurteilung hält den Angriffen der Berufung im Ergebnis stand.
18
Zu Recht hat das Patentgericht entschieden, dass das Streitzertifikat nach Art. 15 Abs. 1 Buchst. a und Art. 3 Buchst. a ESZVO für nichtig zu erklären ist, weil die Kombination der Wirkstoffe Tenofovirdisoproxil und Emtricitabin nicht im Sinne der zuletzt genannten Vorschrift durch das Grundpatent geschützt ist.
19
1. Der Inhaber eines Patents, das ein Arzneimittel schützt, kann unter den in der Verordnung geregelten Voraussetzungen ein ergänzendes Schutzzertifikat erlangen.
20
Zweck der Verordnung ist es, einen ausreichenden Schutz zur Förderung der Forschung im pharmazeutischen Bereich zu gewährleisten. Das Zertifikat gewährt einen Schutz, der über die Laufzeit des Grundpatents hinausreicht, weil die Laufzeit des tatsächlichen Patentschutzes als unzureichend für die Amortisierung der in der pharmazeutischen Forschung vorgenommenen Investitionen angesehen wird (Erwägungsgrund 4 ff.). Nach Art. 4 und Art. 5 ESZVO gewährt das Zertifikat, beschränkt auf das Erzeugnis, das von der Genehmigung für das Inverkehrbringen des entsprechenden Arzneimittels erfasst wird, dieselben Rechte wie das Grundpatent. Hingegen soll das Zertifikat den durch das Grundpatent gewährten Schutz nicht über die von ihm geschützte Erfindung hinaus erstrecken (EuGH, GRUR 2018, 908 Rn. 41 f. – Teva UK u.a.). Unter einem Erzeugnis ist nach der Legaldefinition in Art. 1 Buchst. b ESZVO der Wirkstoff oder die Wirkstoffzusammensetzung eines Arzneimittels zu verstehen.
21
2. Die Erteilung eines Zertifikats setzt insbesondere voraus, dass in dem Mitgliedstaat der Europäischen Union, in dem die Anmeldung eingereicht wird, zum Zeitpunkt dieser Anmeldung für das in Rede stehende Erzeugnis eine gültige arzneimittelrechtliche Zulassung erteilt wurde (Art. 3 Buchst. b ESZVO) und dieses Erzeugnis durch ein in Kraft befindliches Grundpatent geschützt ist (Art. 3 Buchst. a ESZVO).
22
Im Streitfall ist zwar die erste Voraussetzung erfüllt, nicht aber die zweite.
23
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union steht Art. 3 Buchst. a ESZVO der Erteilung eines Zertifikats für eine Kombination von Wirkstoffen entgegen, wenn einer dieser Wirkstoffe in den Ansprüchen des Grundpatents nicht genannt ist (EuGH, GRUR 2012, 257 Rn. 25 – Medeva).
24
Dabei ist es nicht erforderlich, dass ein Wirkstoff ausdrücklich angeführt ist. Es genügt, dass er unter eine in den Ansprüchen des Grundpatents enthaltene strukturelle oder funktionelle Definition fällt (EuGH, GRUR 2014, 163 Rn. 38 f. – Eli Lilly and Company; GRUR 2014, 157 Rn. 38 – Actavis/Sanofi; GRUR 2020, 596 Rn. 43 – Royalty Pharma). In einer Entscheidung anlässlich des Verfahrens über das im Vereinigten Königreich erteilte Schutzzertifikat für dasselbe Erzeugnis hat der Gerichtshof diese Anforderung dahin konkretisiert, dass ein Zertifikat für ein Erzeugnis, das aus mehreren Wirkstoffen besteht, die eine kombinierte Wirkung haben, nur dann erteilt werden darf, wenn die Kombination der Wirkstoffe im Licht der Beschreibung und der Zeichnungen des Patents notwendigerweise von der durch das Patent geschützten Erfindung erfasst ist und jeder der Wirkstoffe im Licht aller durch das Patent offengelegten Angaben spezifisch identifizierbar ist (EuGH, GRUR 2018, 908 Rn. 47 ff. – Teva UK u.a.).
25
Da es an einer Harmonisierung des Patentrechts in der Europäischen Union fehlt, ist die Frage, ob das Erzeugnis in diesem Sinne durch ein Grundpatent geschützt ist, vom nationalen Gericht anhand der einschlägigen Bestimmungen zu beurteilen, die nicht zum Unionsrecht gehören und damit nicht dem Auslegungsmonopol des Gerichtshofs unterfallen (EuGH, GRUR Int 2000, 69 Rn. 27 – Farmitalia; GRUR 2012, 257 Rn. 23 – Medeva; GRUR 2014, 163 Rn. 30 f., 40 – Eli Lilly and Company, GRUR 2018, 908 Rn. 31 f., 54 – Teva UK u.a.). Geht es wie im Streitfall um ein europäisches Patent, sind für die Bestimmung des Gegenstands des Grundpatents insbesondere Art. 69 EPÜ und das Auslegungsprotokoll zu dieser Bestimmung maßgeblich (EuGH, GRUR 2018, 908 Rn. 47 – Teva UK u.a.).
26
3. Ein Erzeugnis, das aus den Wirkstoffen Tenofovirdisoproxil und Emtricitabin besteht, ist bei Anlegung dieser Maßstäbe nicht durch das Grundpatent geschützt. Die genannte Wirkstoffkombination ist nicht notwendigerweise von der durch das Patent geschützten Erfindung erfasst. Zudem ist nicht jeder der beiden Wirkstoffe im dargelegten Sinn spezifisch identifizierbar.
27
a) Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Patentgerichts ist Tenofovirdisoproxil ein nukleotidanaloger Reverse-Transkriptase-Inhibitor (NtRTI) im Sinne des Streitpatents, der die Merkmale von Patentanspruch 1 verwirklicht und in Patentanspruch 25 ausdrücklich unter Schutz gestellt ist. Dagegen handelt es sich bei Emtricitabin um einen nukleosidischen Reverse-Transkriptase-Inhibitor (NRTI). Wirkstoffe dieser Art verwirklichen die Merkmale von Patentanspruch 1 nicht.
28
b) Bei dieser Ausgangslage ist die Kombination der beiden Wirkstoffe nicht notwendigerweise von der durch das Patent geschützten Erfindung erfasst.
29
aa) Damit diese Voraussetzung erfüllt ist, reicht es nicht aus, wenn nur einer der beiden zur Kombination gehörenden Wirkstoffe notwendigerweise von der geschützten Erfindung erfasst ist. Wie der Gerichtshof dargelegt hat, muss der Beschreibung des in Rede stehenden Grundpatents vielmehr zu entnehmen sein, dass die von ihm geschützte Erfindung speziell eine kombinierte Wirkung der beiden Stoffe betrifft.
30
bb) An dieser Voraussetzung fehlt es im Streitfall, wie auch das Berufungsgericht für England und Wales angenommen hat (Teva UK Ltd. ./. Gilead Sciences, Inc., [2019] EWCA Civ 2272 Rn. 77 ff. [Lord Justice Floyd]), schon deshalb, weil sowohl die Patentansprüche 1 bis 25 als auch Patentanspruch 27 die Kombination eines Wirkstoffs mit den Merkmalen von Anspruch 1 mit einem anderen therapeutischen Bestandteil nur optional vorsehen.
31
Ist ein Bestandteil einer Zusammensetzung im Anspruch nur optional vorgesehen, bedeutet dies, dass es im Ermessen des Anwenders steht, ob er diesen Bestandteil in die Zusammensetzung aufnimmt oder nicht. Eine Kombination, die von dieser Option Gebrauch macht, fällt zwar in den Schutzbereich der genannten Ansprüche, weil alle darin vorgesehenen Merkmale erfüllt sind und die Zugabe weiterer Wirkstoffe weder nach den Ansprüchen noch nach der Beschreibung ausgeschlossen ist. Aus dem Hinweis, dass es der Zugabe eines solchen Stoffs nicht bedarf, ergibt sich jedoch im Regelfall, dass die Kombination der beiden Wirkstoffe gerade nicht zu den Merkmalen gehört, die für die Lösung des technischen Problems, das von dem Patent offengelegt wird, erforderlich sind.
32
cc) Diese Beurteilung, die in Bezug auf das im Streitfall zu beurteilende Erzeugnis auch der Gerichtshof – vorbehaltlich besonderer Umstände, die zu einer abweichenden Bewertung führen könnten – als naheliegend angesehen hat (EuGH, GRUR 2018, 908 Rn. 56 – Teva UK u.a.), steht in Einklang mit der Rechtsprechung des Senats zum Gegenstand von europäischen und – insoweit nicht anders zu beurteilenden – deutschen Patenten.
33
Nach der Rechtsprechung des Senats kommt solchen optionalen oder fakultativen Merkmalen nur eine untergeordnete Bedeutung zu. So steht es der Benutzung der technischen Lehre einer Erfindung nicht entgegen, wenn ein fakultatives Merkmal nicht verwirklicht ist (BGH, Urteil vom 4. Mai 2004 – X ZR 48/03, BGHZ 159, 76 Rn. 34 – Flügelradzähler). Optionale Merkmale bleiben bei der Prüfung der Patentfähigkeit außer Betracht (BGH, Urteil vom 13. September 2016 – X ZR 64/14, GRUR 2017, 57 Rn. 9 – Datengenerator; Urteil vom 23. April 2020 – X ZR 38/18 Rn. 67 – Niederflurschienenfahrzeug) und sind bei der Bestimmung des durch ein Patent geschützten Gegenstands nicht zu berücksichtigen (BGH, Urteil vom 21. Juni 2011 – X ZR 43/09, GRUR 2001, 1003 Rn. 18 – Integrationselement; s. auch BGH, Beschluss vom 10. Dezember 1987 – X ZB 28/86, GRUR 1988, 364, 366 – Epoxidation).
34
dd) Entgegen der Auffassung der Beklagten ist ein Patentanspruch, der ein Merkmal nur optional vorsieht, nicht ohne weiteres gleichbedeutend mit einer Abfolge von zwei Patentansprüchen, von denen der erste einen bestimmten Gegenstand ohne das in Rede stehende Merkmal und der zweite denselben Gegenstand mit diesem Merkmal schützt.
35
Aus einer solchen Abfolge von Patentansprüchen kann im Einzelfall zu entnehmen sein, dass das Patent als besondere Ausgestaltung auch eine Ausführungsform schützt, bei der das in Rede stehende Merkmal zwingend verwirklicht ist. Ein Anspruch, der ein Merkmal ausdrücklich als optional bezeichnet, bringt hingegen in der Regel zum Ausdruck, dass diesem Merkmal für die Erfindung gerade keine Bedeutung zukommt. Besondere Anhaltspunkte, die im Streitfall zu einer abweichenden Beurteilung führen könnten, sind weder geltend gemacht noch sonst ersichtlich.
36
ee) Der abweichenden Auffassung, die das niederländischsprachige Handelsgericht Brüssel in einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes (kort geding) vertreten hat, vermag der Senat nicht beizutreten.
37
Zu Recht ist das Handelsgericht allerdings davon ausgegangen, dass die Frage, ob das Erzeugnis, für das ein Schutzzertifikat begehrt wird, vom Kern der erfinderischen Tätigkeit erfasst wird, in diesem Zusammenhang nicht von Bedeutung ist (B38 S. 32). Dies hat der Gerichtshof der Europäischen Union erst vor kurzem ausdrücklich klargestellt (EuGH, GRUR 2020, 596 – Royalty Pharma Collection Trust).
38
Diese Erwägung reicht indes nicht aus, um die nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs erforderliche Voraussetzung der Notwendigkeit zu bejahen. Dementsprechend hat auch das Berufungsgericht für England und Wales nicht auf einen Kern der erfinderischen Tätigkeit abgestellt, sondern darauf, dass das Grundpatent eine Kombination mit anderen Wirkstoffen nur optional vorsieht. Mit diesem Gesichtspunkt hat sich das Handelsgericht in seiner – ohnehin nur summarischen – Würdigung nicht befasst.
39
ff) Besondere Umstände, die im Streitfall zu einer abweichenden Beurteilung führen könnten, sind weder geltend gemacht noch sonst ersichtlich.
40
Entgegen der Auffassung der Berufung kommt dem Umstand, dass zur Behandlung von HIV-Erkrankungen schon im Prioritätszeitpunkt eine Kombinationstherapie üblich war, in diesem Zusammenhang keine ausschlaggebende Bedeutung zu. Das Grundpatent befasst sich nicht mit einem Konzept zur Behandlung bestimmter Erkrankungen, sondern mit bestimmten Zwischenprodukten, die zur Behandlung eingesetzt werden können. Damit steht in Einklang, dass das Streitpatent den Einsatz weiterer Wirkstoffe in Patentanspruch 27 zwar ausdrücklich vorsieht, insoweit aber gerade keine zwingenden Vorgaben enthält.
41
c) Unabhängig davon konnte der Wirkstoff Emtricitabin vom Fachmann auf der Grundlage seiner allgemeinen Kenntnisse im Lichte aller im Patent enthaltenen Angaben nach dem Stand der Technik am Prioritätstag des Patents nicht im dargelegten Sinne in spezifischer Weise identifiziert werden.
42
aa) Der Wirkstoff Emtricitabin ist in den Ansprüchen und der Beschreibung des Grundpatents nicht ausdrücklich genannt. Er fällt auch nicht unter eine in den Ansprüchen enthaltene strukturelle oder funktionelle Definition.
43
Die Vorgabe, einen der in den Ansprüchen 1 bis 25 geschützten Wirkstoffe optional mit einem beliebigen weiteren Wirkstoff zu kombinieren, enthält keine strukturelle oder funktionelle Definition in diesem Sinne. Sie überlässt die Auswahl des zweiten Wirkstoffs vollständig dem Fachmann und nimmt gerade nicht in spezifischer Weise auf einen bestimmten Wirkstoff oder eine Gruppe von Wirkstoffen mit bestimmten Eigenschaften oder Funktionen Bezug.
44
bb) Entgegen der Auffassung der Beklagten lassen sich dem Grundpatent keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass die Wirkstoffkombination speziell der Therapie von HIV-Patienten dienen soll.
45
Wie bereits oben aufgezeigt wurde, wird die Infektion mit dem HIV in der Beschreibung des Grundpatents nur als eine von zahlreichen Virusinfektionen aufgeführt, zu deren Behandlung die geschützten Stoffe dienen. In Einklang damit stellt Anspruch 26 die Verwendung einer solchen Verbindung bei der Herstellung eines Arzneimittels zur Behandlung oder Prophylaxe von Virusinfektionen in Menschen oder Tieren unter Schutz, ohne bestimmte Viren hervorzuheben. Vor diesem Hintergrund ist nicht ersichtlich, dass die pharmazeutische Zusammensetzung nach Anspruch 27 gerade auf die Behandlung einer Infektion mit dem HIV zielt. Der Umstand, dass in Beispiel 16 über die Ergebnisse von Untersuchungen zur Aktivität einiger Verbindungen gegen das HIV-1 berichtet wird, rechtfertigt keine andere Beurteilung.
46
cc) Selbst wenn Patentanspruch 27 dahin auszulegen wäre, dass die optional beanspruchte Wirkstoffkombination speziell der Behandlung von HIV-Infektionen dient, ergäbe sich hieraus entgegen der Auffassung der Beklagten kein hinreichender Hinweis darauf, dass der weitere therapeutische Bestandteil ebenfalls aus der Gruppe antiviraler oder antiretroviraler Wirkstoffe auszuwählen ist.
47
Aus den Ansprüchen des Grundpatents ergibt sich eine solche Anweisung, wie die Berufung nicht verkennt, auch unter Heranziehung der Beschreibung nicht. Das Vorbringen der Berufung, bereits zum Prioritätszeitpunkt sei dem Fachmann bekannt gewesen, dass die Behandlung der Infektion mit dem HIV zur Verringerung des Risikos von Resistenzen vorzugsweise durch Gabe einer Kombination antiviraler oder antiretroviraler Wirkstoffe erfolge, führt angesichts dessen nicht zu einer anderen Beurteilung. Auch im Lichte dieser Erkenntnis ergab sich für den Fachmann kein spezifischer Hinweis darauf, dass Patentanspruch 27 gerade solche Kombinationen schützt. Der breiten Anspruchsfassung ist vielmehr auch unter der eingangs genannten Prämisse zu entnehmen, dass eine Verbindung nach den Ansprüchen 1 bis 25 mit jedem beliebigen Wirkstoff kombiniert werden kann, der zur Behandlung von Erkrankungen oder Beschwerden dient, die mit einer HIV-Infektion einhergehen.
48
V. Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 121 Abs. 2 PatG und § 97 Abs. 1 ZPO.
Bacher     
      
     Deichfuß     
      
Kober-Dehm
      
Richterin am BundesgerichtshofDr. Rombach ist in Urlaub undkann deshalb nicht unterschreiben.
      
      
      
        
Bacher
        
Rensen     
        


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben