Europarecht

Sittenwidrigkeit, Berufung, Fahrzeug, Software, Feststellung, Beweislast, Sachmangel, Anspruch, Bewertung, Rechtsverletzung, sittenwidrig, Klage, Nachweis, Genehmigung, angemessene Frist, Darlegungs und Beweislast, billigend in Kauf

Aktenzeichen  20 U 6469/19

Datum:
3.5.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 29922
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Verfahrensgang

83 O 2209/18 2019-10-02 Urt LGLANDSHUT LG Landshut

Tenor

1. Der Senat beabsichtigt, die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts Landshut vom 2. Oktober 2019, Az. 83 O 2209/18, gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil er einstimmig der Auffassung ist, dass die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung nicht geboten ist.
2. Hierzu besteht Gelegenheit zur Stellungnahme bis 27. Mai 2021.

Gründe

Gemäß § 513 Abs. 2 ZPO kann die Berufung nur darauf gestützt werden, dass das angefochtene Urteil auf einer Rechtsverletzung im Sinne von § 546 ZPO beruht oder nach § 529 ZPO zugrunde zu legende Tatsachen eine andere Entscheidung rechtfertigen. Dies zeigt die Berufungsbegründung nicht auf. Das Landgericht hat die Klage jedenfalls im Ergebnis zutreffend abgewiesen. Zu den Berufungsangriffen im Einzelnen:
1. Das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen einer Haftung der Beklagten zu 2) aus vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung (§§ 826, 31 BGB) hat der Kläger nicht nachvollziehbar dargelegt.
a) Sittenwidrig ist ein Verhalten, das nach seinem Gesamtcharakter, der durch umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Dafür genügt es im Allgemeinen nicht, dass der Handelnde eine Pflicht verletzt und einen Vermögensschaden hervorruft. Vielmehr muss eine besondere Verwerflichkeit seines Verhaltens hinzutreten, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zutage getretenen Gesinnung oder den eingetretenen Folgen ergeben kann (st. Rspr., vgl. etwa BGH, Urteil vom 25. Mai 2020, VI ZR 252/19, juris Rn. 15 m.w.N.). Schon zur Feststellung der Sittenwidrigkeit kann es daher auf Kenntnisse, Absichten und Beweggründe des Handelnden ankommen, welche die Bewertung seines Verhaltens als verwerflich rechtfertigen. Die Verwerflichkeit kann sich auch aus einer bewussten Täuschung ergeben (vgl. BGH, a.a.O.).
b) In dem vorstehend zitierten, grundlegenden Urteil vom 25. Mai 2020 zum Diesel-Abgasskandal hat der Bundesgerichtshof die Sittenwidrigkeit damit begründet, dass der Fahrzeughersteller bei der Motorenentwicklung die strategische Entscheidung getroffen habe, die Typgenehmigung durch arglistige Täuschung des Kraftfahrtbundesamtes zu erschleichen und die derart bemakelten Fahrzeuge sodann in den Verkehr zu bringen und dabei die Arglosigkeit und das Vertrauen der Fahrzeugkäufer gezielt auszunutzen. Ein solches Verhalten stehe einer bewussten arglistigen Täuschung derjenigen, die ein solches Fahrzeug erwerben, gleich (BGH, a.a.O., Rn. 25).
Demgegenüber hält der Bundesgerichtshof in seinem Beschluss vom 19. Januar 2021 (VI ZR 433/19, juris Rn. 17) fest, dass der Einsatz einer temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems (Thermofenster) nicht mit der Fallkonstellation zu vergleichen sei, die der Entscheidung vom 25. Mai 2020 zum VW-Motor EA 189 zugrunde gelegen habe, bei der die Software bewusst und gewollt so programmiert gewesen sei, dass die gesetzlichen Abgaswerte nur auf dem Prüfstand, nicht aber im normalen Fahrbetrieb eingehalten würden (Umschaltlogik). Bei dem Einsatz eines Thermofensters fehle es an einem derartigen arglistigen Verhalten des beklagten Automobilherstellers, das die Qualifikation seines Verhaltens als objektiv sittenwidrig rechtfertigen würde. Bei dieser Sachlage wäre der Vorwurf der Sittenwidrigkeit gegenüber der Beklagten nur gerechtfertigt, wenn zu dem – unterstellten – Verstoß gegen die Verordnung 715/2007/EG weitere Umstände hinzuträten, die das Verhalten der für die Beklagte handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen ließen. Die Annahme von Sittenwidrigkeit setze jedenfalls voraus, dass diese Personen bei der Entwicklung und/oder Verwendung der temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems in dem Bewusstsein gehandelt hätten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und dass sie den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf genommen hätten. Fehle es hieran, sei bereits der objektive Tatbestand der Sittenwidrigkeit nicht erfüllt. Dabei trage die Darlegungs- und Beweislast für diese Voraussetzung nach allgemeinen Grundsätzen die Klagepartei als Anspruchsteller (BGH, a.a.O., Rn. 19).
c) Gemessen an diesen Grundsätzen rechtfertigt das klägerische Vorbringen zum Vorliegen eines Thermofensters im Streitfall den Vorwurf der Sittenwidrigkeit nicht. Anhaltspunkte dafür, dass die für die Beklagte zu 2) handelnden Personen bei der Entwicklung und/oder Verwendung des Thermofensters in dem Bewusstsein handelten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahmen, zeigt der Kläger in der Berufungsbegründung nicht auf.
aa) Ohne Erfolg rügt der Kläger, dass die Beklagte zu 2) gegenüber dem Kraftfahrtbundesamt im Typengenehmigungsverfahren unvollständige Angaben gemacht habe, wofür er zum Beleg einen von der Beklagten zu 2) in einem Parallelverfahren vor dem Landgericht Stuttgart vorgelegten Antragsbogen aus dem Typengenehmigungsverfahren vorlegt. Selbst wenn man diesen – von der Beklagten bestrittenen – Vortrag als zutreffend unterstellt und weiter davon ausgeht, dass sich der Antragsbogen in gleicher Weise auch auf das klägerische Fahrzeug bezieht, ergeben sich hieraus keine Anhaltspunkte für eine arglistige Täuschung seitens der Beklagten zu 2). Vielmehr wird in dem Antragsbogen die Lufttemperatur ausdrücklich nur als einer von mehreren Parametern genannt, der die Abgasrückführungsrate steuert. Damit hat die Beklagte zu 2) aber im Typengenehmigungsverfahren gerade nicht verschleiert, sondern offen gelegt, dass die Abgasrückführungsrate in dem streitgegenständlichen Fahrzeug durch die Außentemperatur mitbestimmt wird. Das Kraftfahrtbundesamt hätte vor diesem Hintergrund ohne Weiteres nachfragen können und auch müssen, wenn dieser Umstand Anlass zu Bedenken hätte geben können. Dass die von der Klagepartei vermisste umfassende „Information zur Arbeitsweise des AGR-Systems“ und „Beschreibung der Auswirkungen auf die Emissionen“ seitens des Kraftfahrtbundesamts für erforderlich gehalten worden wären, ist nicht ersichtlich, umso weniger eine vorsätzliche Täuschung dieser Behörde.
bb) Hinreichende Anhaltspunkte für eine besondere Verwerflichkeit ergeben sich auch nicht aus dem Vortrag des Klägers zur freiwilligen Kundendienstmaßnahme und zu einem internen Schreiben der Beklagten an ihre Werkstätten, wonach bei sämtlichen Fahrzeugen ein Software-Update aufgespielt und damit die Software des Steuergeräts verändert werden solle. Hieraus lassen sich keine Rückschlüsse auf das Vorstellungsbild der Beklagten zu 2) zum maßgeblichen Zeitpunkt der Tatbestandsverwirklichung – spätestens dem Eintritt des behaupteten Schadens in Form des Vertragsschlusses – am 27. Dezember 2017 ziehen (vgl. BGH, a.a.O., Rn. 21).
cc) Auch aus dem Umstand, dass das Fahrzeug, wie die Klagepartei behauptet, bei normalem Betrieb auf der Straße die gesetzlichen Grenzwerte überschreitet, lässt sich nichts weiter ableiten.
Selbst wenn man unterstellt, dass die tatsächlichen Werte von den der Zulassung zugrunde gelegten Emissionswerten abweichen, ergibt sich daraus nicht zwingend, dass eine unzulässige Abschaltvorrichtung vergleichbar der in den EA 189-Motoren vorhanden sein muss. Denn es liegt auf der Hand, dass die Überschreitung der Werte im Straßenverkehr darauf zurückzuführen sein kann, dass der Motor im realen Fahrbetrieb aufgrund der konkreten Verkehrsverhältnisse deutlich mehr Schadstoffe emittiert als in einem zu Vergleichszwecken festgelegten, standardisierten Fahrzyklus auf dem Prüfstand. Dergleichen ist auch bei Herstellerangaben zum Kraftstoffverbrauch allgemein bekannt. Da der europäische Gesetzgeber für die Schadstoffnormen EU 5 und EU 6 im Jahre 2013 die Messung allein im Prüfstandsbetrieb festgelegt hatte und erst zwischenzeitlich für Neufahrzeuge Messungen im Normalbetrieb vorschreibt, kommt es gerade nicht darauf an, dass das streitgegenständliche Fahrzeug im Normalbetrieb die der Zulassung zugrundeliegenden Werte im NEFZ nicht einhält. Das wird vielmehr umgekehrt bei praktisch jedem Fahrzeug der Fall sein. Die Umschaltvorrichtung in der Software bei Fahrzeugen des Volkswagen-Konzerns mit Motor EA 189 ist vom Kraftfahrbundesamt auch nicht wegen der generellen Abweichung der Emissionswerte im Normalbetrieb als unzulässig beanstandet worden, sondern ausschließlich deshalb, weil sie bei erkannter Abweichung der Fahrt vom NEFZ die Abgasreinigung zugunsten erhöhter Stickoxidwerte veränderte (vgl. OLG Braunschweig, 7 U 363/18, BeckRS 2019, 38719).
2. Der Kläger kann seinen Anspruch auch nicht auf § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. der VO (EG) 715/2007 stützen, denn nach höchstrichterlicher Rechtsprechung sind die in Betracht kommenden Normen der Verordnung nicht drittschützend (vgl. BGH, Urteil vom 30. Juli 2020, VI ZR 5/20, juris Rn. 11). Ein Anspruch aus § 831 BGB scheitert am fehlenden Nachweis eines sittenwidrigen Verhaltens, ein Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 StGB an der fehlenden Stoffgleichheit von Schaden und erstrebtem Vermögensvorteil (vgl. BGH, Urteil vom 30. Juli 2020, VI ZR 5/20, juris Rn. 20 ff., 24).
3. Soweit der Kläger das behauptete „Thermofenster“ als Sachmangel einstuft, tritt der Senat dieser Beurteilung nicht bei. Zwar sind sogenannte „Thermofenster“ im Grundsatz unzulässig, sie können unter bestimmten Bedingung allerdings auch zulässig sein. Die Frage, ob eine Illegalität gegeben ist, hängt von einer komplexen Prüfung des technischen Sachverhalts und sodann von der Subsumtion unter die EU-Zulassungsverordnung ab (vgl. OLG Celle, 7 U 511/18, juris Rn. 28 ff.). Für diese Prüfung ist das KBA als Fachbehörde im Rahmen der Erteilung der EG-Typengenehmigung zuständig; grundsätzlich entfaltet die nach einer solchen Prüfung erteilte Genehmigung Tatbestandswirkung für die Zivilgerichte (ebenso OLG Celle, 7 U 511/18, juris Rn. 28; OLG Stuttgart, 16a U 55/19, juris).
Hat der Fahrzeughersteller die Prüfer weder durch den Einsatz einer Prüfstanderkennungssoftware getäuscht, noch gegenüber der Genehmigungsbehörde eine temperaturabhängige Abschaltvorrichtung verschwiegen und erteilt die Behörde – wie hier – die EG-Typengenehmigung, beinhaltet dies die Billigung der Abschaltvorrichtung im Rahmen ihrer Bewertung. In diesem Fall fehlt es schon an einem Sachmangel, weil die behördliche Genehmigung vorliegt und daher anders als beim Einsatz einer Schummelsoftware eine Betriebsuntersagung oder -beschränkung nach § 5 Abs. 1 FZV durch die Zulassungsbehörde nicht drohen kann (vgl. OLG Celle, 7 U 511/18, juris Rn. 30 m.w.N.).
Eine verpflichtende Rückrufaktion für das klägerische Fahrzeug behauptet auch der Kläger nicht. Sieht aber die zuständige Behörde ein behauptetes „Thermofenster“ als zulässig an, sind die Fahrzeughalter nicht der Gefahr einer drohenden Betriebsbeschränkung oder -untersagung ausgesetzt, so dass die Fahrzeuge diesbezüglich nicht mangelbehaftet sind.
Im Übrigen hätte der Kläger selbst dann, wenn ein entsprechender Mangel in Bezug auf das behauptete „Thermofenster“ anzunehmen wäre, nach §§ 437 Nr. 2, 323 BGB erst vom Vertrag zurücktreten können, wenn er der Beklagten zuvor erfolglos eine angemessene Frist zur Nacherfüllung gesetzt hätte (ebenso OLG Stuttgart, 3 U 101/18, juris Rn. 57 ff.). Dies ist unstreitig nicht erfolgt.
Der Senat regt an, die Berufung zurückzunehmen. Auf Ziffer 1222 des Kostenverzeichnisses wird hingewiesen.


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