Europarecht

Verfassungskonforme Auslegung der Ermächtigung zu Sonntagsöffnungen nach § 6 Abs. 1 Satz 1 BerlLadÖffG

Aktenzeichen  8 C 6/21

Datum:
16.3.2022
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:BVerwG:2022:160322U8C6.21.0
Spruchkörper:
8. Senat

Leitsatz

1. Wird das öffentliche Interesse für eine ausnahmsweise Sonntagsöffnung im Sinne des § 6 Abs. 1 Abs. 1 BerlLadÖffG mit einer Veranstaltung begründet, gelten keine geringeren verfassungsrechtlichen Anforderungen als für Verkaufsöffnungen an Sonn- und Feiertagen aus besonderem Anlass.
2. Ausnahmen vom Regelerfordernis der räumlichen Begrenzung der Ladenöffnung auf das Umfeld der Veranstaltung kommen bei mehrtägigen Großveranstaltungen von nationalem oder internationalem Rang in Betracht, wenn sich deren Ausstrahlungswirkung auf das gesamte Gebiet der Kommune erstreckt.

Verfahrensgang

vorgehend Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, 14. Mai 2020, Az: OVG 1 B 6.19, Urteilvorgehend VG Berlin, 5. April 2019, Az: 4 K 527.17, Urteil

Tenor

Die Revision wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Revisionsverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.

Tatbestand

1
Die Klägerin, eine Gewerkschaft, wendet sich gegen die Allgemeinverfügung des Beklagten vom 17. November 2017 über das Offenhalten von Verkaufsstellen an zusätzlichen Sonntagen für das erste Halbjahr 2018. Danach durften in diesem Zeitraum an drei Sonntagen Verkaufsstellen im Land Berlin jeweils in der Zeit von 13.00 bis 20.00 Uhr im öffentlichen Interesse ausnahmsweise für das Anbieten von Waren geöffnet sein. Am ersten Sonntag fanden in Berlin die Internationale Grüne Woche und das Berliner Sechstagerennen statt, an den beiden weiteren die Internationalen Filmfestspiele (Berlinale) sowie die Internationale Tourismusbörse. In der Begründung zur Allgemeinverfügung wurde ausgeführt, das öffentliche Interesse an der sonntäglichen Öffnung der Verkaufsstellen ergebe sich aus den genannten mehrtägigen Großveranstaltungen, denen Bedeutung für Berlin als Ganzes zukomme und die eine Vielzahl von Touristen in die Stadt holten.
2
Mit ihrer dagegen erhobenen Klage hat die Klägerin geltend gemacht, die Allgemeinverfügung verletze den verfassungsrechtlichen Sonntagsschutz. Das Verwaltungsgericht hat festgestellt, die Allgemeinverfügung sei rechtswidrig gewesen. Das Oberverwaltungsgericht hat dieses Urteil geändert und die Klage abgewiesen. Die Allgemeinverfügung sei rechtmäßig. Die darin genannten Veranstaltungen seien herausragend bedeutsame Ereignisse für die ganze Stadt, die im öffentlichen Interesse die Öffnung von Verkaufsstellen an einem Sonntag ausnahmsweise rechtfertigten. Das Bundesverfassungsgericht habe § 6 Abs. 1 Satz 1 Berliner Ladenöffnungsgesetz (BerlLadÖffG) mit Urteil vom 1. Dezember 2009 verfassungskonform ausgelegt und die verfassungsrechtlichen Fragen zur ausnahmsweisen Sonntagsöffnung für das Berliner Landesrecht abschließend geklärt. Daher bedürfe es keiner ergänzenden Heranziehung weiterer, in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts entwickelter Kriterien, um dem verfassungsrechtlich gebotenen Mindestschutz der Sonntagsruhe Rechnung zu tragen. Das gelte auch dann, wenn das für die Festlegung eines verkaufsoffenen Sonntags erforderliche öffentliche Interesse inhaltlich an eine Veranstaltung anknüpfe. Nach diesem Maßstab seien die Sonntagsöffnungen rechtmäßig gewesen.
3
Zur Begründung ihrer Revision macht die Klägerin geltend, das Berufungsgericht verletze den durch Art. 140 GG i.V.m. Art. 139 WRV garantierten Sonntagsschutz. Die dazu ergangene Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sei auf die Rechtslage im Land Berlin anzuwenden. Sie leite sich unmittelbar aus den verfassungsrechtlichen Vorgaben ab und sei unabhängig von der konkreten landesrechtlichen Ausgestaltung der Rechtsgrundlage immer dann zwingend zu beachten, wenn eine Sonntagsöffnung mit einer Anlassveranstaltung begründet werde. Das Bundesverfassungsgericht habe mit Urteil vom 1. Dezember 2009 keine abschließende Auslegung des Berliner Landesrechts vorgenommen. Diese bleibe den Fachgerichten vorbehalten. Bei zutreffender Anwendung des revisiblen Rechts hätte das Berufungsgericht zu dem Ergebnis gelangen müssen, dass die jeweiligen Anlässe eine Sonntagsöffnung für ganz Berlin und alle Warengruppen nicht hätten rechtfertigen können, da die Veranstaltungen nicht stadtweit prägend gewesen seien. Zudem habe der Beklagte keine verlässliche Besucherzahlenprognose erstellt.
4
Die Klägerin beantragt,
den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 14. Mai 2020 zu ändern und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 5. April 2019 zurückzuweisen.
5
Der Beklagte und die Beigeladene beantragen jeweils,
die Revision zurückzuweisen.
6
Sie verteidigen den angegriffenen Beschluss und tragen ergänzend vor, der Berliner Landesgesetzgeber habe dem verfassungsrechtlich gebotenen Mindestschutz der Sonntagsruhe durch zahlenmäßige Begrenzung der möglichen Sonntagsöffnungen und deren Beschränkung auf jeweils sieben Stunden Rechnung getragen. Der verfassungskonformen Auslegung des § 6 Abs. 1 Satz 1 BerlLadÖffG durch das Bundesverfassungsgericht komme gemäß § 31 BVerfGG Gesetzeskraft zu. Danach liege ein öffentliches Interesse für eine berlinweite Sonntagsöffnung vor, wenn an dem betreffenden Sonntag große Messen oder andere Veranstaltungen stattfänden, die Bedeutung für Berlin als Ganzes hätten. Weitere Voraussetzungen habe das Bundesverfassungsgericht nicht gefordert.
7
Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht trägt vor, in größeren Städten sei die anlassbezogene Sonntagsöffnung mit erheblichen Rechtsunsicherheiten belastet. Die durch die Ladenöffnung ausgelösten Besucherströme sollten daher außer Betracht bleiben. Die zunehmende Säkularisierung habe zu einem Bedeutungswandel des Sonntags geführt. Bei der rechtlichen Bewertung der Zulässigkeit von Sonntagsöffnungen sei zu berücksichtigen, dass Einkaufen heute zur Freizeitgestaltung gehöre. Zudem sei der stationäre Einzelhandel einem erheblichen Strukturwandel unterworfen.

Entscheidungsgründe

8
Die Revision hat keinen Erfolg. Die Entscheidung des Berufungsgerichts beruht zwar auf der Verletzung von Bundesrecht, erweist sich aber aus anderen Gründen als richtig (§ 137 Abs. 1 Nr. 1, § 144 Abs. 4 VwGO).
9
1. Die Annahme des Berufungsgerichts, eine stadtweite sonntägliche Ladenöffnung sei nach § 6 Abs. 1 Satz 1 des Berliner Ladenöffnungsgesetzes vom 14. November 2006 (GVBl. S. 1045), zuletzt geändert durch das Zweite Gesetz zur Änderung des Berliner Ladenöffnungsgesetzes vom 13. Oktober 2010 (GVBl. S. 467 – BerlLadÖffG -), wegen herausragend bedeutsamer Ereignisse für die ganze Stadt Berlin gerechtfertigt, ohne dass es auf die in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Sonntagsschutz entwickelten Kriterien ankomme, steht nicht im Einklang mit Bundesrecht. Sie beruht auf einer Auslegung der landesrechtlichen Ermächtigung, die dem verfassungsrechtlich geforderten Mindestniveau des Sonntagsschutzes nicht entspricht.
10
a) Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 BerlLadÖffG legt die für die Ladenöffnungszeiten zuständige Senatsverwaltung im öffentlichen Interesse die Öffnung von Verkaufsstellen an jährlich acht, nicht unmittelbar aufeinanderfolgenden Sonn- oder Feiertagen in der Zeit von 13.00 bis 20.00 Uhr durch Allgemeinverfügung fest. Da die Vorschrift zum irrevisiblen Recht gehört, hat das Revisionsgericht nach § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 560 ZPO von der vorinstanzlichen Auslegung auszugehen und nur deren Vereinbarkeit mit revisiblem Recht zu beurteilen. Das Berufungsgericht geht davon aus, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 1. Dezember 2009 – 1 BvR 2857, 2858/07 – (BVerfGE 125, 39) habe eine abschließende verfassungskonforme Auslegung des § 6 Abs. 1 Satz 1 BerlLadÖffG vorgenommen. Danach sei eine ausnahmsweise Sonntagsöffnung im öffentlichen Interesse bei herausragend bedeutsamen Ereignissen für die ganze Stadt Berlin zulässig, ohne dass es auf weitere, in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts entwickelte Kriterien zum ausreichenden, die Sonntagsöffnung rechtfertigenden Gewicht der Veranstaltung als Sachgrund ankomme. Zu solch besonderen Ereignissen zählt das Berufungsgericht insbesondere Großveranstaltungen, die über die Stadt hinaus Bedeutung haben, zahlreiche Touristen nach Berlin holen und die einzeln oder in ihrem Zusammenwirken Bedeutung für Berlin als Ganzes haben. In solchen Fällen hält das Berufungsgericht die Überprüfung der prägenden Wirkung der Veranstaltung anhand eines prognostischen Besucherzahlenvergleichs für entbehrlich. Ebenso wenig soll es auf die räumliche Ausstrahlungswirkung des Veranstaltungsgeschehens ankommen. Diese Auslegung des § 6 Abs. 1 Satz 1 BerlLadÖffG wird der verfassungsrechtlichen Gewährleistung des Sonn- und Feiertagsschutzes gemäß Art. 140 GG i.V.m. Art. 139 WRV nicht in jeder Hinsicht gerecht.
11
b) Art. 140 GG i.V.m. Art. 139 WRV schützt den Sonn- und Feiertag als Tag der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung. Er konkretisiert die Schutzpflichten aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG und dient der Verwirklichung des Sozialstaatsprinzips, weil er jedermann regelmäßige Ruhetage garantiert und den Schutz der Grundrechte verstärkt, deren Ausübung in besonderem Maße auf die synchrone Taktung des sozialen Lebens angewiesen ist, beispielsweise Art. 2 Abs. 2, Art. 6 Abs. 1, Art. 8 und Art. 9 Abs. 1 und 2 GG (BVerfG, Urteil vom 1. Dezember 2009 – 1 BvR 2857, 2858/07 – BVerfGE 125, 39 ). Der Gesetzgeber ist gemäß Art. 140 GG i.V.m. Art. 139 WRV verpflichtet, den Sonn- und Feiertagsschutz entsprechend auszugestalten. Die Grenzen seines weiten Gestaltungsspielraums sind erst überschritten, wenn das gesetzliche Schutzkonzept offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich ist oder wenn es erheblich hinter dem Schutzziel zurückbleibt. Das ist der Fall, wenn die gesetzliche Regelung das verfassungsrechtlich geforderte Mindestniveau des Sonntagsschutzes unterschreitet. Um dieses Mindestniveau zu wahren, muss der Gesetzgeber die Sonn- und Feiertage als Tage der Arbeitsruhe zur Regel erheben. Ausnahmen darf er nur aus zureichendem Sachgrund zur Wahrung gleich- oder höherrangiger Rechtsgüter zulassen; das bloß wirtschaftliche Umsatzinteresse der Verkaufsstelleninhaber und das alltägliche Erwerbsinteresse (Shopping-Interesse) potenzieller Käufer genügen dazu nicht. Außerdem muss sichergestellt sein, dass die Ausnahmen als solche für die Öffentlichkeit erkennbar bleiben. Danach genügt es nicht, die Zahl der jährlich zulässigen Sonn- und Feiertagsöffnungen gesetzlich zu beschränken. Darüber hinaus muss der Gesetzgeber sicherstellen, dass entsprechende Ermächtigungen nur Sonntagsöffnungen ermöglichen, die durch einen zureichenden Sachgrund im Sinne der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung gerechtfertigt und für das Publikum am betreffenden Tag als Ausnahme von der sonntäglichen Arbeitsruhe zu erkennen sind. Eine Sonntagsöffnung darf nicht auf eine weitgehende Gleichstellung mit den Werktagen und ihrer geschäftigen Betriebsamkeit hinauslaufen. Geht eine gesetzliche Ermächtigung über diese Grenzen hinaus, unterschreitet sie das verfassungsrechtlich geforderte Mindestniveau des Sonntagsschutzes, sofern sie nicht verfassungskonform ausgelegt werden kann (vgl. BVerwG, Urteile jeweils vom 22. Juni 2020 – 8 CN 1.19 – BVerwGE 168, 338 Rn. 14 ff. und – 8 CN 3.19 – BVerwGE 168, 356 Rn. 14 ff. m.w.N.).
12
Der Gesetzgeber darf nur zu Sonntagsöffnungen ermächtigen, die jeweils durch einen zureichenden Sachgrund von einem Gewicht getragen werden, das den zeitlichen und räumlichen Umfang der Öffnung rechtfertigt. Findet die Sonntagsöffnung aus Anlass einer Veranstaltung statt, muss gewährleistet sein, dass sie und nicht die Ladenöffnung das öffentliche Bild des betreffenden Sonntags prägt. Daraus ergeben sich Grenzen für den zulässigen Umfang anlassbezogener Öffnungen. Anlassbezogene Sonntagsöffnungen müssen sich stets als Annex zur anlassgebenden Veranstaltung darstellen. Sie dürfen nur zugelassen werden, wenn die dem zuständigen Organ bei der Entscheidung über die Sonntagsöffnung vorliegenden Informationen und die ihm sonst bekannten Umstände die schlüssige und nachvollziehbare Prognose erlauben, die Zahl der von der Veranstaltung selbst angezogenen Besucher werde größer sein als die Zahl derjenigen, die allein wegen einer Ladenöffnung am selben Tag – ohne die Veranstaltung – kämen (prognostischer Besucherzahlenvergleich). Anlassbezogene Sonntagsöffnungen müssen in der Regel auf das räumliche Umfeld der Anlassveranstaltung beschränkt werden. Dieses Umfeld wird durch die Ausstrahlungswirkung der Veranstaltung bestimmt und entspricht dem Gebiet, das durch das Veranstaltungsgeschehen selbst geprägt wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. Juni 2020 – 8 CN 1.19 – BVerwGE 168, 338 LS 2, 3 und 4, Rn. 20 ff.). Ausnahmen vom Regelerfordernis der räumlichen Begrenzung auf das Umfeld der Veranstaltung kommen beispielsweise bei mehrtägigen Großveranstaltungen von nationalem oder internationalem Rang in Betracht, wenn deren Besucher im gesamten Gebiet der Kommune untergebracht und versorgt werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. Juni 2020 – 8 CN 1.19 – a.a.O. Rn. 26; BVerfG, Urteil vom 1. Dezember 2009 – 1 BvR 2857, 2858/07 – BVerfGE 125, 39 ).
13
c) Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts steht das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 1. Dezember 2009 einer Berücksichtigung dieser Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Mindestschutzniveaus bei der Auslegung des § 6 Abs. 1 Satz 1 BerlLadÖffG nicht entgegen. Ihm lässt sich keine abschließende, die Fachgerichte gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG bindende Auslegung dieser landesrechtlichen Vorschrift entnehmen.
14
Grundsätzlich ist die Auslegung und Anwendung einfachen Gesetzesrechts Aufgabe der sachnäheren Fachgerichte (BVerfG, Beschluss vom 10. Juni 1975 – 2 BvR 1018/74 – BVerfGE 40, 88 ). Nur soweit die Verfassungswidrigkeit einer Norm ausgesprochen oder die Feststellung getroffen worden ist, eine bestimmte Auslegung des einfachen Rechts sei verfassungswidrig, sind die Fachgerichte gemäß § 31 BVerfGG hieran gebunden (BVerfG, Beschluss vom 6. Mai 1986 – 1 BvR 677/84 – BVerfGE 72, 119 ). Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zur Auslegung und Anwendung einfachen Rechts sind nur insoweit verbindlich, als das Gericht aus dem Verfassungsrecht abzuleitende Maßstäbe hierfür setzt (BVerwG, Urteil vom 12. Juni 1992 – 7 C 5.92 – BVerwGE 90, 220 ).
15
Das Bundesverfassungsgericht hat mit Urteil vom 1. Dezember 2009 zwar aus Art. 140 GG i.V.m. Art. 139 WRV verfassungsrechtliche Maßgaben für Ladenöffnungen an Sonn- und Feiertagen abgeleitet, aber keine abschließende Konkretisierung der tatbestandlichen Voraussetzungen einer Sonntagsöffnung nach § 6 Abs. 1 Satz 1 BerlLadÖffG vorgenommen. Es ist davon ausgegangen, dass das verfassungsrechtlich geforderte Mindestniveau des Sonn- und Feiertagsschutzes gemäß Art. 140 GG i.V.m. Art. 139 WRV nur gewahrt ist, wenn für die Sonntagsöffnung ein dem Sonntagsschutz gerecht werdender Sachgrund besteht und die jeweilige Ladenöffnung dem Regel-Ausnahme-Gebot genügt (BVerfG, Urteil vom 1. Dezember 2009 – 1 BvR 2857, 2858/07 – BVerfGE 125, 39 ). Diese verfassungsrechtlichen Maßgaben hat es in Bezug auf § 6 Abs. 1 Satz 1 BerlLadÖffG dahin konkretisiert, dass ein allein am Wortlaut orientiertes Verständnis des unbestimmten Rechtsbegriffs “öffentliches Interesse”, das für eine Sonntagsöffnung jedes noch so geringe öffentliche Interesse genügen ließe, dem verfassungsrechtlichen Mindestniveau des Sonn- und Feiertagsschutzes nicht gerecht wird. Vielmehr verlangt § 6 Abs. 1 Satz 1 BerlLadÖffG bei verfassungskonformer Auslegung ein öffentliches Interesse solchen Gewichts, das die Ausnahmen von der Arbeitsruhe rechtfertigt (vgl. BVerfG, Urteil vom 1. Dezember 2009 a.a.O. S. 98).
16
Über diese ihrerseits konkretisierungsbedürftigen Maßgaben hinaus entfaltet das Urteil keine Bindungswirkung gemäß § 31 BVerfGG. Seine Bezugnahme auf die Begründung des Berliner Landesgesetzgebers, wonach besondere Ereignisse im Interesse der Berliner und Touristen, wie große Veranstaltungen, die über die Stadt hinaus Bedeutung haben und zahlreiche Touristen nach Berlin holen, das Tatbestandsmerkmal des öffentlichen Interesses im Sinne des § 6 Abs. 1 Satz 1 BerlLadÖffG sollen ausfüllen können (vgl. Abgh.-Drs. 16/0015, S. 13), stellt keine für jeden Einzelfall abschließende Auslegung der Vorschrift dar. Das verdeutlichen die weiteren Ausführungen des bundesverfassungsgerichtlichen Urteils, wonach nur solche Veranstaltungen, die einzeln oder in ihrem Zusammenwirken Bedeutung für Berlin als Ganzes hätten, die ausnahmsweise Sonntagsöffnung würden “tragen können” (vgl. BVerfG, Urteil vom 1. Dezember 2009 – 1 BvR 2857, 2858/07 – BVerfGE 125, 39 ). Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass nicht jede Veranstaltung allein schon wegen ihrer Bedeutung für Berlin als Ganzes ohne Prüfung weiterer Voraussetzungen eine Sonntagsöffnung im öffentlichen Interesse begründet. Zudem verlangt die Freigabe der Sonntagsöffnung durch Allgemeinverfügung eine Verwaltungsentscheidung, welche die Möglichkeit eröffnet, die jeweils betroffenen Interessen und Rechtsgüter konkret in eine Abwägung einzubeziehen (vgl. BVerfG, Urteil vom 1. Dezember 2009 a.a.O. S. 97). Das setzt eine fallbezogene Konkretisierung des öffentlichen Interesses an einer ausnahmsweisen Sonntagsöffnung in jedem konkreten Einzelfall voraus, die der zuständigen Behörde und den Fachgerichten vorbehalten bleibt.
17
2. Der angegriffene Beschluss beruht auf der aufgezeigten, den verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht in jeder Hinsicht genügenden Konkretisierung des § 6 Abs. 1 Satz 1 BerlLadÖffG. Bei zutreffender Anwendung der Vorschrift erweist sich die Entscheidung des Berufungsgerichts jedoch aus anderen Gründen als richtig (§ 144 Abs. 4 VwGO). Die Feststellungen des Berufungsgerichts tragen im Ergebnis die Annahme, dass die verfahrensgegenständlichen Sonntagsöffnungen ausnahmsweise im öffentlichen Interesse nach § 6 Abs. 1 Satz 1 BerlLadÖffG zugelassen werden durften.
18
a) Zu Recht hat das Berufungsgericht das Vorliegen eines zureichenden Sachgrundes für die ausnahmsweisen Sonntagsöffnungen angenommen. Bei der Internationalen Grünen Woche, dem Berliner Sechstagerennen, der Berlinale und der Internationalen Tourismusbörse handelt es sich jeweils um jährlich stattfindende, mehrtägige internationale Großveranstaltungen mit langjähriger und internationaler Tradition, die eine Besucherzahl in erheblicher, teils sechsstelliger Größenordnung anziehen. Solche Veranstaltungen können einen Sachgrund von hinreichendem Gewicht für eine sonntägliche Ladenöffnung darstellen.
19
b) Wird das öffentliche Interesse an einer Sonntagsöffnung mit einer Veranstaltung als Sachgrund gerechtfertigt, muss die Veranstaltung – und nicht die Ladenöffnung – das öffentliche Bild des betreffenden Sonntags prägen. Das setzt voraus, dass die öffentliche Wirkung der Veranstaltung gegenüber der durch die Ladenöffnung ausgelösten, typischen werktäglichen Geschäftigkeit im Vordergrund steht, sodass die Ladenöffnung nur als Annex zur Veranstaltung erscheint. Dazu muss die Sonntagsöffnung regelmäßig auf das räumliche Umfeld der Veranstaltung begrenzt werden, damit ihr Bezug zum Veranstaltungsgeschehen erkennbar bleibt. Ausnahmen von diesem Regelerfordernis kommen bei mehrtägigen Großveranstaltungen von nationalem oder internationalem Rang in Betracht, wenn deren Besucher im gesamten Gebiet der Kommune untergebracht und versorgt werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. Juni 2020 – 8 CN 1.19 – BVerwGE 168, 338 Rn. 26) oder sie in anderer Weise auf das Gesamtgebiet ausstrahlen. Das war hier nach den nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen Tatsachenfeststellungen der Fall. Das Berufungsgericht ist davon ausgegangen, dass sich die Ausstrahlungswirkung der Veranstaltungen, die teils zeitgleich an unterschiedlichen Veranstaltungsorten im Stadtgebiet stattfanden, jeweils über deren unmittelbares räumliches Umfeld hinaus auf das gesamte Stadtgebiet erstreckte. Damit waren sie geeignet, gebietsweit das öffentliche Bild des Sonntags zu prägen.
20
c) Das Berufungsgericht hat allerdings – wie dargelegt – zu Unrecht davon abgesehen, für die prägende Wirkung der verfahrensgegenständlichen Veranstaltungen einen prognostischen Vergleich der von der jeweiligen Veranstaltung und der von einer bloßen Ladenöffnung angezogenen Besucherzahlen zu verlangen. Gleichwohl hat es die in der Allgemeinverfügung angestellte Besucherzahlenprognose in Bezug genommen und (hilfsweise) bestätigt. Diese erweist sich indessen nicht in jeder Hinsicht als schlüssig und nachvollziehbar. Auf der Grundlage der vom Handelsverband Berlin-Brandenburg für verkaufsoffene Sonntage ermittelten Daten geht sie davon aus, 8,04 % der durchschnittlichen wöchentlichen Kundenzahl würden auch ohne Veranstaltung von einer Ladenöffnung an einem Sonntag angezogen. Die daraus abgeleitete Folgerung, 8,04 % aller Veranstaltungsbesucher würden von einer Sonntagsöffnung angezogen, ist hingegen nicht nachvollziehbar. Vielmehr kommt es nicht auf die Bezugsgröße aller Veranstaltungsbesucher, sondern darauf an, ob die Veranstaltung auch ohne Sonntagsöffnung mehr Besucher anzöge, als Kunden wegen der sonntäglichen Ladenöffnung ohne Veranstaltung gekommen wären.
21
Bei zutreffender Bezugsgröße ist die Prognose jedoch im Ergebnis nicht zu beanstanden. Auf der Grundlage der vom Berufungsgericht für die betreffenden Veranstaltungen festgestellten Gesamtbesucherzahlen war an den drei verkaufsoffenen Sonntagen mit durchschnittlich 50 000, 45 000 und 36 000 Veranstaltungsbesuchern zu rechnen. Demgegenüber belief sich die Anzahl der Kunden, die auch ohne die Veranstaltung allein von der Ladenöffnung angezogen würden, nach den nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen und daher für das Revisionsgericht bindenden Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts (vgl. § 137 Abs. 2 VwGO) auf lediglich 20 255 und blieb damit hinter den prognostizierten Besucherzahlen der Veranstaltungen deutlich zurück.
22
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO.


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