Europarecht

Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zur Auslegung der Richtlinie über den rechtlichen Schutz von Mustern und Modellen: Sichtbarkeit eines ein Muster verkörpernden Bauelements; bestimmungsgemäße Verwendung eines komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer – Sattelunterseite

Aktenzeichen  I ZB 31/20

Datum:
1.7.2021
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
BGH
Dokumenttyp:
EuGH-Vorlage
ECLI:
ECLI:DE:BGH:2021:010721BIZB31.20.0
Normen:
Art 3 Abs 3 EGRL 71/98
Art 3 Abs 4 EGRL 71/98
§ 1 Nr 4 GeschmMG 2004
§ 4 GeschmMG 2004
Art 267 AEUV
Spruchkörper:
1. Zivilsenat

Leitsatz

Sattelunterseite
Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden zur Auslegung von Art. 3 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 98/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Oktober 1998 über den rechtlichen Schutz von Mustern und Modellen (ABl. EG L 289 vom 28. Oktober 1998, S. 28) folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist ein Bauelement, das ein Muster verkörpert, bereits dann “sichtbar” im Sinne von Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 98/71/EG, wenn es objektiv möglich ist, das Design in eingebautem Zustand des Bauelements erkennen zu können, oder kommt es auf die Sichtbarkeit unter bestimmten Nutzungsbedingungen oder aus einer bestimmten Betrachterperspektive an?
2. Wenn Frage 1 dahin zu beantworten ist, dass die Sichtbarkeit unter bestimmten Nutzungsbedingungen oder aus einer bestimmten Betrachterperspektive maßgeblich ist:
a) Kommt es für die Beurteilung der “bestimmungsgemäßen Verwendung” eines komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer im Sinne von Art. 3 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 98/71/EG auf den vom Hersteller des Bauelements oder des komplexen Erzeugnisses intendierten Verwendungszweck oder die übliche Verwendung des komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer an?
b) Nach welchen Kriterien ist zu beurteilen, ob die Verwendung eines komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer “bestimmungsgemäß” im Sinne von Art. 3 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 98/71/EG ist?

Verfahrensgang

vorgehend BPatG München, 27. Februar 2020, Az: 30 W (pat) 809/18, Beschluss

Tenor

I. Das Verfahren wird ausgesetzt.
II. Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden zur Auslegung von Art. 3 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 98/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Oktober 1998 über den rechtlichen Schutz von Mustern und Modellen (ABl. EG L 289 vom 28. Oktober 1998, S. 28) folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist ein Bauelement, das ein Muster verkörpert, bereits dann “sichtbar” im Sinne von Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 98/71/EG, wenn es objektiv möglich ist, das Design in eingebautem Zustand des Bauelements erkennen zu können, oder kommt es auf die Sichtbarkeit unter bestimmten Nutzungsbedingungen oder aus einer bestimmten Betrachterperspektive an?
2. Wenn Frage 1 dahin zu beantworten ist, dass die Sichtbarkeit unter bestimmten Nutzungsbedingungen oder aus einer bestimmten Betrachterperspektive maßgeblich ist:
a) Kommt es für die Beurteilung der “bestimmungsgemäßen Verwendung” eines komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer im Sinne von Art. 3 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 98/71/EG auf den vom Hersteller des Bauelements oder des komplexen Erzeugnisses intendierten Verwendungszweck oder die übliche Verwendung des komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer an?
b) Nach welchen Kriterien ist zu beurteilen, ob die Verwendung eines komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer “bestimmungsgemäß” im Sinne von Art. 3 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 98/71/EG ist?

Gründe

1
I. Für die Designinhaberin ist beim Deutschen Patent- und Markenamt seit dem 3. November 2011 das am 9. September 2011 angemeldete Design Nr. 40 2011 004 383-0001 für die Erzeugnisse “Sättel für Fahrräder oder Motorräder” mit folgender einziger Darstellung eingetragen, die die Unterseite eines Sattels zeigt:
2
Die Antragstellerin hat am 27. Juli 2016 die Feststellung der Nichtigkeit des Designs beantragt. Sie macht geltend, dem Design fehlten die Schutzvoraussetzungen der Neuheit und Eigenart. Vor allem sei es nach § 4 DesignG vom Schutz ausgeschlossen, weil es als Bauelement der komplexen Erzeugnisse “Fahrrad” und “Motorrad” bei deren bestimmungsgemäßer Verwendung nicht sichtbar sei.
3
Die Designabteilung des Deutschen Patent- und Markenamts hat den Antrag zurückgewiesen. Auf die dagegen gerichtete Beschwerde der Antragstellerin hat das Bundespatentgericht das Design für nichtig erklärt (GRUR-RR 2020, 246). Hiergegen richtet sich die vom Bundespatentgericht zugelassene Rechtsbeschwerde der Designinhaberin, deren Zurückweisung die Antragstellerin beantragt.
4
II. Das Bundespatentgericht hat – soweit für das Rechtsbeschwerdeverfahren relevant – angenommen, auf die zulässige Beschwerde sei nach § 33 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3, §§ 2, 4, 1 Nr. 4 DesignG die Nichtigkeit des angegriffenen Designs festzustellen, weil es über keine Neuheit und Eigenart verfüge. In seiner naheliegenden Erscheinungsform als Unterseite eines Fahrradsattels könne das angegriffene Design bei einem Erzeugnis benutzt werden, das als Bauelement in das komplexe Erzeugnis “Fahrrad” eingefügt werden könne. Bei der bestimmungsgemäßen Verwendung des Fahrrads durch den Endbenutzer, die den Fahrvorgang und das Auf- und Absteigen umfasse, werde die designgegenständliche Unterseite eines Fahrradsattels nicht sichtbar.
5
III. Der Erfolg der Rechtsbeschwerde hängt von der Auslegung von Art. 3 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 98/71/EG ab, der durch § 4 in Verbindung mit § 1 Nr. 4 DesignG in das nationale Recht umgesetzt worden ist.
6
1. Gemäß § 33 Abs. 1 Nr. 2 DesignG ist ein eingetragenes Design nichtig, wenn das Design nicht neu ist oder keine Eigenart hat. Ein Design, das bei einem Erzeugnis, das Bauelement eines komplexen Erzeugnisses ist, benutzt oder in dieses Erzeugnis eingefügt wird, gilt gemäß § 4 DesignG nur dann als neu und hat nur dann Eigenart, wenn das Bauelement, das in ein komplexes Erzeugnis eingefügt ist, bei dessen bestimmungsgemäßer Verwendung sichtbar bleibt und diese sichtbaren Merkmale des Bauelements selbst die Voraussetzungen der Neuheit und Eigenart erfüllen. Eine bestimmungsgemäße Verwendung ist nach § 1 Nr. 4 DesignG die Verwendung durch den Endbenutzer, ausgenommen Maßnahmen der Instandhaltung, Wartung oder Reparatur.
7
2. Ein Fahrrad- oder Motorradsattel stellt ein Erzeugnis im Sinne des § 1 Nr. 2 Halbsatz 1 DesignG dar. Dieser Begriff umfasst jeden industriellen oder handwerklichen Gegenstand einschließlich von Einzelteilen, die zu einem komplexen Erzeugnis zusammengebaut werden sollen.
8
3. Zutreffend und von der Rechtsbeschwerde unbeanstandet ist das Bundespatentgericht davon ausgegangen, dass ein Fahrrad ein komplexes Erzeugnis und ein Fahrradsattel ein Bauelement dieses komplexen Erzeugnisses ist.
9
a) Ein komplexes Erzeugnis ist nach § 1 Nr. 3 DesignG ein Erzeugnis aus mehreren Bauelementen, die sich ersetzen lassen, so dass das Erzeugnis auseinander- und wieder zusammengebaut werden kann. Der Begriff des Bauelements ist mangels Definition in der Richtlinie 98/71/EG nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch zu bestimmen. Mit der Wendung “Bauelemente eines komplexen Erzeugnisses” werden die verschiedenen Einzelteile bezeichnet, die zu einem komplexen industriellen oder handwerklichen Gegenstand zusammengebaut werden sollen und sich ersetzen lassen, so dass ein solcher Gegenstand auseinander- und wieder zusammengebaut werden kann, und deren Fehlen dazu führen würde, dass das komplexe Erzeugnis nicht bestimmungsgemäß verwendet werden kann (zu Art. 3 Buchst. c der Verordnung (EG) Nr. 6/2002 über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster [nachfolgend: GGV] vgl. EuGH, Urteil vom 20. Dezember 2017 – C-397/16 und C-435/16, GRUR 2018, 284 Rn. 64 f. = WRP 2018, 308 – Acacia und D’Amato [Acacia/Porsche]); BGH, Beschluss vom 30. Januar 2020 – I ZR 1/19, GRUR 2020, 392 Rn. 18 = WRP 2020, 478 – Front kit).
10
b) Danach hat das Bundespatentgericht ohne Rechtsfehler angenommen, ein regelmäßig über ein Sattelrohr fest verbundener, jedoch ohne Weiteres austauschbarer Sattel sei ein Bauelement eines Fahrrads und der Sattel bilde eine Funktionseinheit mit dem komplexen Erzeugnis “Fahrrad”, da ein Fahrrad ohne Sattel nicht seiner Bestimmung entsprechend als Fortbewegungsmittel genutzt werden könne. Das Bundespatentgericht hat seinen Blick jedoch auf die aus seiner Sicht naheliegende Erscheinungsform des Designs als Unterseite eines Fahrradsattels verengt, ohne auf eine mögliche Verwendung als Unterseite eines Motorradsattels einzugehen. Im Fall einer Zurückverweisung wird es entsprechende Feststellungen nachzuholen haben.
11
4. Im Rechtsbeschwerdeverfahren ist davon auszugehen, dass die in Rede stehenden Merkmale des Bauelements selbst die Voraussetzungen der Neuheit und Eigenart erfüllen (§ 4 in Verbindung mit § 2 DesignG). Dies hat das Bundespatentgericht ohne abschließende Sachprüfung unterstellt.
12
5. Mit Blick auf das vom Bundespatentgericht geprüfte komplexe Erzeugnis “Fahrrad” hängt der Erfolg der Rechtsbeschwerde davon ab, ob die Unterseite eines Fahrradsattels, der in ein Fahrrad eingefügt ist, im Sinne von § 4 und § 1 Nr. 4 DesignG bei dessen bestimmungsgemäßer Verwendung durch den Endbenutzer sichtbar bleibt. Diese Vorschriften setzen Art. 3 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 98/71/EG in das nationale Recht um und sind daher richtlinienkonform auszulegen. Gemäß Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 98/71/EG gilt das Muster, das bei einem Erzeugnis, das Bauelement eines komplexen Erzeugnisses ist, benutzt oder in dieses Erzeugnis eingefügt wird, nur dann als neu und hat nur dann Eigenart, a) wenn das Bauelement, das in das komplexe Erzeugnis eingefügt ist, bei dessen bestimmungsgemäßer Verwendung sichtbar bleibt und b) soweit diese sichtbaren Merkmale des Bauelements selbst die Voraussetzungen der Neuheit und Eigenart erfüllen. Nach Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 98/71/EG bedeutet “bestimmungsgemäße Verwendung” im Sinne des Absatzes 3 Buchst. a die Verwendung durch den Endbenutzer, ausgenommen Maßnahmen der Instandhaltung, Wartung oder Reparatur. Ähnliche Regelungen für das Gemeinschaftsgeschmacksmuster finden sich in Art. 4 Abs. 2 und 3 GGV.
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Die Auslegung der Begriffe “bei bestimmungsgemäßer Verwendung” und “sichtbar” in Art. 3 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 98/71/EG ist nicht eindeutig und bedarf daher der Klärung durch den Gerichtshof der Europäischen Union.
14
a) Zutreffend hat das Bundespatentgericht angenommen, dass es auf die Sichtbarkeit des auf der Sattelunterseite enthaltenen Designs nach dem Einbau des Bauelements (Sattel) in das komplexe Erzeugnis (Fahrrad), nicht aber vor dem Einbau oder nach dem Ausbau des Bauelements ankommt.
15
aa) Das Bundespatentgericht hat ausgeführt, nach dem eindeutigen Wortlaut des § 4 DesignG sei es erforderlich, dass ein in das komplexe Erzeugnis “eingefügtes” Bauelement sichtbar bleibe. Hingegen könne eine erst durch oder bei Trennung des Bauelements von dem komplexen Erzeugnis sich eröffnende Sicht keine dem Schutzausschluss entgegenwirkende Sichtbarkeit begründen. Letzteres sei der Fall, wenn die Unterseite des Fahrradsattels erst mit dessen Ausbau zu den Zwecken des Austauschs gegen einen anderen Sattel oder des Diebstahlschutzes sichtbar werde. Gleiches gelte für eine Sichtbarkeit vor Einbau des Bauelements in das komplexe Erzeugnis, zum Beispiel beim Kauf eines Fahrradsattels als Einzelteil.
16
bb) Diese von der Rechtsbeschwerde nicht beanstandete Beurteilung lässt keinen Rechtsfehler erkennen. Nach dem Wortlaut des Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 98/71/EG und des seiner Umsetzung dienenden § 4 DesignG muss das Bauelement, das in das komplexe Erzeugnis “eingefügt” ist, bei dessen bestimmungsgemäßer Verwendung sichtbar bleiben; die Prüfung der Neuheit und Eigenart erstreckt sich auf “diese sichtbaren Merkmale” des Bauelements. Darüber hinaus soll sich der durch ein Design vermittelte Schutz nach Erwägungsgrund 12 Satz 1 der Richtlinie 98/71/EG nicht auf Merkmale eines Bauelements erstrecken, die unsichtbar sind, wenn das Bauelement eingebaut ist. Danach unterliegt es keinem Zweifel, dass allein auf den Zustand abgestellt werden kann, in dem das Bauelement eingebaut ist (vgl. auch Koschtial, GRUR Int. 2003, 973, 980 f. mit Ausführungen zur Entstehungsgeschichte der Richtlinie).
17
b) Den unionsrechtlichen Vorgaben lässt sich hingegen nicht zweifelsfrei entnehmen, ob mit dem Erfordernis der “Sichtbarkeit” des Bauelements eines komplexen Erzeugnisses “bei dessen bestimmungsgemäßer Verwendung” eine Einschränkung auf bestimmte Nutzungsbedingungen und eine bestimmte Betrachterperspektive verbunden ist oder ob die objektive Möglichkeit genügt, das Design in eingebautem Zustand des Bauelements erkennen zu können. Dies soll mit der Vorlagefrage 1 geklärt werden.
18
aa) Das Bundespatentgericht hat angenommen, es sei erforderlich, dass das Bauelement im Rahmen einer bei einer bestimmungsgemäßen Verwendung durch den Endbenutzer anfallenden Benutzungshandlung für den Endbenutzer oder auch für einen Dritten “sichtbar” bleibe. Auf Grundlage eines nach dem Bedeutungsgehalt möglichen Verständnisses von “sichtbar” im Sinne von “einsehbar” genügte es zwar, dass die Unterseite eines Fahrradsattels, die in aller Regel offen sei und nicht abgedeckt werde, anders als ein vollständig in ein komplexes Erzeugnis verbautes Bauelement insbesondere auch bei dessen bestimmungsgemäßer Verwendung durch einen einfachen Blick von unten ganz oder zumindest zu einem Teil äußerlich einsehbar bleibe. § 4 DesignG sei aber eine Sonderregelung, bei der nicht auf den Gegenstand der Anmeldung und damit auf die Sichtbarkeit der darin sichtbar wiedergegebenen Merkmale, sondern auf die Verwendung eines designmäßigen Erzeugnisses abgestellt werde. Die designgegenständliche Unterseite eines Fahrradsattels bleibe bei bestimmungsgemäßer Verwendung des komplexen Erzeugnisses “Fahrrad” durch den Endbenutzer weder für diesen noch für einen Dritten sichtbar. Die in der Rechtsprechung bisher nicht geklärte Frage, ob es allein auf die Sichtbarkeit für den Endbenutzer ankomme oder auch die Sichtbarkeit für einen Dritten einem Schutzausschluss nach § 4 DesignG entgegenwirke, könne daher offenbleiben.
19
bb) Die Rechtsbeschwerde macht geltend, es reiche für die Schutzfähigkeit des Designs aus, wenn es in eingebautem Zustand erkennbar sei. An der Sichtbarkeit fehle es nur dann, wenn das Design – als Teil des komplexen Erzeugnisses in der Gestalt, die das komplexe Erzeugnis bei seiner bestimmungsgemäßen Verwendung von außen habe – vollständig verdeckt werde. Es sei irrelevant, ob das Design aus einer vermeintlich typischen Perspektive auf das komplexe Erzeugnis leicht zu sehen oder ob hierfür eine ungewöhnliche Körperhaltung einzunehmen sei. Auch auf eine Sichtbarkeit unter bestimmten (Nutzungs-)Bedingungen könne es schon deswegen nicht ankommen, weil sehr kleine Bauteile nur aus kurzem Abstand und bewegliche Teile nur im Ruhezustand erkennbar seien, die Dimensionierung oder Funktionsweise eines Bauteils aber mit seiner Schutzwürdigkeit nichts zu tun habe.
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Der Senat hat jedoch Zweifel, ob diese Auslegung des Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 98/71/EG und des diesen umsetzenden § 4 DesignG zutrifft.
21
(1) Zutreffend weist die Rechtsbeschwerde darauf hin, dass die Entstehungsgeschichte der Richtlinie 98/71/EG auf den eng begrenzten Regelungszweck hindeutet, innenliegende Bauteile von Kraftfahrzeugen durch eine Sonderregelung vom Designschutz auszunehmen. Damit soll einem Missbrauch des Designschutzes zur Monopolisierung von in eingebautem Zustand nicht sichtbaren Bauteilen entgegengewirkt werden (vgl. Eichmann/Jestaedt in Eichmann/Jestaedt/Fink/Meiser, DesignG GGV, 6. Aufl., § 4 DesignG Rn. 2; BeckOK.Designrecht/Meindel, 7. Edition [Stand 15. Februar 2021], § 4 DesignG Rn. 1; Eichmann, GRUR Int. 1996, 859, 875 f.; ders., Mitt. 1998, 252, 255; Kur, GRUR Int. 1998, 977, 979; Müller-Broich, Mitt. 2008, 201, 203; zu Art. 4 Abs. 2 GGV vgl. Jestaedt in Eichmann/Jestaedt/Fink/Meiser aaO Art. 4 GGV Rn. 4; Hasselblatt/Hasselblatt, Community Design Regulation, 2. Aufl., Art. 4 Rn. 24 f.).
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(2) Jedoch sind diese Gesichtspunkte weder in den Wortlaut des Art. 3 Abs. 3 und 4 noch in die Erwägungsgründe der Richtlinie 98/71/EG eingeflossen (vgl. Eichmann/Jestaedt in Eichmann/Jestaedt/Fink/Meiser aaO § 4 DesignG Rn. 2; Müller-Broich, Mitt. 2008, 201, 203 f.). Der Zweck dieser Vorschriften ist der Richtlinie 98/71/EG nicht klar zu entnehmen. Soweit die Rechtsbeschwerdeerwiderung (unter Verweis auf Koschtial, GRUR Int. 2003, 973, 981) die Meinung vertritt, der Regelung liege die allgemeine Erwägung zugrunde, dass einem Hersteller, der keinen Wert auf die Sichtbarmachung eines Designs lege, ein schützenswertes Interesse an der Inanspruchnahme von Musterschutz abzusprechen sei, greift dies aus Sicht des Senats zu kurz. Es besteht keine zwingende Identität zwischen Designinhaber, Hersteller des Bauelements und Hersteller des komplexen Erzeugnisses, so dass der Designinhaber die Sichtbarkeit des Designs nicht immer beeinflussen kann (vgl. hierzu auch Jestaedt, Mitt. 2017, 253).
23
(3) Die Regelung des Art. 3 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 98/71/EG ist anhaltender Kritik des Schrifttums ausgesetzt (vgl. Eichmann/Jestaedt in Eichmann/Jestaedt/Fink/Meiser aaO § 4 DesignG Rn. 16; BeckOK.Designrecht/Meindel aaO § 4 DesignG Rn. 8 bis 11; Eingabe zum geänderten Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über den Rechtsschutz von Mustern, GRUR 1996, 741 f.; Eichmann, GRUR Int. 1996, 859, 875; Kur, GRUR Int. 1998, 353, 357; Zech, Mitt. 2000, 195, 197; Klawitter, EWS 2001, 157, 161 bis 163; Kur, GRUR 2002, 661, 666; Müller-Broich, Mitt. 2008, 201, 204 bis 206; Jestaedt, Mitt. 2017, 253 f.; zu Art. 4 Abs. 2 GGV vgl. Jestaedt in Eichmann/Jestaedt/Fink/Meiser aaO Art. 4 GGV Rn. 20; Ruhl in Ruhl/Tolkmitt, Gemeinschaftsgeschmacksmuster, 3. Aufl., Art. 4 Rn. 10; BeckOK.Designrecht/Meindel aaO Art. 4 GGV Rn. 11). Die Regelung sei systemwidrig, weil sie nicht auf die Erscheinungsform des Designs, sondern auf die Verwendung des mit dem Design versehenen Erzeugnisses abstelle. Damit laufe sie dem Grundsatz zuwider, dass die Schutzfähigkeit eines Designs bereits bei dessen Eintragung feststehen müsse, und greife in grundrechtlich geschützte Positionen ein, insbesondere in den Schutz des geistigen Eigentums nach Art. 17 Abs. 1 Satz 1 und 3 sowie Abs. 2 EU-Grundrechtecharta. Zudem stehe sie in einem Spannungsverhältnis zu Art. 26 Abs. 2 des Übereinkommens über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights, TRIPS), das auch für die Europäische Union gilt. Nach dieser Vorschrift können die Mitglieder begrenzte Ausnahmen vom Schutz gewerblicher Muster vorsehen, sofern solche Ausnahmen nicht unangemessen im Widerspruch zur normalen Verwertung geschützter gewerblicher Muster stehen und die berechtigten Interessen des Inhabers des geschützten Musters nicht unangemessen beeinträchtigen, wobei auch die berechtigten Interessen Dritter zu berücksichtigen sind.
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Diese Argumente könnten dafür sprechen, Art. 3 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 98/71/EG eng auszulegen (vgl. auch BeckOK.Designrecht/Meindel aaO § 4 DesignG Rn. 11; zu Art. 4 Abs. 2 GGV Ruhl in Ruhl/Tolkmitt aaO Art. 4 Rn. 11; BeckOK.Designrecht/Meindel aaO Art. 4 GGV Rn. 12, 14 bis 20, 25 f. und 33; Hasselblatt/Hasselblatt aaO Art. 4 Rn. 27 und 34; Auler in Büscher/Dittmer/Schiwy, Gewerblicher Rechtsschutz Urheberrecht Medienrecht, 3. Aufl., Art. 4 GGV Rn. 3; Bulling/Langöhrig/Hellwig/Müller, Designschutz in Deutschland und Europa mit USA, Japan, China und Korea, 4. Aufl., Rn. 109; Musker [2003] E.I.P.R. 450, 451).
25
(4) Gleichwohl ist fraglich, ob das von der Rechtsbeschwerde befürwortete Verständnis des Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 98/71/EG von dessen Wortlaut gedeckt ist. Zwar ist der Rechtsbeschwerde darin zuzustimmen, dass die allgemeinsprachliche Bedeutung des Wortes “sichtbar” ein objektives Verständnis nahelegt, das sich auf die Möglichkeit der Wahrnehmung bezieht. Zweifelhaft erscheint jedoch ihre weitere Annahme, auch die Formulierung “bei dessen bestimmungsgemäßer Verwendung” lasse keine Beschränkung auf eine vertypte Perspektive auf das komplexe Erzeugnis zu. Die Rechtsbeschwerde bezieht sich hierfür auf die Definition des Begriffs “bestimmungsgemäße Verwendung” in Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 98/71/EG und macht geltend, deren erster Teil (“Verwendung durch den Endbenutzer”) beschreibe lediglich die insgesamt zu betrachtende äußere Erscheinung des komplexen Erzeugnisses und deren zweiter Teil (“ausgenommen Maßnahmen der Instandhaltung, Wartung oder Reparatur”) schließe lediglich Perspektiven aus, die einen Blick in das Innere des komplexen Erzeugnisses erst ermöglichten. Mit diesen Ausführungen nimmt die Rechtsbeschwerde jedoch nicht hinreichend in den Blick, dass die Wendung “bestimmungsgemäße Verwendung” in Art. 3 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 98/71/EG mit dem Wort “bei” eingeleitet wird. Diese Verknüpfung legt nahe, dass auf die Sichtbarkeit des Designs in einer Verwendungssituation abzustellen ist.
26
Auch das systematische Argument der Rechtsbeschwerde, es hätte bei einem solchen Verständnis nicht der Ausnahme für Maßnahmen der Instandhaltung, Wartung oder Reparatur bedurft, überzeugt nicht. Zwar ist es richtig, dass die bei diesen Maßnahmen eröffneten Perspektiven häufig nicht den vom Endbenutzer typischerweise eingenommenen Perspektiven entsprechen. Aus diesem Umstand folgt jedoch nicht zwingend, dass es allein auf die objektive Möglichkeit ankommt, das Design in eingebautem Zustand des Bauelements einsehen zu können, und Nutzungsbedingungen oder Betrachterperspektiven keine Bedeutung haben.
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cc) Die Vorlagefrage ist entscheidungserheblich. Genügt die objektive Möglichkeit, das Design in eingebautem Zustand des Bauelements zu erkennen, hat die Rechtsbeschwerde Erfolg. Das Bundespatentgericht hat festgestellt, dass die Unterseite eines Fahrradsattels in aller Regel offen sei und nicht abgedeckt werde, so dass sie durch einen einfachen Blick von unten ganz oder zumindest zu einem Teil von außen einsehbar bleibe. Diese Beurteilung steht mit der Lebenserfahrung ohne Weiteres im Einklang.
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c) Sollte die Vorlagefrage 1 hingegen dahin zu beantworten sein, dass es für die “Sichtbarkeit” im Sinne des Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 98/71/EG nicht allein auf die objektive Möglichkeit ankommt, das Design in eingebautem Zustand des Bauelements erkennen zu können, sondern bestimmte Nutzungsbedingungen oder Betrachterperspektiven einzubeziehen sind, stellt sich die weitere Frage, ob es für die Beurteilung der “bestimmungsgemäßen Verwendung” eines komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer im Sinne von Art. 3 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 98/71/EG auf den vom Hersteller des Bauelements oder des komplexen Erzeugnisses intendierten Verwendungszweck oder die übliche Verwendung des komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer ankommt. Dies soll mit der Vorlagefrage 2 a geklärt werden.
29
aa) Das Bundespatentgericht hat ausgeführt, maßgeblich sei nach §§ 4, 1 Nr. 4 DesignG die bestimmungsgemäße Verwendung des komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer, ausgenommen Maßnahmen der Instandhaltung, Wartung oder Reparatur. Endbenutzer sei nur der Fahrer des Fahrrads, nicht aber ein Mitfahrer oder ein das Fahrrad betrachtender Dritter. Die aus Sicht des Herstellers zu definierende “bestimmungsgemäße” Verwendung eines Fahrrads sei seine Benutzung als Fortbewegungsmittel; diese umfasse den Fahrvorgang und – was zugunsten der Designinhaberin unterstellt werden könne – auch das Auf- und Absteigen. Während dieser Handlungen sei die Unterseite des Sattels vollständig von der Oberseite und den Seitenteilen des Sattels verdeckt. Sichtbar werde sie nur durch einen Blick “von unten”, der jedoch völlig unüblich sei. Weitere bestimmungsgemäße Verwendungen ließen sich nicht feststellen. Zu Gunsten der Designinhaberin könne ferner unterstellt werden, dass die Sattelunterseite bei einem Abstellen des Fahrrads in dafür vorgesehenen Vorrichtungen und bei dessen Aufbewahrung sichtbar werde. Jedoch seien Maßnahmen der Aufbewahrung und auch des Transports des Fahrrads der bestimmungsgemäßen Verwendung vor- oder nachgelagert, nicht aber Teil von ihr. Anders verhielte es sich nur, wenn die “übliche” von der “bestimmungsgemäßen” Verwendung mitumfasst wäre. Davon könne jedoch nicht ausgegangen werden. Zwar sprächen die englische und französische Fassung des Art. 3 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 98/71/EG von “normal use” beziehungsweise “[une] utilisation normale”; die deutsche Fassung und die nationalen Vorschriften stellten aber unmissverständlich auf die “bestimmungsgemäße” Verwendung ab.
30
bb) Der Senat vermag dieser Auffassung nicht beizutreten. Den unionsrechtlichen Vorgaben lässt sich nicht eindeutig entnehmen, ob auf einen vom Hersteller des Bauelements oder des komplexen Erzeugnisses intendierten Verwendungszweck oder die übliche Verwendung des komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer abzustellen ist.
31
(1) Im Ausgangspunkt zutreffend hat das Bundespatentgericht neben der deutschen auch andere Sprachfassungen des Art. 3 Abs. 3 Buchst. a und Nr. 4 der Richtlinie 98/71/EG in den Blick genommen. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union kann die in einer der Sprachfassungen einer Vorschrift des Unionsrechts verwendete Formulierung nicht als alleinige Grundlage für die Auslegung dieser Vorschrift herangezogen werden oder Vorrang vor den übrigen Sprachfassungen beanspruchen. Die Vorschriften des Unionsrechts müssen nämlich im Licht der Fassungen in allen Sprachen der Union einheitlich ausgelegt und angewandt werden. Weichen die verschiedenen Sprachfassungen eines Textes des Unionsrechts voneinander ab, muss die fragliche Vorschrift nach der allgemeinen Systematik und dem Zweck der Regelung ausgelegt werden, zu der sie gehört (vgl. nur EuGH, Urteil vom 8. Oktober 2020 – C-476/19, juris Rn. 31 – Combinova). Die vom Bundespatentgericht zitierte englische und französische Sprachfassung und auch die spanische (“la utilización normal”), italienische (“la normale utilizzazione”) und niederländische (“normaal gebruik”) Sprachfassung des Art. 3 Abs. 3 Buchst. a und Abs. 4 der Richtlinie 98/71/EG legen nahe, dass der in der deutschen Sprachfassung verwendete Begriff “bestimmungsgemäß” im Sinne von “normal” oder “üblich” auszulegen ist. Hierauf weist die Rechtsbeschwerde mit Recht hin (vgl. hierzu auch Klawitter, EWS 2001, 157, 162).
32
(2) Darüber hinaus kann die Definition des Begriffs “bestimmungsgemäße Verwendung” in Art. 3 Nr. 4 der Richtlinie 98/71/EG so verstanden werden, dass der Richtliniengeber grundsätzlich jede Verwendung durch den Endbenutzer als bestimmungsgemäß angesehen und daher nur die in der Vorschrift genannten Ausnahmen für regelungsbedürftig erachtet hat. Allerdings fehlt das klarstellende Wort “jede” im deutschen Richtlinientext; Entsprechendes gilt auch für die weiteren genannten Sprachfassungen. Der einschlägige Erwägungsgrund 12 sowie die Systematik und die Entstehungsgeschichte der Richtlinie 98/71/EG liefern insoweit keine zusätzlichen Anhaltspunkte.
33
(3) Danach lässt sich der Richtlinie 98/71/EG nicht eindeutig entnehmen, ob für die Auslegung des Begriffs “bestimmungsgemäße Verwendung” des komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer der vom Hersteller des Bauelements oder des komplexen Erzeugnisses intendierte Verwendungszweck oder die übliche Verwendung des komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer maßgeblich ist (unklar insoweit zu Art. 4 Abs. 2 GGV auch EuG, Urteile vom 20. Januar 2015 – T-615/13, T-616/13 und T-617/13, BeckRS 2016, 80111, 80112 und 80113 Rn. 14 und 16 – Aic/HABM – ACV Manufacturing).
34
Als Argument für eine Anknüpfung an die übliche Verwendung durch den Endbenutzer wird angeführt, dass ein solches Verständnis den Anwendungsbereich der Regelung minimieren und sich zu Gunsten der Schutzfähigkeit von Designs auswirken könnte. Dies gälte insbesondere dann, wenn alle nicht völlig fernliegenden oder offensichtlich konstruierten Verwendungen berücksichtigt würden (vgl. Müller-Broich, Mitt. 2008, 201, 210 f.; zu Art. 4 Abs. 2 GGV vgl. BeckOK.Designrecht/Meindel aaO Art. 4 GGV Rn. 25 f.; Ruhl in Ruhl/Tolkmitt aaO Art. 4 Rn. 19).
35
Hingegen könnte ein Abstellen auf den herstellerseitig intendierten Verwendungszweck einen Schutzausschluss dadurch vermeiden, dass sich im Endbenutzerkreis eine abweichende Verwendung durchsetzt. Hierbei muss aber auch berücksichtigt werden, dass der Hersteller des Bauelements und der Hersteller des komplexen Erzeugnisses nicht zwingend identisch sind. Daher kann ein Schutzausschluss auch infolge einer Umwidmung des vom Hersteller des Bauelements intendierten Verwendungszwecks durch den Hersteller des komplexen Erzeugnisses eintreten. Dieser Umstand spräche dafür, auf die Intention des Herstellers des Bauelements abzustellen, der in der Regel entweder selbst Designinhaber ist oder das Bauelement mit dessen Einverständnis produziert.
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cc) Die Frage ist entscheidungserheblich. Das Bundespatentgericht hat zu Gunsten der Designinhaberin unterstellt, dass die Unterseite eines Fahrradsattels bei der üblichen Verwendung des Fahrrads sichtbar wird. Sollte die übliche Verwendung maßgeblich sein, könnte der angefochtene Beschluss keinen Bestand haben und müssten hierzu Feststellungen getroffen werden. Entgegen der Ansicht des Bundespatentgerichts steht der Wortlaut des § 1 Nr. 4 DesignG, der auf die “bestimmungsgemäße” Verwendung abstellt, einer richtlinienkonformen Auslegung dahin nicht entgegen, dass es auf die bei den Endbenutzern übliche Verwendung ankommt. Dies folgt schon daraus, dass der Begriff “bestimmungsgemäß” offenlässt, wer die maßgebliche Bestimmung trifft.
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d) Daran anknüpfend stellt sich die weitere Frage, nach welchen Kriterien zu bestimmen ist, ob die Verwendung eines komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer “bestimmungsgemäß” im Sinne von Art. 3 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 98/71/EG ist. Dies soll mit der Vorlagefrage 2 b geklärt werden.
38
aa) Das Bundespatentgericht hat nur die unmittelbar den Verwendungszweck verwirklichende Handlung des Fahrradfahrens als bestimmungsgemäß erachtet und darüber hinaus zugunsten der Designinhaberin unterstellt, auch das Aufsteigen auf das und das Absteigen vom Fahrrad seien eingeschlossen. Maßnahmen der Aufbewahrung und des Transports hat es als nicht von der bestimmungsgemäßen Verwendung umfasst angesehen.
39
bb) Diese Beurteilung wirft die Frage auf, ob nur der Hauptverwendungszweck des komplexen Erzeugnisses maßgeblich ist, oder ob und unter welchen Bedingungen gegebenenfalls auch weitere Verwendungszwecke des komplexen Erzeugnisses in Betracht zu ziehen sind (für eine Begrenzung auf den Hauptverwendungszweck LG Frankfurt am Main, Urteil vom 27. April 2005 – 2/6 O 427/04, unveröffentlicht, zitiert nach Müller-Broich, Mitt. 2008, 201, 207; für eine Betrachtung aller Verwendungszwecke Günther/Beyerlein, DesignG, 3. Aufl., § 4 Rn. 7; Ruhl in Ruhl/Tolkmitt aaO Art. 4 Rn. 11 und 20 f.; Koschtial, GRUR Int. 2003, 973, 981; wohl auch HABM, Dritte Beschwerdekammer, Entscheidung vom 12. Februar 2015 – R 998/2013-3, BeckRS 2015, 122447 Rn. 41; für eine weite Auslegung Hasselblatt/Hasselblatt aaO Art. 4 Rn. 34 f.; mit abstrakter Betrachtung HABM, Nichtigkeitsabteilung, Entscheidung vom 13. Dezember 2011 – ICD 8335, BeckRS 2011, 141108 Rn. 11; Entscheidung vom 3. Januar 2012 – ICD 8368, BeckRS 2012, 212559 Rn. 12; offenlassend Eichmann/Jestaedt in Eichmann/Jestaedt/Fink/Meiser aaO § 4 DesignG Rn. 6 mwN). In den zuvor genannten Sprachfassungen der Richtlinie 98/71/EG ist dem Begriff “Verwendung” teilweise der bestimmte, teilweise der unbestimmte und teilweise kein Artikel vorangestellt (vgl. Musker [2003] E.I.P.R. 450, 453). Daran anschließend stellt sich die Frage, ob die “bestimmungsgemäße Verwendung” auf solche Handlungen beschränkt ist, die unmittelbar der Verwirklichung des oder eines Verwendungszwecks dienen, oder auch mittelbar damit zusammenhängende Handlungen eingeschlossen sind.
40
Auch wenn – abhängig von der Antwort auf die Vorlagefrage 2 a – nicht auf einen vom Hersteller intendierten Verwendungszweck des komplexen Erzeugnisses, sondern auf dessen übliche Verwendung durch den Endbenutzer abzustellen sein sollte, bedarf es der Klärung, ob und wie die in Frage kommenden Benutzungshandlungen einzugrenzen sind.
41
cc) Für ein weites Verständnis des Begriffs “bestimmungsgemäße Verwendung” spricht Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 98/71/EG. Der Richtliniengeber ist offensichtlich davon ausgegangen, dass Maßnahmen der Instandhaltung, Wartung oder Reparatur grundsätzlich zur bestimmungsgemäßen Verwendung zählen; andernfalls hätte es der dort geregelten Ausnahmen nicht bedurft.
42
Darüber hinaus minimierte ein weites Begriffsverständnis die Auswirkungen des als systemwidrig angesehenen Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 98/71/EG. Demgegenüber führte ein enges Begriffsverständnis zu einer größeren Ungleichbehandlung der Inhaber von Designs, mit denen Bauelemente von komplexen Erzeugnissen versehen werden, im Vergleich zu den Inhabern von sonstigen Designs, bei denen die Verwendung der mit dem Design hergestellten Erzeugnisse für die Schutzfähigkeit des Designs irrelevant ist. Im Schrifttum wird daher befürwortet, alle nicht völlig fernliegenden oder offensichtlich konstruierten Verwendungen zu berücksichtigen (vgl. Müller-Broich, Mitt. 2008, 201, 211). Die Rechtsprechung des Gerichts der Europäischen Union, nach der rein hypothetische Verwendungsweisen außen vor bleiben, steht dem nicht entgegen (zu Art. 4 Abs. 2 GGV vgl. EuG, Urteil vom 3. Oktober 2014 – T-39/13, juris Rn. 28).
43
dd) Auch diese Frage ist entscheidungserheblich. Es erscheint nicht ausgeschlossen, dass das Bundespatentgericht bei Anlegung eines weniger engen Verständnisses des Begriffs “bestimmungsgemäße Verwendung” zusätzliche Handlungen wie etwa Maßnahmen der Aufbewahrung und des Transports des Fahrrads hiervon umfasst gesehen hätte. Im Fall einer Zurückverweisung hätte es sich auch mit dem bislang nicht in seine Überlegungen einbezogenen beweisbewehrten Vorbringen der Designinhaberin auseinanderzusetzen, bei einem Faltrad sei die Unterseite des Sattels in zusammengefaltetem Zustand für den Endbenutzer sichtbar.
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