Europarecht

Zustellung, Rechtsbeschwerde, Bescheid, Verteidiger, Generalstaatsanwaltschaft, Verfahrenshindernis, Wiedereinsetzung, Internet, Einstellung, Einspruch, Staatsanwaltschaft, Fahrer, Ausland, Verfahren, von Amts wegen, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, Einstellung des Verfahrens

Aktenzeichen  201 ObOWi 1273/21

Datum:
20.10.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
ZfS – 2022, 231
Gerichtsart:
BayObLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Tenor

I. Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts vom 14.06.2021 aufgehoben.
II. Das Verfahren wird eingestellt.
III. Die Kosten des Verfahrens und die dem Betroffenen erwachsenen notwendigen Auslagen hat die Staatskasse zu tragen.

Gründe

I.
Das Amtsgericht hat den Betroffenen am 14.06.2021 wegen einer am 10.04.2020 begangenen Verkehrsordnungswidrigkeit zu einer Geldbuße von 150 Euro verurteilt sowie ein Fahrverbot für die Dauer eines Monats angeordnet. Mit seiner gegen das Urteil gerichteten Rechtsbeschwerde rügt der Betroffene die Verletzung materiellen Rechts.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat mit Stellungnahme vom 20.09.2021 beantragt, auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen das Urteil des Amtsgerichts vom 14.06.2021 aufzuheben und das Verfahren auf Kosten der Staatskasse einzustellen.
II.
Die gemäß § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 OWiG statthafte und auch sonst zulässige Rechtsbeschwerde führt zur Einstellung des Verfahrens, da Verfolgungsverjährung eingetreten ist und damit ein von Amts wegen zu beachtendes Verfahrenshindernis vorliegt.
1. Folgender Verfahrensablauf liegt zugrunde:
Die Zentrale Bußgeldstelle im Bayer. Polizeiverwaltungsamt ermittelte über das Kraftfahrtbundesamt die Halterin des Fahrzeugs, mit welchem am 10.04.2020 in München die zulässige Höchstgeschwindigkeit um 28 km/h überschritten worden sein soll. Ein Mitarbeiter der Halterin, einer GmbH, teilte dem Bayer. Polizeiverwaltungsamt den Betroffenen als Fahrer zur Tatzeit mit und gab dabei als Wohnort eine genau bezeichnete Anschrift in Paris an, woraufhin unter dem 29.04.2020 die Anhörung des Betroffenen angeordnet wurde. Unter dem 05.06.2020 wurde ein Bußgeldbescheid erlassen, welcher mittels Einschreiben/Rückschein dem Betroffenen unter der genannten Anschrift in Paris zugestellt werden sollte. Der nicht ausgefüllte Rückschein kam am 15.06.2020 zurück, eine beim Bayer. Polizeiverwaltungsamt über das Internet durchgeführte Sendungsverfolgung ließ keinen Grund erkennen, warum die Zustellung nicht erfolgt ist. Mit Verfügung vom 25.06.2020 wurde eine „neue Zustellung veranlasst“. Noch bevor eine Nachricht über diesen Zustellungsversuch eintraf, ordnete ein Mitarbeiter der Zentralen Bußgeldstelle im Bayer. Polizeiverwaltungsamt unter dem 07.07.2020 die öffentliche Zustellung des Bußgeldbescheides an. Die Bekanntmachung der Benachrichtigung über das Internetangebot der Bayerischen Polizei erfolgt im Zeitraum vom 08.07.2020 bis zum 22.07.2020, sodass der Bescheid aus Sicht der Behörde am 23.07.2020 als zugestellt galt. Der Verteidiger hat gegen diesen Bußgeldbescheid mit Schriftsatz vom 14.08.2020, beim Bayer. Polizeiverwaltungsamt eingegangen am selben Tag, Einspruch eingelegt und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt, welche ihm durch die Verwaltungsbehörde am 26.08.2020 bewilligt wurde. Am 05.11.2020 wurden die Akten dem Amtsgericht vorgelegt.
2. Das Verfahren ist wegen eines Verfahrenshindernisses einzustellen (§ 260 Abs. 3 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG), weil bereits vor Eingang der Akten beim Amtsgericht Verfolgungsverjährung (§ 31 Abs. 1 Satz 1 OWiG i.V.m. § 26 Abs. 3 Satz 1 StVG) eingetreten war.
a. Die Frage, ob Verfolgungsverjährung eingetreten ist, ist als Verfahrensvoraussetzung bzw. als Verfahrenshindernis vom Senat im Rahmen der Rechtsbeschwerde von Amts wegen zu überprüfen (vgl. Göhler/Seitz/Bauer OWiG 18. Aufl. § 31 Rn. 17, 19).
b. Die Verjährungsfrist betrug für den verfahrensgegenständlichen Verstoß, bevor ein Bußgeldbescheid ergangen ist, drei Monate (§ 26 Abs. 3 Satz 1 StVG). Sie begann am 10.04.2020, dem Tattag (§ 31 Abs. 3 Satz 1 OWiG), und wurde nachfolgend durch die Anordnung der Anhörung des Betroffenen am 29.04.2020 unterbrochen (§ 33 Abs. 1 Nr. 1 OWiG). Da der Bußgeldbescheid vom 05.06.2020 nicht binnen zwei Wochen zugestellt worden ist, konnte er nicht zu einer Unterbrechung der Verjährung nach § 33 Abs. 1 Nr. 9 OWiG führen. Die öffentliche Zustellung des Bescheides am 23.07.2020 erweist sich als unwirksam und konnte damit ebenfalls nicht die Verjährungsunterbrechung nach § 33 Abs. 1 Nr. 9 OWiG bewirken.
Die Generalstaatsanwaltschaft führt hierzu in ihrer Antragsschrift vom 20.09.2021 im Wesentlichen Folgendes aus:
Die Verwaltungsbehörde hat es für die Anordnung nämlich ausreichen lassen, dass der (einmalige) Versuch einer Zustellung in Frankreich mittels Einschreiben und Rückschein unter der von einer Mitarbeiterin der Fahrzeughalterin angegebenen Anschrift erfolglos blieb, weil der Rückschein unausgefüllt am 15.06.2020 in Rücklauf gekommen war und auch Nachforschungen bei der Deutschen Post zum Verbleib der Sendung selbst keine weiteren Erkenntnisse erbracht hatten. Diese Maßnahmen allein genügen den gesetzlichen Anforderungen zur Ermittlung des Aufenthalts nicht, zumal die Verwaltungsbehörde auch das Ergebnis des erneuten Versuchs der Zustellung unter derselben Anschrift nicht mehr abgewartet hatte.
Nach § 51 Abs. 1 Satz 1 OWiG in Verbindung mit Art. 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 4 BayVwZVG kann die Zustellung durch öffentliche Bekanntmachung nur erfolgen, wenn entweder der Aufenthaltsort des Empfängers unbekannt ist und eine Zustellung an einen Vertreter oder Zustellungsbevollmächtigter nicht möglich ist oder aber die Zustellung im Ausland nach Art. 14 BayVwZVG nicht möglich ist oder keinen Erfolg verspricht.
Da die öffentliche Zustellung anders als jede andere Zustellungsform keine praktische Möglichkeit für den Zustellungsadressaten schafft, von dem zugestellten Dokument tatsächlich Kenntnis zu nehmen und damit eine Zustellungsfiktion beinhaltet, ist diese nach den verfassungsrechtlichen Vorgaben im Hinblick auf Art. 103 Abs. 1 GG nur dann zu rechtfertigen, wenn eine andere Form der Zustellung wegen des tatsächlich unbekannten Aufenthalts des Zustellempfängers oder aus sonstigen sachlichen Gründen nicht oder nur schwer durchführbar ist (BVerfG, Beschluss vom 26.10.1987 – 1 BvR 198/87, NJW 1988, 2361). Die Anordnung der öffentlichen Zustellung ist daher nach ständiger Rechtsprechung der Obergerichte nur als „ultima ratio“ zulässig (vgl. OLG Hamm StraFo 2005, 244).
Von einem „unbekannten Aufenthaltsort“ im Sinne des Art. 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BayVwZVG ist daher nur dann auszugehen, wenn alle zu Gebote stehenden zumutbaren Mittel und alle nach den Umständen des Falles verfügbaren Erkenntnismöglichkeiten zur Erforschung des Aufenthalts des Zustellungsempfängers ausgeschöpft sind und wenn sich aufgrund sorgfältiger Prüfung der Nachforschungsergebnisse ergibt, dass andere Zustellungsmöglichkeiten nicht ausführbar sind. Die Behörde muss sich daher, bevor sie den Weg der öffentlichen Zustellung einschlägt, durch die nach Sachlage gebotenen Ermittlungen Gewissheit darüber verschaffen, dass der Aufenthalt des Empfängers nicht nur ihr, sondern allgemein unbekannt ist. Erst wenn solche Ermittlungen zu keinem Erfolg geführt haben und weitere – zumutbare – Ermittlungen nicht mehr möglich sind oder keine Aussicht auf Erfolg mehr versprechen, ist Raum für eine öffentliche Zustellung (vgl. BayObLG, Beschluss vom 28.07.1983 – 1 ObOWi 122/83, BayObLGSt 1983, 114, 117; OLG Hamm Beschluss vom 17.01.2013 – 3 RBs 214/12 bei juris Rn. 21; Schlagmann in: Engelhardt/ App/Schlagmann VwVG/VwZG 12. Aufl. 2021 § 10 VwZG Rn. 3).
Art. 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 BayVwZVG erfasst wiederum nicht die Fälle, in denen die Zustellung in einer der in Art. 14 BayVwZVG geführten Form an einen Zustellungsadressaten, von dem lediglich bekannt ist, dass er sich nicht im Inland, sondern im Ausland aufhält, nur deshalb nicht möglich ist oder keinen Erfolg verspricht, weil der (genaue) Aufenthaltsort des Zustellungsadressaten im Ausland unbekannt ist… Der mangelnden Erfolgsaussicht gleichzustellen ist allenfalls der Fall, dass die Auslandszustellung zu einer nicht mehr zumutbaren Verzögerung des Verfahrens führen würde, wobei es auf die objektive Eilbedürftigkeit des Fortgangs des konkreten Verwaltungsverfahrens ankommt (vgl. Schlagmann a.a.O. § 10 VwZG Rn. 8; KK/Lampe OWiG 5. Aufl. § 51 Rn. 66b m.w.N.).
Nach diesen Maßstäben hätte sich die Verfolgungsbehörde daher hier nicht mit dem einmaligen Versuch der Zustellung auf dem Postweg (Art. 14 Abs. 1 Nr. 1 BayVwZVG) begnügen dürfen, weil nach dem Rücklauf allein des Rückscheins vollständig unklar geblieben ist, aus welchen Gründen die unmittelbare Zustellung gescheitert war und ein Herantreten an die französischen Behörden (Art. 14 Abs. 1 Nr. 2 BayVwZVG) mittels eines Amtshilfeersuchens um Wohnsitzüberprüfung und ggf. Zustellung des Bußgeldbescheids unschwer möglich gewesen wäre. Der Umstand, dass im Gebiet der Schengen-Staaten die unmittelbare Zustellung auf dem Postweg zulässig ist (Art. 5 EU-RhÜbK), schließt die Anbringung eines förmlichen Ersuchens nicht aus (vgl. isb. das Übereinkommen vom 24.11.1977 über die Zustellung von Schriftstücken in Verwaltungssachen im Ausland; vgl. dazu BeckOK/ Rost VwVfG 52. Ed. Stand: 01.07.2021 § 9 VwZG Rn. 8 ff., 20).
Dem schließt sich der Senat an. Es ist damit bereits am 28.07.2020 Verfolgungsverjährung eingetreten.
c. Da das Verfahren demnach – wie es das Amtsgericht in dem von der Staatsanwaltschaft angefochtenen Beschluss vom 17.02.2021 getan hatte – gem. § 206 a StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG einzustellen gewesen wäre, holt der Senat unter (klarstellender) Aufhebung des angefochtenen Urteils die gebotene Entscheidung durch Beschluss nach (§ 79 Abs. 3 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 OWiG i.V.m. § 349 Abs. 4 StPO).
3. Außerhalb der Sachprüfung weist der Senat noch auf Folgendes hin:
Wie die Generalstaatsanwaltschaft auch insoweit zutreffend in ihrer Antragsschrift ausführt, hätte das Bayer. Polizeiverwaltungsamt den Eintritt der Verfolgungsverjährung nach Rückkunft des nicht ausgefüllten Rückscheins durch vorläufige Einstellung des Verfahrens nach § 33 Abs. 1 Nr. 5 OWiG und anschließende Aufenthaltsermittlung verhindern können.
III.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 467 Abs. 1 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG. Es sind keine Gründe ersichtlich, die es unbillig erscheinen lassen würden, von einer Auferlegung der notwendigen Auslagen des Betroffenen auf die Staatskasse abzusehen (§ 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO).
Gemäß § 80a Abs. 1 OWiG entscheidet der Einzelrichter.


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