Familienrecht

Ablehnung der Hilfe zu Erziehung in Form von Vollzeitpflege

Aktenzeichen  M 18 K 16.4560

Datum:
6.9.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VIII SGB VIII § 27 Abs. 1, Abs. 2a, Abs. 3, § 33 S. 1, § 35a, § 36a Abs. 3, § 39
BGB BGB § 1666

 

Leitsatz

Ein Anspruch auf Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege durch die Großeltern eines Kindes scheidet aus, wenn die Großeltern eine deutliche finanzielle Motivation haben, als Pflegepersonen aber wegen starker innerfamiliärer Konflikte, in die auch das Kind verstrickt ist, ungeeignet sind. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei.

Gründe

Die zulässige Klage ist nicht begründet.
Ein Anspruch auf Verpflichtung des Beklagten zur Bewilligung von Hilfe zur Erziehung in der konkreten Form der Vollzeitpflege bei den Eltern des Klägers liegt nicht vor. Für den Zeitraum vom 31. Oktober 2014 bis zur mündlichen Verhandlung am … könnte sich wegen Zeitablaufs ein Anspruch wegen selbstbeschaffter Hilfe aus § 36a Abs. 3 SGB VIII ergeben.
1. Nach § 36a Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII muss der Beklagte über den Hilfebedarf in Kenntnis gesetzt werden. Dies ist am 31. Oktober 2014 erfolgt.
2. Jedoch lagen die Voraussetzungen der Hilfegewährung nach § 36a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII im beschriebenen Zeitraum nicht vor.
2.1 Der Kläger und seine Frau waren berechtigt einen Anspruch auf Hilfe zur Erziehung als gemeinsame Sorgeberechtigte geltend zu machen.
2.2 Ein erzieherischer Bedarf nach § 27 Abs. 1 SGB VIII ist vorliegend gegeben. Abgesehen davon, dass der Bayerische Verwaltungsgerichtshof bereits bei einem objektiven Ausfall eines Elternteiles einen erzieherischen Bedarf angenommen hat (BayVGH, B.v. 30.6.2016 – 12 C 16.1162 -, juris Rn. 24 für den Fall eines unfallbedingten Todes der Kindsmutter und eines dadurch alleinerziehenden, vollzeittätigen Vaters von einem schwerverletzten Säuglings und einem Kleinkind), ist vorliegend festzustellen, dass beide Elternteile nicht willens bzw. in der Lage sind, die Erziehung des Kindes zu übernehmen. Die Kindsmutter hat nur sehr sporadischen Kontakt zum Sohn des Klägers und möchte eine Erziehungsleistung nicht erbringen bzw. ist hierzu nicht in der Lage. Bezüglich des Klägers ist festzustellen, dass er zeitweise im Laufe der Entwicklung zwar schwankte, was den Willen zur Übernahme eigener Erziehungsleistungen betrifft, jedoch aktuell zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung offensichtlich nicht bereit ist, seinen Sohn zu sich zu nehmen. Aus dem Klageschriftsatz ergibt sich, dass der Kläger sich aufgrund des behinderungsbedingten Mehrbedarfs beim Sohn, der durch die vorgelegten Protokolle zur Pflegeeinstufung nachgewiesen ist, nicht in der Lage sieht, diesen selbst zu erziehen. Dem Kläger ist zwar entgegen zu halten, dass es auch Integrationsplätze in Schulhorten gibt, so dass der Sohn des Klägers sehr wohl nachmittags angemessen und bedarfsgerecht betreut werden könnte. Jedoch ist nach Auswertung der Berichte der Pflegekasse ersichtlich, dass der Sohn des Klägers morgens, abends und teilweise auch nachts einen erhöhten Bedarf an Zuwendung, Pflege und Erziehung hat. Schlussendlich ist daher aufgrund mangelnder Bereitschaft beider Eltern das Kind zu erziehen, davon auszugehen, dass ein erzieherischer Bedarf des Klägers vorliegt.
2.3 Entgegen der Ansicht des Beklagten ist Hilfe zur Vollzeitpflege vorliegend auch geeignet und notwendig, um den erzieherischen Bedarf des Sohnes des Klägers zu decken. Denkt man nämlich die Großeltern des Kindes hinweg, entsteht eine Lücke, die nicht durch die im maßgeblichen Zeitpunkt laufenden Maßnahmen des § 35a SGB VIII (Schulbegleiter und aufsuchende ambulante Eingliederungshilfe) abgedeckt werden könnte. Bei Hinwegdenken der Großeltern hätte der Sohn des Klägers nämlich in einer Pflegefamilie oder einem Heim untergebracht werden müssen.
2.4 Die Großeltern sind im konkreten Fall ungeeignet als Pflegepersonen im Sinne der §§ 27 Abs. 1, 33 SGB VIII. Hierbei spielt jedoch weder das Alter der Großeltern, noch die Verlagerung der Hausaufgaben und des schulischen Bereichs auf den Kläger eine Rolle.
Durch Einfügung des § 27 Abs. 2a SGB VIII, der explizit auch wegen der Verwandtenpflege bei Großeltern eingeführt wurde, machte der Gesetzgeber klar, dass kein „natürlicher Eltern-Kind-Altersabstand“ zwischen der Pflegeperson und dem zu betreuenden Kind vorliegen muss. Auch sind keine substantiierten Tatsachen vorgetragen, die an der gesundheitlichen Eignung der Großeltern aufgrund ihres Alters zweifeln lassen würden. Die allein abstrakte Prognose, dass die Großeltern aufgrund ihres Alters in den nächsten Jahren nicht geeignet seien, den steigenden Anforderungen eines behinderten Kindes in der Pubertät gerecht zu werden, ist für eine Ablehnung nicht ausreichend.
Auch die Verschiebung der Hausaufgabensituation und der Aufgabe, sich um die schulischen Belange des Sohnes des Klägers zu kümmern, führt grundsätzlich nicht dazu, dass die Großeltern als Pflegepersonen als ungeeignet eingestuft werden können. Wie der Kläger zu Recht vorträgt, ist es Pflegeeltern möglich, eine externe Hausaufgabenbetreuung in Anspruch zu nehmen. Im Hinblick darauf, dass nach § 33 Satz 1 SGB VIII mit der Hilfe zur Erziehung auch nur befristete Maßnahmen bis zur Rückführung in den elterlichen Haushalt gedacht sind, ist hier teilweise und schrittweise Aufgaben- und Kompetenzübertragung auf die leiblichen Eltern und Personensorgeberechtigten sogar erwünscht. Nach Aktenlage sah das Jugendamt den Umzug des Sohnes des Klägers zum Kläger mittelfristig als gangbaren Weg. Somit kann den Großeltern diese Kompetenzübertragung nicht zur Last gelegt werden.
Anders ist dies jedoch unter dem Aspekt zu sehen, dass die Mutter des Klägers einen zu hohen Leistungsdruck auf den Sohn des Klägers in schulischen Belangen ausübt. Abmachungen in diesen Bereich zwischen den Eltern des Klägers und dem Kläger sind regelmäßig und mit Absicht durch die Mutter des Klägers unterlaufen worden. Weiter ist festzustellen, dass die Großeltern, insbesondere die Mutter des Klägers, es trotz oder gerade wegen ihrer liebevollen Fürsorge für das Enkelkind verpassen, altersangemessene Regeln konsequent durchzusetzen und dem Sohn des Klägers altersangemessene Herausforderungen zu bieten. Die Mutter des Klägers ist zu überbehütend und behindert damit den Sohn des Klägers nach den ausführlichen Berichten aus früheren Hilfen in seiner Autonomie- und Persönlichkeitsentwicklung.
Weiter ergibt sich aus den vorangegangen Hilfen, dass zwar Ratschläge durch das Jugendamt im Rahmen der angebotenen Hilfen immer wieder gesucht worden sind, jedoch eine Umsetzung der Ratschläge in konkrete Verhaltensweisen durch die Großeltern und den Kläger zu einem großen Teil blockiert wurde oder nicht gelungen ist. Grund hierfür sind starke innerfamiliäre Konflikte. Diese betreffen sowohl das Großelternpaar in seiner Paarbeziehung als auch die Beziehung der Großeltern zum Kläger. Dieser war jedenfalls zeitweise finanziell von den Großeltern abhängig, so dass eine extreme Verstrickung innerhalb der Familie vorliegt. Die Rollenbilder und Erziehungshaltungen innerhalb der Familie sind diffus, so dass kindgerechte Erziehungsleitlinien für das Kind nicht ersichtlich und dazu für das Kind jederzeit neu verhandelbar sind. Gerade für Kinder mit Asperger-Syndrom sind klare Regeln, Leitlinien und Tagesstrukturen für eine gesunde Entwicklung notwendig. Es ist bezeichnend, dass zunächst mehrere Monate im Rahmen der ambulanten Eingliederungshilfe für das Kind an der Kommunikationsstruktur der Familie gearbeitet werden musste, bis überhaupt ein konstruktives Gespräch über die Belange des behinderten Kindes möglich war. Aus den Berichten ergeben sich zwar deutliche Verbesserungen im Vergleich zum Anfang der Eingliederungshilfe, jedoch ist aus dem Abschlussbericht der ambulanten Eingliederungshilfe ersichtlich, dass eine Besserung von einem sehr niedrigen Niveau auf ein bestenfalls mittelmäßiges Niveau stattgefunden hat. Die Situation innerhalb der Familie wird im Abschlussbericht weiterhin als hochexplosiv, konfliktbeladen und in alten Verhaltensmustern verhaftet eingestuft.
Unter diesen Gesichtspunkten ist die Geeignetheit der Großeltern als Pflegepersonen im Sinne des §§ 27,33 SGB VIII zu verneinen. Die Hilfe zur Erziehung stellt einen Anspruch des Klägers und der Kindsmutter dar, mit dem die erzieherischen Defizite behoben und möglichst eine Rückführung in den Haushalt eines Elternteiles erreicht werden soll. Hier ist nicht ersichtlich, dass die Eltern des Klägers aufgrund der großen familiären, weit in die Vergangenheit zurückreichenden Konflikte, hilfreich dafür sind, das Erziehungsdefizit beim Kindsvater mittelfristig zu beseitigen oder abzumildern.
Weiterhin ist den Akten eine deutliche finanzielle Motivation zu entnehmen. Jedoch ist die finanzielle Hilfe in Form des Pflegegeldes nach § 39 SGB VIII eine Annex-Leistung zur sozialpädagogischen Hilfe zur Erziehung nach den §§ 27,33 SGB VIII. Falls eine Hilfe zur Erziehung mangels Mitwirkungsbereitschaft oder Geeignetheit ausfällt, kann auch eine Leistung von Pflegegeld nicht erfolgen. Bei finanziellen Problemen im Rahmen der Verwandtenpflege ist zunächst über die Beistandschaft Unterhalt von den leiblichen Kindseltern einzuklagen und anschließend, falls dies nicht erfolgreich oder ausreichend ist, sozialrechtliche Hilfen zu beantragen (Münder, Meysen, Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 6. Auflage, § 27 Rn. 24; sowie ausdrücklich zur Großelterntagespflege: Bundestags-Drucksache 15/3676, Seite 36).
Das Jugendamt wird jedoch vorliegend die Aussage im Widerspruchsschreiben des Klägers vom 17. Januar 2016, dass bei fehlender Geeignetheit der Eltern des Klägers, das Kind in einer anderen Pflegefamilie untergebracht werden solle, auf seine Ernsthaftigkeit und Umsetzung hin prüfen müssen. Eine dringende Kindswohlgefährdung nach § 1666 BGB, die das Jugendamt veranlassen müsste, familiengerichtliche Schritte zu einer anderweitigen Unterbringung des Sohnes des Klägers zu veranlassen, ist aus dem Akteninhalt bisher nicht ersichtlich. Somit bleibt den Personensorgenberechtigten das Recht, den Aufenthalt des Kindes bei einem der beiden Personensorgeberechtigten oder bei den Großeltern zu belassen oder das Jugendamt um Vermittlung einer geeigneten Pflegefamilie bzw. eines geeigneten Heimes zu bitten.
3. Mangels Vorliegens der Voraussetzungen des § 36 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII bestand für den maßgeblichen Zeitraum ab dem 31. Oktober 2014 kein Anspruch auf Hilfe zur Erziehung in der konkreten Pflegestelle bei den Eltern des Klägers. Auch für die Zukunft ist mangels anderweitiger Anhaltspunkte die Geeignetheit der Eltern des Klägers als Pflegepersonen bis auf weiteres nicht gegeben.
4. Die Kostenentscheidung richtet sich nach § 154 Abs. 1 VwGO.
Das Verfahren ist gerichtskostenfrei nach § 188 Satz 2 VwGO.


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