IT- und Medienrecht

Untersuchungshaft, Wortberichterstattung, Bildberichterstattung, Informationsinteresse der Öffentlichkeit, Unschuldsvermutung, Verdachtsberichterstattung, Staatsanwaltschaftliche Ermittlungen, Gewerbsmäßiger Bandenbetrug, Einstellung des Ermittlungsverfahrens, Einleitung eines Ermittlungsverfahrens, Laufendes Ermittlungsverfahren, Identifizierende Berichterstattung, Einstweilige Verfügung, Allgemeines Persönlichkeitsrecht, Textberichterstattung, Bedürfnisprüfung, Rechtskräftiger Schuldspruch, Kostenentscheidung, Besondere Umstände, Widerstreitende Interessen

Aktenzeichen  18 U 144/21 Pre

Datum:
1.6.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
AfP – 2021, 450
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Verfahrensgang

9 O 15459/20 2020-12-16 Endurteil LGMUENCHENI LG München I

Tenor

1. Auf die Berufung der Verfügungsbeklagten wird das Endurteil des Landgerichts München I vom 16.12.2020, Az. 9 O 15459/20 – unter Zurückweisung der weitergehenden Berufung – teilweise abgeändert und zur Klarstellung wie folgt neu gefasst:
Die einstweilige Verfügung des Landgerichts München I vom 24.11.2020, Az. 9 O 15459/20, wird insoweit bestätigt, als der Verfügungsbeklagten unter Androhung von Ordnungsmitteln untersagt worden ist, im Zusammenhang mit einer Berichterstattung über die strafrechtlichen Ermittlungen gegen den Antragsteller dessen Bildnis zu veröffentlichen oder zu verbreiten oder veröffentlichen oder verbreiten zu lassen, wenn dies geschieht wie in dem am 21.11.2020 unter der URL https. …www.s veröffentlichten Artikel „Der W. “.
Im Übrigen wird die einstweilige Verfügung des Landgerichts München I vom 24.11.2020, Az. 9 O 15459/20, aufgehoben und der Antrag auf ihren Erlass zurückgewiesen.
2. Die Kosten des Rechtsstreits werden gegeneinander aufgehoben.

Gründe

(abgekürzt nach § 540 Abs. 2, § 313a Abs. 1 Satz 1, § 542 Abs. 2 Satz 1 ZPO)
I.
Die zulässige Berufung der Verfügungsbeklagten gegen das Endurteil des Landgerichts München I vom 16.12.2020, mit dem die einstweilige Verfügung vom 24.11.2020 – gerichtet auf Unterlassung der identifizierenden Wort- und Bildberichterstattung über den Verfügungskläger – bestätigt wurde, ist teilweise begründet.
Der Verfügungskläger kann von der Verfügungsbeklagten im Hinblick auf den angegriffenen Artikel nur Unterlassung der identifizierenden Bildberichterstattung in Form der Abbildung seines Fotos, nicht aber Unterlassung der identifizierenden Wortberichterstattung in Form der Nennung seines vollen Namens verlangen.
Zur Klarstellung hat der Senat die der Verfügungsbeklagten untersagten Verletzungsformen konkret umschrieben (§ 938 Abs. 1 ZPO). Eine inhaltliche Erweiterung des ausgesprochenen Verbots gegenüber dem vom Verfügungskläger verfolgten Rechtsschutzziel ist mit dieser Änderung nicht verbunden.
1. Entgegen der Ansicht des Landgerichts steht dem Verfügungskläger der geltend gemachte Anspruch auf Unterlassung der ihn identifizierenden Wortberichterstattung entsprechend § 1004 Abs. 1 Satz 2, § 823 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG nicht zu.
1) Die angegriffene Wortberichterstattung in dem am 21.11.2020 veröffentlichten Artikel (mit Datum vom 20.11.2020) im Zusammenhang mit den Vorwürfen und strafrechtlichen Ermittlungen gegen die Verantwortlichen des W.-Konzerns unter voller Namensnennung des Verfügungsklägers greift zwar in den Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Verfügungsklägers ein. Denn die den Beschuldigten identifizierende Berichterstattung über ein Ermittlungsverfahren beeinträchtigt zwangsläufig dessen Recht auf Schutz seiner Persönlichkeit und seines guten Rufs, weil sie sein mögliches Fehlverhalten öffentlich bekannt macht und seine Person in den Augen der Adressaten negativ qualifiziert (vgl. BGH, Urteil vom 18.06.2019 – VI ZR 80/18, BGHZ 222, 196, Rn. 19 m.w.N.).
1) Die Beeinträchtigung ist jedoch nicht rechtswidrig. Die gebotene Abwägung des Rechts des Verfügungsklägers auf Schutz seiner Persönlichkeit und seines guten Rufs aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK mit dem in Art. 5 Abs. 1 GG, Art. 10 EMRK verankerten Recht der Verfügungsbeklagten auf Meinungs- und Medienfreiheit fällt hinsichtlich der Namensnennung zugunsten der Verfügungsbeklagten aus.
1) Wegen der Eigenart des Persönlichkeitsrechts als eines Rahmenrechts liegt seine Reichweite nicht absolut fest, sondern muss erst durch Abwägung der widerstreitenden grundrechtlich geschützten Belange bestimmt werden, bei der die besonderen Umstände des Einzelfalls sowie die betroffenen Grundrechte und Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention interpretationsleitend zu berücksichtigen sind. Der Eingriff in das Persönlichkeitsrecht ist nur rechtswidrig, wenn das Schutzinteresse des Betroffenen die schutzwürdigen Belange der anderen Seite überwiegt (st. Rspr., vgl. etwa BGH a.a.O., Rn. 20 m.w.N.).
1) Im Rahmen der Abwägung ist von erheblicher Bedeutung, ob die Tatsachenbehauptungen in dem angegriffenen Textbeitrag zulässig waren. Da Gegenstand der Berichterstattung nicht nur das Ermittlungsverfahren, sondern auch der unter Darlegung des Hintergrunds und weiterer Informationen zur Person des Klägers näher beschriebene Verdacht mehrerer Straftaten, u.a. des gewerbsmäßigen Bandenbetrugs ist, müssen die Voraussetzungen einer Verdachtsberichterstattung vorliegen (vgl. BGH, Urteil vom 16.02.2016 – VI ZR 367/15, MDR 2016, 520, Rn. 20). Dabei ist im Hinblick auf die aus dem Rechtsstaatsprinzip folgende und in Art. 6 Abs. 2 EMRK anerkannte Unschuldsvermutung die Gefahr in den Blick zu nehmen, dass die Öffentlichkeit die bloße Einleitung eines Ermittlungsverfahrens mit dem Nachweis der Schuld gleichsetzt und deshalb im Fall einer späteren Einstellung des Ermittlungsverfahrens oder eines Freispruchs vom Schuldvorwurf „etwas hängenbleibt“ (vgl. BGH, Urteil vom 16.02.2016 – VI ZR 367/15, MDR 2016, 520, Rn. 23 m.w.N; BGH, Urteil vom 18.12.2018 – VI ZR 439/17, NJW 2019, 1881, Rn. 15).
Erforderlich ist jedenfalls ein Mindestbestand an Beweistatsachen, die für den Wahrheitsgehalt der Information sprechen und ihr damit erst „Öffentlichkeitswert“ verleihen. Die Darstellung darf ferner keine Vorverurteilung des Betroffenen enthalten; sie darf also nicht durch eine präjudizierende Darstellung den unzutreffenden Eindruck erwecken, der Betroffene sei der ihm vorgeworfenen Handlung bereits überführt. Auch ist vor der Veröffentlichung regelmäßig eine Stellungnahme des Betroffenen einzuholen. Schließlich muss es sich um einen Vorgang von gravierendem Gewicht handeln, dessen Mitteilung durch ein Informationsbedürfnis der Allgemeinheit gerechtfertigt ist (vgl. BGH, Urteil vom 16.02.2016 – VI ZR 367/15, MDR 2016, 520, Rn. 24 m.w.N).
Auch in seiner Entscheidung vom 18.06.2019 (Az. VI ZR 80/18, BGHZ 222, 196, Rn. 41) hat der Bundesgerichtshof bekräftigt, dass die Unschuldsvermutung im Rahmen der Berichterstattung über ein noch laufendes Strafverfahren eine entsprechende Zurückhaltung, mindestens aber eine ausgewogene Berichterstattung gebietet. Ein identifizierender Bericht über die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens ist deshalb auch daraufhin zu überprüfen, ob er geeignet ist, den Beschuldigten an den Pranger zu stellen, ihn zu stigmatisieren oder ihm in sonstiger Weise Nachteile zuzufügen, die einem Schuldspruch oder einer Strafe gleichkommen. Dabei kann anders als bei Berichterstattungen nach einer rechtskräftigen strafrechtlichen Verurteilung nicht als Gesichtspunkt in die Abwägung eingestellt werden, dass der Beschuldigte den Rechtsfrieden gebrochen und deswegen zu dulden habe, dass das von ihm selbst erregte Informationsinteresse der Öffentlichkeit auf den dafür üblichen Wegen befriedigt werde; denn eine solche Argumentation lässt sich in der Regel mit der Unschuldsvermutung nicht vereinbaren. Oftmals kann im Hinblick auf die Unschuldsvermutung bis zu einem erstinstanzlichen (nicht notwendig rechtskräftigen) Schuldspruch das Recht des Beschuldigten auf Schutz der Persönlichkeit das Interesse an einer identifizierenden Wortberichterstattung überwiegen. Dies ist allerdings nicht der Fall, wenn die besonderen Umstände der dem Beschuldigten vorgeworfenen Straftat oder dessen herausgehobene Stellung ein gewichtiges Informationsinteresse der Öffentlichkeit – auch über die Identität des Beschuldigten – begründen, hinter dem das Interesse des Beschuldigten am Schutz seiner Persönlichkeit zurückzutreten hat (vgl. BGH a.a.O. m.w.N.).
1) Legt man diese Maßstäbe zugrunde, sind die Voraussetzungen für eine zulässige Verdachtsberichterstattung eingehalten und fällt die Abwägung der grundrechtlich geschützten Belange der Parteien im Hinblick auf die namentliche Nennung des Verfügungsklägers im Rahmen der Berichterstattung auch unter Berücksichtigung der für den Verfügungskläger streitenden Unschuldsvermutung zugunsten der Verfügungsbeklagten aus.
(1) Ein Mindestbestand an Beweistatsachen ist gegeben. Die Verfügungsbeklagte kann sich insbesondere auf die Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft München I vom 22.07.2020 (Anlage AG 1) als sog. privilegierte Quelle stützen. Darin wird über den vorläufigen Stand der Ermittlungen und den näher geschilderten Verdacht gegen die Beschuldigten Dr. B., L., E. und B., den Geschäftsführer der C. S. M. E. FZ-LLC mit Sitz in Dubai [bei dem es sich um den Verfügungskläger handelt] berichtet, unter Beteiligung von weiteren Mittätern im Jahr 2015 übereingekommen zu sein, die Bilanzsumme und das Umsatzvolumen der W. AG durch das Vortäuschen von Einnahmen aus Geschäften mit sog. T.-P.-A. (TPA) aufzublähen.
Der Verfügungskläger befindet sich in diesem Zusammenhang seit Juli 2020 in Untersuchungshaft; bei ihm handelt es sich zugleich um den in der Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft genannten Kronzeugen. Zudem gehört er zu den am 19.11.2020 vor den Untersuchungsausschuss „W. “ des Deutschen Bundestags geladenen Zeugen, wie sich aus der Pressemitteilung gemäß Anlage AG 2 ergibt.
(2) Eine vorverurteilende, nicht ausgewogene Berichterstattung kann entgegen der Ansicht des Verfügungsklägers im vorliegenden Fall nicht angenommen werden.
In dem streitgegenständlichen Artikel (Anlage AS 1) wird insbesondere nicht der unzutreffende Eindruck erweckt, der Verfügungskläger sei der ihm vorgeworfenen Handlungen bereits überführt. Vielmehr geht aus der Berichterstattung insgesamt deutlich hervor, dass sich das Verfahren gegen die Beschuldigten noch im Stadium der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen befindet, wobei von Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gegen mehr als 20 Beschuldigte gesprochen wird und in Übereinstimmung mit der Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft über Vorwürfe von Untreue und unrichtiger Darstellung über Marktmanipulation bis zu Geldwäsche und „gewerbsmäßigem Bandenbetrug“ berichtet wird. Im Mittelpunkt des Artikels stehen B. und M., die als „Schlüsselfiguren“ bezeichnet werden. Dabei wird insbesondere die Rolle des Erstgenannten kritisch dahingehend hinterfragt, ob es sich bei ihm um einen „Anführer“ oder „nützlichen Idioten“ gehandelt habe.
Die Textberichterstattung über den Verfügungskläger beginnt – nach einem großformatigen Portraitfoto seiner Person auf Seite 12 – auf Seite 13 des Ausdrucks des Online-Artikels unter der Überschrift „Dubai“. Er wird u.a. als „M. rechte Hand“ bezeichnet und insbesondere seine Rolle an der Spitze der Konzerntocher C. S. M. E. im Zusammenhang mit dem Geschäft mit Drittpartnern, den TPAs, hervorgehoben. B. sei „so etwas wie der Höllenhund, am Tor zwischen dem TPA-Sch. und dem offiziellen W.“ gewesen. Ein Großteil der Verträge mit den angeblichen Drittpartnern sei über seine C. S. M. E. geschlossen worden.
Anders als der Verfügungskläger meint, ist selbst mit der Bezeichnung „Höllenhund“ keine Vorverurteilung in strafrechtlicher Hinsicht verbunden. Vielmehr handelt es sich um eine Anspielung auf Kerberos (griech.; dt. auch Zerberus), der in der griechischen Mythologie ein zumeist mehrköpfiger Höllenhund ist, der den Eingang zur Unterwelt bewacht, damit kein Lebender eindringen und kein Toter herauskommen kann. Damit wird – wie auch im Artikel erläutert wird – auf die maßgebliche Funktion des Verfügungsklägers bzw. der von ihm geleiteten Tochterfirma in Dubai Bezug genommen, auf die nach den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft 1,1 Mrd. € der „erfundenen“ Bilanzsumme von 1,9 Mrd. € entfallen sollen. Diese auch im unstreitigen Tatbestand enthaltenen Feststellungen des Landgerichts greift der Verfügungskläger nicht an.
Im Anschluss wird wahrheitsgemäß berichtet, dass sich der Verfügungskläger wenige Wochen nach dem Zusammenbruch der Staatsanwaltschaft in München gestellt habe und zum Kronzeugen geworden sei. Fragen des S., so der Anwalt des Verfügungsklägers, könne er „in Anbetracht des laufenden Ermittlungsverfahrens“ nicht kommentieren. Zuletzt werden Angaben des Verfügungsklägers mit Blick auf seine Stellung als Kronzeuge und eine von ihm in Liechtenstein unterhaltene Stiftung – deren Existenz vom Verfügungskläger nicht in Abrede gestellt wird – kritisch hinterfragt, ohne hierzu eine abschließende Antwort zu geben. Die weitere Berichterstattung befasst sich sodann mit den Geschäften und weiteren Verantwortlichen in Indien, Singapur und Manila, bevor der Artikel zu den aktuellen Geschehnissen in Berlin und München zurückkehrt und in diesem Rahmen nochmals die Rolle des Verfügungsklägers als Kronzeuge der Staatsanwaltschaft erwähnt.
Eine Vorverurteilung des Verfügungsklägers im Rahmen der sachbezogenen Erörterung der Hintergründe und Vorgänge im Zusammenhang mit dem W. Konzern ist mithin nicht ersichtlich.
1) Die Einholung einer Stellungnahme des Verfügungsklägers zu den wesentlichen Punkten vor der Veröffentlichung der Berichterstattung ist erfolgt (vgl. Anlage AS 4). Der Verfügungskläger hat auf die Anfrage mit Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 18.11.2020 (Anlage AS 5) geantwortet. Darin wird auf die Unzulässigkeit der namentlichen Nennung des Verfügungsklägers unter Beifügung eines Urteils des Landgerichts München I vom 09.09.2020 in einem Parallelverfahren (Az. 9 O 9467/20) verwiesen. Die weitere Erklärung, dass die gestellten Fragen in Anbetracht des laufenden Ermittlungsverfahrens leider nicht kommentiert werden könnten, wird im Artikel als Zitat wiedergegeben.
1) Es handelt sich ferner um einen Vorgang von gravierendem Gewicht, dessen Mitteilung durch ein Informationsbedürfnis der Allgemeinheit gerechtfertigt ist.
Bei den Geschehnissen rund um die W. AG als DAX-Unternehmen handelt es sich um einen der größten und spektakulärsten Wirtschaftsskandale in der Geschichte der Bundesrepublik. Die Staatsanwaltschaft spricht von einem möglichen Schaden in Höhe von insgesamt 3,2 Mrd. €. Von den angeblichen Vermögenswerten in Höhe von zuletzt 1,9 Mrd. €, die nie existiert haben sollen, entfallen mutmaßlich 1,1 Mrd. € auf die vom Verfügungskläger geleitete W.-Tochter in Dubai. Es geht folglich um immense Schadenssummen, erhebliche Tatvorwürfe in Form des gewerbsmäßigen Bandenbetrugs, Untreue, unrichtige Darstellung und Marktmanipulation in mehreren Fällen sowie um ein bislang beispielloses Vorgehen, gerade auch im Hinblick auf die Höhe der vorgenommen „Luftbuchungen“. Hinzu kommt die politische Dimension, die sich in der Einrichtung des Untersuchungsausschusses „W.“ des Deutschen Bundestages zeigt, die Frage der Kenntnis auf Seiten von Mitgliedern der Bundesregierung sowie der Mitverantwortung u.a. der BaFin und der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft E. & Y.
Unter Berücksichtigung dieser Umstände liegen die Voraussetzungen für eine Verdachtsberichterstattung bezogen auf den in Untersuchungshaft sitzenden Verfügungskläger als Leiter der Tochterfirma in Dubai, auf die ein Großteil der verschwundenen bzw. nicht existenten Gelder entfallen soll, vor.
1) Die erforderliche Gesamtabwägung der widerstreitenden Interessen führt außerdem zu dem Ergebnis, dass der Verfügungskläger im konkreten Fall auch eine identifizierende Wortberichterstattung unter Nennung seines vollen Namens im Zeitpunkt der Berichterstattung hinnehmen muss, selbst wenn die Unschuldsvermutung im frühen Stadium des Ermittlungsverfahrens in besonderem Maße für ihn streitet und seinen Persönlichkeitsschutz verstärkt.
Entscheidend ist vorliegend das gewichtige Informationsinteresse der Öffentlichkeit. Dieses ergibt sich aus den vorstehend skizzierten besonderen Umständen der vorgeworfenen Straftaten und begründet zugleich ein besonderes Interesse an der Person und Identität des Verfügungsklägers, der an einer wichtigen Schaltstelle im Unternehmen – gerade im Hinblick auf die erhobenen Strafvorwürfe und angeblichen Luftbuchungen – saß. Wie dargelegt besteht gegen den Verfügungskläger dringender Tatverdacht, er sitzt seit Juli 2020 in Untersuchungshaft. Die Berichterstattung betrifft ihn (nur) in seiner zur Sozialsphäre zählenden beruflichen Tätigkeit. Darüber hinaus fungiert er als Kronzeuge für die Staatsanwaltschaft, so dass ein Interesse an seiner Person auch im Hinblick auf die Frage besteht, wessen Angaben zur Aufklärung des Sachverhalts beitragen, zugleich aber auch andere Personen – mit dem Ziel der eigenen Strafmilderung – erheblich belasten können.
Entgegen der Ansicht des Landgerichts kann dem Verfügungskläger in diesem Zusammenhang nicht der Gesichtspunkt der Resozialisierung zugute kommen. Denn das Resozialisierungsinteresse und das Recht des Täters, „alleine gelassen zu werden“, steht der aktuellen identifizierenden Berichterstattung nicht entgegen, weil es nach Befriedigung des aktuellen Informationsbedürfnisses der Öffentlichkeit erst mit zeitlicher Distanz zur Straftat und zum Strafverfahren zunehmende Bedeutung gewinnt (vgl. BGH, Urteil vom 07.06.2011 – VI ZR 108/10, BGHZ 190, 52, Rn. 25). Auch eine konkrete Gefährdungslage des Verfügungsklägers ist nicht hinreichend dargetan. Allein die allgemeinen und nicht belegten Erwägungen des Landgerichts zu einem Interesse des Verfügungsklägers an weitgehender Anonymität in der Untersuchungshaft wegen der grundsätzlichen Gefahr rechtswidriger Angriffe von Mithäftlingen nach Bekanntwerden seiner Identität erachtet der Senat nicht für ausreichend, um hieraus eine erhöhte Schutzwürdigkeit abzuleiten.
Dem Landgericht ist allerdings insoweit zuzustimmen, als nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei der Berichterstattung über Strafverfahren die Schwere der in Frage stehenden Straftat nicht nur für das öffentliche Informationsinteresse, sondern auch bei der Gewichtung der entgegenstehenden Persönlichkeitsbelange im Sinne einer erhöhten Gefahr einer Stigmatisierung Bedeutung erlangen kann (vgl. BVerfG, Beschluss vom 25.01.2012 – 1 BvR 2499/09, NJW 2012, 1500, Rn. 41). Auch ist der Verfügungskläger bislang nicht in der Öffentlichkeit in Erscheinung getreten und dort auch nicht in seiner Stellung als Leiter der Tochterfirma in Dubai bekannt gewesen. Allein das Auftreten in einer Unternehmensbroschüre (A. AG 3) genügt nicht, um etwa eine nennenswerte Selbstöffnung gegenüber den Medien bzw. der Öffentlichkeit zu begründen. Nicht außer Acht gelassen werden kann hingegen der zwischenzeitliche Auftritt des Verfügungsklägers vor dem Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages am 19.11.2020, der einen Tag vor der streitgegenständlichen Berichterstattung erfolgte. In der diesbezüglichen Pressemitteilung des Deutschen Bundestages (A. AG 2) wird der Verfügungskläger als einer von sechs geladenen Zeugen namentlich genannt. Er hat vor dem Ausschuss, zu dem er aus der Untersuchungshaft per Video zugeschaltet wurde, zwar keine Fragen beantwortet. Jedoch hat er sich bei den Abgeordneten als Vertretern der Öffentlichkeit sowie bei den Geschädigten entschuldigt und ausgeführt, dass die Angelegenheit „ein Riesendesaster“ sei, das sich durch nichts beschönigen lasse. Auch wenn diesen Äußerungen – ebenso wenig wie der Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft – ein Geständnis hinsichtlich der strafrechtlichen Vorwürfe entnommen werden kann, ist festzuhalten, dass sich der Verfügungskläger mit diesem Schritt in der öffentlichen Sitzung des Untersuchungsausschusses jedenfalls an die Öffentlichkeit bzw. die Geschädigten gewandt und entschuldigt hat, wie es auch in der anschließenden Pressemitteilung des Bundestages unter Nennung des Namens des Verfügungsklägers berichtet wird.
2. Würdigt und gewichtet man im vorliegenden Fall sämtliche der vorgenannten Umstände, ist dem im Einzelnen dargelegten, gesteigerten Informationsinteresse der Öffentlichkeit auch hinsichtlich der Identität des Verfügungsklägers hier bereits im Stadium des Ermittlungsverfahrens der Vorrang einzuräumen. Eine Stigmatisierung des Verfügungsklägers oder eine Prangerwirkung allein durch die Namensnennung vermag der Senat nicht zu erkennen. Zusammenfassend tritt daher das Interesse des Verfügungsklägers am Schutz seiner Persönlichkeit im Streitfall hinter das gewichtige Informationsinteresse der Öffentlichkeit auch hinsichtlich der namentlichen Identifizierung zurück, so dass der Verfügungskläger insoweit nicht Unterlassung verlangen kann.
Demgegenüber steht dem Verfügungskläger der geltend gemachte Anspruch auf Unterlassung der ihn identifizierenden Bildberichterstattung entsprechend § 1004 Abs. 1 Satz 2, § 823 Abs. 1, Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 22, 23 KUG, Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG zu.
1) Die Zulässigkeit einer Bildberichterstattung richtet sich nicht nach denselben Maßstäben wie die einer Textberichterstattung (vgl. BGH, Urteil vom 17.12.2019 – VI ZR 249/18, AfP 2020, 143, Rn. 39). Sie beurteilt sich nach dem abgestuften Schutzkonzept der §§ 22, 23 KUG. Danach dürfen Bildnisse einer Person grundsätzlich nur mit deren – hier nicht vorliegender – Einwilligung verbreitet werden (§ 22 Satz 1 KUG). Hiervon besteht allerdings gemäß § 23 Abs. 1 Nr. 1 KUG eine Ausnahme, wenn es sich um ein Bildnis aus dem Bereich der Zeitgeschichte handelt. Diese Ausnahme gilt aber nach § 23 Abs. 2 KUG nicht für eine Verbreitung, durch die berechtigte Interessen des Abgebildeten verletzt werden (vgl. BGH a.a.O. m.w.N.).
Schon die Beurteilung, ob ein Bildnis dem Bereich der Zeitgeschichte im Sinne von § 23 Abs. 1 Nr. 1 KUG zuzuordnen ist, erfordert eine Abwägung zwischen den Rechten des Abgebildeten aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK einerseits und den Rechten der Presse aus Art. 5 Abs. 1 GG, Art. 10 Abs. 1 EMRK andererseits (vgl. BGH a.a.O., Rn. 40; BGH, Urteil vom 06.02.2018 – VI ZR 76/17, NJW 2018, 1820, Rn. 10 m.w.N.).
2) Maßgebend für die Frage, ob es sich um ein Bildnis aus dem Bereich der Zeitgeschichte handelt, ist der Begriff des Zeitgeschehens. Dieser darf nicht zu eng verstanden werden. Im Hinblick auf den Informationsbedarf der Öffentlichkeit umfasst er alle Fragen von allgemeinem gesellschaftlichem Interesse. Es gehört zum Kern der Presse- und Meinungsfreiheit, dass die Presse im Grundsatz nach ihren eigenen publizistischen Kriterien entscheiden kann, was öffentliches Interesse beansprucht. Dazu zählt auch die Entscheidung, ob und wie ein Presseerzeugnis bebildert wird. Eine Bedürfnisprüfung, ob eine Bebilderung veranlasst war, findet nicht statt (vgl. BGH, Urteil vom 17.12.2019 – VI ZR 249/18, AfP 2020, 143, Rn. 41 m.w.N.).
Allerdings besteht das Informationsinteresse nicht schrankenlos. Vielmehr wird der Einbruch in die persönliche Sphäre des Abgebildeten durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beschränkt. Im Rahmen der Abwägung kommt dem Gegenstand der Berichterstattung maßgebliche Bedeutung zu, wobei der Informationsgehalt der Bildberichterstattung unter Berücksichtigung der zugehörigen Textberichterstattung zu ermitteln ist (vgl. BGH a.a.O., Rn. 42 m.w.N.). Ebenso ist von Bedeutung, welche Rolle dem Betroffenen in der Öffentlichkeit zukommt (vgl. BGH a.a.O., Rn. 43).
Auch bei der strafverfahrensbegleitenden Bildberichterstattung hat in der Abwägung der widerstreitenden Interessen – bereits bei der Prüfung, ob ein Bildnis aus dem Bereich der Zeitgeschichte im Sinne des § 23 Abs. 1 Nr. 1 KUG vorliegt – die Unschuldsvermutung Berücksichtigung zu finden. Auch insoweit ist eine entsprechende Zurückhaltung geboten und eine mögliche Prangerwirkung zu berücksichtigen. Auch hier wird oftmals bis zu einem erstinstanzlichen (nicht notwendig rechtskräftigen) Schuldspruch das Recht des Beschuldigten auf Schutz der Persönlichkeit das Interesse an einer identifizierenden Bildberichterstattung überwiegen (vgl. BGH, Urteil vom 06.02.2018 – VI ZR 76/17, NJW 2018, 1820, Rn. Rn. 46 m.w.N.).
2) Gemessen an diesen Grundsätzen stellt das angegriffene Foto des Verfügungsklägers kein Bildnis der Zeitgeschichte dar. Die bereits im Rahmen des § 23 Abs. 1 Nr. 1 KUG vorzunehmende Abwägung fällt vorliegend zugunsten des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Verfügungsklägers – in seiner Ausprägung als Recht am eigenen Bild – aus.
Zwar besteht aus den oben bereits zur identifizierenden Wortberichterstattung angeführten Umständen ein erhebliches öffentliches Interesse auch an einer Bildberichterstattung im Zusammenhang mit den dem Verfügungskläger vorgeworfenen Straftaten. Zudem enthält die Aufnahme des Verfügungsklägers, die diesen kontextneutral im Nadelstreifenanzug zeigt, keinen eigenständigen Verletzungsgehalt. Darauf, ob es für den Durchschnittsleser und dessen Informationsbedürfnis relevant ist, welche Kopfform oder Frisur der Verfügungskläger hat und es daher einer entsprechenden Bebilderung „bedurft“ hätte, kommt es hingegen nicht an.
Jedoch überwiegt in der gebotenen Gesamtschau im Streitfall das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Verfügungsklägers, der der Öffentlichkeit bislang nicht bekannt ist, die für die Verfügungsbeklagte streitenden Interessen. Insbesondere kann im derzeitigen Stadium des Ermittlungsverfahrens trotz Erheblichkeit und Umfang der vorgeworfenen Taten noch kein überwiegendes Interesse der Öffentlichkeit angenommen werden, mit einem großformatigen Portraitfoto – zumal aus dem Jahre 2006 – über die Nennung des Namens des Verfügungsklägers hinaus auch über das Aussehen des Verfügungsklägers informiert zu werden. Insoweit fällt die erhöhte Gefahr einer Stigmatisierung und Prangerwirkung ins Gewicht, da der Kläger im Zusammenhang mit den erheblichen strafrechtlichen Vorwürfen aus einer weitgehenden Anonymität gerissen wird, obwohl bis zum heutigen Zeitpunkt noch keine Anklage gegen ihn erhoben worden ist. Er wird durch die Abbildung für eine breite Öffentlichkeit ohne Weiteres erkennbar und sein Gesicht mit den Straftaten verbunden, woraus sich eine zusätzliche, über die Wortberichterstattung hinausgehende Belastung ergibt. Hieran vermag auch der Auftritt des Verfügungsklägers in der öffentlichen Sitzung des Untersuchungsausschusses, in der Bild- und Tonaufnahmen nicht zugelassen sind, nichts zu ändern.
II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO. Der Senat sieht im vorliegenden Fall das jeweilige Obsiegen bzw. Unterliegen der Parteien im Hinblick auf die identifizierende Text- und Bildberichterstattung als grundsätzlich gleichwertig an.
Verkündet am 01.06.2021 …


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