Sozialrecht

Befreiung von der Rentenversicherungspflicht wegen Mitgliedschaft in der Bayerischen Landesapothekerkammer

Aktenzeichen  S 30 R 2159/15

Datum:
3.11.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VI SGB VI § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1

 

Leitsatz

1 Die Aufnahme einer Apothekerin in die Apothekerkammer und das ihr zugeordnete Versorgungswerk hat Tatbestandswirkung für die Entscheidung des Rentenversicherungsträgers über den Antrag auf Befreiung von der Rentenversicherungspflicht.  (redaktioneller Leitsatz)
2 Vom Rentenversicherungsträger muss aber geprüft werden, ob die Mitgliedschaft in einer entsprechenden berufsständischen Versorgungseinrichtung auf genau jener Beschäftigung oder selbstständigen Tätigkeit beruht, für die eine Befreiung von der Versicherungspflicht begehrt wird. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Beklagte wird unter Aufhebung der Bescheide vom 06.08.2014 und 10.11.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.10.2015 zur bescheidsmäßigen Befreiung der Klägerin von der Versicherungspflicht für ihre Beschäftigungen ab 01.10.2013 beziehungsweise ab 01.04.2014 verurteilt.
II. Die Beklagte hat der Klägerin ihre außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe

Die Klage wurde nach Durchführung des gesetzlich vorgeschriebenen Widerspruchsverfahrens form- und fristgerecht beim zuständigen Gericht erhoben und ist somit zulässig.
Sie ist auch begründet. § 6 Absatz 1 S. 1 Nr. 1 SGB IV gebietet auf Antrag die Befreiung derjenigen Beschäftigten und selbstständig Tätigen von der Versicherungspflicht, die wegen ihrer Beschäftigung oder selbstständigen Tätigkeit kraft Gesetzes Mitglied einer öffentlich-rechtlichen Versicherungs- oder Versorgungseinrichtung ihrer Berufsgruppe und zugleich kraft Gesetzes Mitglied einer berufsständischen Kammer sind.
Mit weiteren vorliegend unstrittigen Anforderungen hat der Gesetzgeber eine in den neunziger Jahren beobachtete Tendenz beschränkt, immer neuen Berufsgruppen durch Schaffung oder Ausweitung von Versorgungswerken außerhalb der Rentenversicherung die Befreiung hiervon zu ermöglichen.
Ein Rentenversicherungsträger hat sich bei der Prüfung einer kraft Gesetzes eintretenden Versicherungsfreiheit nach § 5 SGB VI und einer auf Antrag einzuräumenden Befreiung von der Versicherungspflicht nach § 6 SGB VI zunächst bei mehreren Varianten in hohem Maße an den Entscheidungen eines jeweils anderen Rechtsträgers zu orientieren. So hat der Rentenversicherungsträger keine Prüfungskompetenz über das für § 5 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 maßgebliche Beamtenverhältnis oder über die Rechtmäßigkeit der Gewährleistungsentscheidung nach § 6 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI.
Auch die Aufnahme einer Apothekerin in die Apothekerkammer und das ihr zugeordnete Versorgungswerk hat eine erhebliche Tatbestandswirkung. Der Rentenversicherungsträger darf und muss angesichts solcher Aufnahmeentscheidungen zunächst durchaus annehmen, dass es sich bei der entsprechenden Person um eine Apothekerin im apothekerlichen Beruf handelt. Gleichwohl ist vom Gesetz gedeckt und von der Rechtsprechung anerkannt, dass durch den Rentenversicherungsträger geprüft werden muss, ob die Mitgliedschaft in einer entsprechenden berufsständischen Versorgungseinrichtung auf genau jener Beschäftigung oder selbstständigen Tätigkeit beruht, für die eine Befreiung von der Versicherungspflicht begehrt wird. Eine solche Prüfung könnte im Einzelfall auch zu dem abweichenden Ergebnis führen, dass beispielsweise eine journalistische Tätigkeit in einer mit Fragen der gesundheitsbewussten Ernährung befassten Redaktion oder eine administrative Funktion in der Verwaltung eines Krankenhauses oder eine kommerzielle Tätigkeit im Zusammenhang mit Produktion und Bewerbung von Nahrungsergänzungsmitteln unter lediglich beiläufiger Nutzung pharmakologischer Kenntnisse ggfs. unter werbewirksamer Nutzung eines Doktortitels ohne berufsspezifischen Zusammenhang mit der zur Mitgliedschaft im Versorgungswerk führenden Berufsausübung bleibt.
In diesem Zusammenhang zu verstehen ist das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 08.09.2015 L 19 R 554/11, in dem es um einen Unternehmensberater ging, der Kenntnisse aus seinem studierten Beruf als Arzt naturgemäß in einer eher weitgefassten und unverbindlichen Ableitung „noch“ nutzen konnte.
Vorliegend ist jedoch mit ausreichender Deutlichkeit und unwidersprochen belegt, dass die Tätigkeitsbereiche der Klägerin sowohl ab 2013 in der Pharmakovigilanz als auch ab 2014 in der Arzneimittelzulassung durch eine streng wissenschaftliche Arbeitsweise gekennzeichnet sind und in größter Unmittelbarkeit dem pharmazeutischen Produkt, dem Heilmittel gewidmet sind. Die systematische Erfassung von Nebenwirkungen und Nebenwirkungsrisiken kann sowohl unter unmittelbar fachlichen als auch unter ethischen Aspekten nur ausgebildeten und geprüften Ärzten und selbstverständlich auch Apothekern anvertraut werden. Die Beklagte verkennt den Sachverhalt und ignoriert sorgfältiges Vorbringen, wenn sie die Klägerin im Bereich von Werbung und Vertrieb für Arzneimittel oder im Bereich von Management und Berichtswesen ansiedelt. Die Klägerin hat sorgfältig dargelegt, dass sie ausschließlich im Bereich der Forschung und Zulassung arbeitet und nicht einmal am Rande mit Verkauf oder interner Firmenorganisation befasst ist.
Die Beklagte legt viel zu großen Wert auf ein überkommenes apothekerliches Berufsbild, das nur den durch Zubereitung und persönliche Abgabe von Medikamenten an den Patienten charakterisierten Apotheker alter Schule kennen will. Wie bei der bis zur gesetzlichen Neuregelung gerichtlich zu prüfenden Fallgruppe der Befreiung von Rechtsanwälten bei nichtanwaltlichen Arbeitgebern zeigt der Blick auf die gesellschaftliche Wirklichkeit, dass die Zugrundelegung „klassischer“ Berufsbilder heute nicht mehr zu Ergebnissen ausreichender Schärfe führt. Die Pharmaindustrie ist, gerade weil sie sich wegen schwerer Fehlleistungen (Stichworte Contergan und HIV-infizierte Blutpräparate) im Kreuzfeuer öffentlicher Kritik behaupten muss, nicht einfach nur eine verkaufs- und gewinnorientierte kleine Schwester der Chemieindustrie, sondern ein breites Betätigungsfeld für höchst verantwortlich arbeitende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Das gleiche gilt für die der Pharmaindustrie zuarbeitenden Dienstleister im Bereich der Pharmakovigilanz und der Medikamentenzulassung. Bei genauerer Betrachtung ist die Arbeitsweise der Klägerin in Wirklichkeit sogar näher am „Produkt Medikament“ angesiedelt als heute der dem Publikum gegenübertretende Apotheker. Die Herstellung und Dosierung von Medikamenten findet bekanntlich heute so gut wie nicht mehr im Hinterzimmer der städtischen oder ländlichen Apotheke statt, sondern in der Fabrik und mithin im Arbeitsfeld der Klägerin. Die Arbeitsweise des klassischen Apothekers hat heute durchaus Anteile an der Arbeitsweise eines schlichten Verkäufers, der fertig konfigurierte und verpackte Produkte über die Theke reicht und genauso wie der Patient auf die Packungsbeilage vertrauen muss.
Die angegriffenen Bescheide betonen stark und schematisch, dass als Einstellungsvoraussetzung für die Klägerin nicht unbedingt ein abgeschlossenes pharmakologisches Studium verlangt wurde. Die Klägerin und die Landesärztekammer haben im Laufe des Verwaltungs- und Gerichtsverfahren jedoch deutlich genug herausgearbeitet, dass eine nicht näher bestimmte ersatzweise genügende Berufserfahrung im pharmazeutischen Umfeld ebenfalls von höchster Qualifikation sein müsste und kaum unterhalb eines abgeschlossenen medizinischen, tiermedizinischer oder pharmakologischen Studiums zu erreichen sein könnte. Ärzte wie auch Apotheker sind in entsprechenden Versorgungswerken erfasst und können die Befreiung von der Rentenversicherung beantragen. Es kann nicht angehen, Mediziner mit dem Hinweis auf ihre Ersetzbarkeit durch Pharmakologen und Pharmakologen mit dem Hinweis auf ihre Ersetzbarkeit durch Mediziner von der Befreiung auszuschließen. Insoweit wendet das Gericht den Rechtsgedanken des Urteils des bayerischen Landessozialgerichts vom 10.07.2014 mit dem Az. L 14 R 1207/13 an.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.


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