Sozialrecht

Befreiungen von baulichen Mindestanforderungen, Verlängerung der Angleichungsfrist, unsubstantiierter Vortrag zur wirtschaftlichen Unzumutbarkeit

Aktenzeichen  Au 3 K 18.896

Datum:
23.11.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 40100
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AVPfleWoqG § 50
AVPfleWoqG § 10

 

Leitsatz

Tenor

I. Das Verfahren wird eingestellt, soweit die Beteiligten den Rechtsstreit hinsichtlich der Zimmer mit den Nummern 610, 611 und 506 übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt erklärt haben.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens hat die Klägerin zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

A) Soweit die Klägerin eine Befreiung bzw. Verlängerung der Angleichungsfrist auch für das Zimmer Nr. 506 begehrt hat, hat sich der Rechtsstreit erledigt, weil dieser Raum als Ausweichraum benannt wurde. Insoweit war das Verfahren nach übereinstimmenden Erledigungserklärungen der Beteiligten analog § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen. Gleiches gilt für die beiden Einzelzimmer, da der Beklagte insoweit mit Bescheid vom 26. Oktober 2021 festgestellt hat, dass diese bereits die gesetzlichen Mindestvorgaben erreichen und weiterhin als Einzelzimmer genutzt werden dürfen. Vor diesem Hintergrund ist die unter anderem Aktenzeichen erfolgte Erledigungserklärung der Klägerin hinsichtlich der beiden Einzelzimmer bei sachgerechter Auslegung auch in diesem Verfahren zu berücksichtigen, weil die Klägerin insoweit keiner Befreiung bzw. Verlängerung der Angleichungsfrist mehr bedarf.
B) Im Übrigen ist die Klage, über die die Kammer mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden konnte (§ 101 Abs. 2 VwGO), zulässig, aber weder im Haupt- noch im Hilfsantrag begründet.
I. Der zuletzt gestellte Antrag der Klägerin ist dahingehend auszulegen (§ 88 VwGO), dass sie eine Befreiung bzw. Verlängerung der Angleichungsfrist nur noch für die Doppelzimmer mit den Nummern 404 bis 406, 408, 410, 412 bis 416, 419 bis 423 und 426, 504 bis 505, 508, 510, 512 bis 516, 519 bis 523 und 526 begehrt. Soweit die Klägerin in ihren Antrag zuletzt pauschal auch die Räume mit den Nummern 407, 409, 411, 417 bis 418, 424 und 425 einbezogen hat, handelt es sich um ein offenkundiges Versehen, weil für die Räume Nr. 417 und 418 ausweislich Ziff. I.3. des Bescheids des Beklagten vom 10. Mai 2017 bereits eine Befreiung erteilt worden ist und die übrigen Räume nicht Gegenstand der Ablehnung in Ziff. II.a) und auch nicht Gegenstand der Ablehnung im Bescheid des Beklagten vom 11. Mai 2017 waren.
II. In dem verbleibenden Umfang ist der Hauptantrag unbegründet.
1. Rechtsgrundlage für die begehrten Befreiungen von baulichen Mindestanforderungen ist § 50 Abs. 1 Satz 1 AVPfleWoqG. Danach kann die zuständige Behörde auf Antrag des Trägers ganz oder teilweise von der Verpflichtung befreien, wenn dem Träger einer stationären Einrichtung die Erfüllung der in §§ 1 bis 9 genannten Mindestanforderungen im Gebäudebestand technisch oder aus denkmalschutzrechtlichen Gründen nicht möglich oder aus wirtschaftlichen Gründen nicht zumutbar und die Befreiung mit den Interessen und Bedürfnissen der Bewohnerinnen und Bewohner vereinbar ist. Daran fehlt es hier.
2. Die Klägerin hat nicht hinreichend substantiiert dargelegt, dass ihr die Erfüllung der Anforderungen des § 4 Abs. 2 AVPfleWoqG wirtschaftlich unzumutbar ist. Die Darlegungs- und Beweislast für das Tatbestandsmerkmal der wirtschaftlichen Unzumutbarkeit liegt bei der Klägerin, die sich auf diesen ihr günstigen Umstand beruft. Um prüfen zu können, ob ihr die Einhaltung der gesetzlichen Mindestvorgaben tatsächlich wirtschaftlich unzumutbar ist, muss ein Vergleich der wirtschaftlichen Lage der Klägerin vor und nach der Erfüllung der gesetzlichen Mindestvorgaben vorgenommen werden. Hierzu sind seitens der Klägerin mindestens Angaben dazu erforderlich, welche Einnahmen sie derzeit erzielt und welche sie nach dem geänderten Belegungsmanagement erzielen würde, wobei hiervon die – bei einer reduzierten Belegung möglicherweise niedriger anzusetzenden – Ausgaben abzuziehen sind. Diese Angaben sind trotz richterlichen Hinweises unvollständig geblieben. Unabhängig davon, dass die Klägerin bei der von ihr mitgeteilten Einschätzung nicht nachvollziehbar von lediglich 15 entfallenden Plätzen ausgeht, obwohl zuletzt noch 31 Doppelzimmer in Streit standen, hat die Klägerin zwar den ihr im Falle einer geringeren Belegung entgehenden Umsatz aufgeschlüsselt, aber die damit verbundenen Auswirkungen auf die Ausgaben nicht hinreichend substantiiert dargelegt. Dies aber wäre notwendig gewesen, um sachgerecht beurteilen zu können, welche wirtschaftlichen Auswirkungen eine geringere Belegung (Nutzung der streitgegenständlichen Zimmer nur noch als Einzelzimmer) haben würde. Die Klägerin hat zwar ausgeführt, dass sie Kosten in Höhe von ca. 700.000 EUR einsparen müsste, um einen Betriebsverlust zu vermeiden, wobei ihr dies nur teilweise möglich sei. Eine konkrete Bezifferung der absenkbaren Kosten hat die Klägerin indes nicht vorgenommen und insoweit entscheidende Rechengrößen trotz richterlichen Hinweises nicht hinreichend substantiiert. Soweit sie vorträgt, hierzu seien ergänzende Informationen, beispielsweise des Bezirks im Hinblick auf die Investitionskosten, erforderlich, auf die sie keinen Zugriff habe, überzeugt dies die Kammer nicht. Jede Änderung des Belegungsmanagements birgt ein prognostisches Element, das Teil der wirtschaftlichen Kalkulation eines Pflegeheimes ist und sich auch unabhängig von den Anforderungen nach der AVPfleWoqG stellen kann, etwa, wenn das Konzept geändert wird. Zudem folgt aus der Argumentation der Klägerin, wonach sie die erforderlichen Informationen noch gar nicht habe ermitteln können, dass eine wirtschaftliche Unzumutbarkeit bislang nicht nachgewiesen, sondern reine Vermutung ist. Worauf sich diese Vermutung stützt, wurde ebenfalls nicht hinreichend substantiiert vorgetragen. Soweit die Klägerin sich darauf beruft, dass der Bezirk * einen Teil der von ihr genutzten Fläche nicht als betriebsnotwendig anerkenne und daraus den Schluss zieht, der Bezirk * erachte den aktuellen Zuschnitt der Einrichtung als unwirtschaftlich, substantiiert dies das Vorbringen der Klägerin nicht, sondern ersetzt lediglich die hierfür notwendige Bezifferung durch die vermeintliche Wertung eines nichtverfahrensbeteiligten Dritten.
III. Auch der Hilfsantrag bleibt ohne Erfolg. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Verlängerung der Angleichungsfrist.
1. Rechtsgrundlage für die hilfsweise beantragte Verlängerung der Angleichungsfrist ist § 10 Abs. 1 Satz 2 AVPfleWoqG. Danach kann die zuständige Behörde auf Antrag längere angemessene Fristen zur Angleichung an die einzelnen Anforderungen einräumen.
2. Der Ablehnungsbescheid vom 11. Mai 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26. April 2018 begegnet keinen rechtlichen Bedenken, da mangels substantiieren Antrags bereits die Tatbestandsvoraussetzungen nicht erfüllt sind. Sinn und Zweck der in § 10 Abs. 1 Satz 2 AVPfleWoqG vorgesehenen Angleichungsfrist ist es, dem Träger eine Angleichung an die gesetzlichen Vorgaben zu ermöglichen. Der Normtelos ist mithin – anders als bei der Befreiung nach § 50 AVPfleWoqG, die den Träger grundsätzlich dauerhaft von der Einhaltung der gesetzlichen Anforderungen dispensiert – darauf gerichtet, den Träger lediglich vorübergehend von seiner Angleichungspflicht freizustellen, um ihm während dieser Zeit die Möglichkeit zu geben, die notwendigen Angleichungsmaßnahmen vorzubereiten. Die Gewährung einer Angleichungsfrist kommt deshalb nur dann in Betracht, wenn bei deren Ablauf die gesetzlichen Anforderungen erreicht worden sein sollen. Der Träger muss folglich einen detaillierten Zeitplan vorlegen, aus dem sich ergibt, welche Maßnahmen zur Angleichung er innerhalb welcher Frist durchführen will. Nur so kann die Behörde prüfen, ob und in welchem Umfang eine Angleichungsfrist zu gewähren ist, um eine Angleichung an die einzelnen Anforderungen zu erreichen. Diese Angaben sind seitens der Klägerin nicht erfolgt. Aus ihrem Antrag vom 29. August 2016 und den weiteren Ausführungen im gerichtlichen Verfahren wird vielmehr deutlich, dass sie nicht eine Angleichung an die gesetzlichen Vorgaben, sondern nur die – auf das Ende des Pachtvertrages befristete – Befreiung davon anstrebt. Im Gegensatz zur Befreiung ist die Angleichung – wie oben ausgeführt – darauf gerichtet, das gesetzliche Ziel zu einem bestimmten Zeitpunkt zu erreichen. Diese Absicht ist von der Klägerin gerade nicht vorgetragen. Stattdessen hat sie zunächst pauschal die maximale Verlängerung und zuletzt die Verlängerung bis zum Jahr 2030 – dem Ende des Pachtvertrages – beantragt. Inwieweit dadurch eine Angleichung an die gesetzlichen Vorgaben der Raumgröße erreicht werden und warum hierfür gerade der beantragte Zeitraum erforderlich sein soll, ist weder vorgetragen noch ersichtlich.
Vor diesem Hintergrund kommt es auf die von der Klägerin geltend gemachten Ermessensfehler nicht an, weil mangels eines hinreichend substantiierten Antrags bereits die Tatbestandsvoraussetzungen von § 10 Abs. 1 Satz 2 AVPfleWoqG nicht vorliegen. Es handelt sich der Sache nach nicht um einen Antrag auf Verlängerung der Angleichungsfrist, sondern um einen Antrag auf Erteilung befristeter Befreiungen von der baulichen Mindestanforderung des § 4 Abs. 2 AVPfleWoqG für Wohnplätze für zwei Personen.
Im Übrigen hat der Beklagte der Klägerin mit Bescheid vom 12. Mai 2017 inzident auflösend bedingte Befreiungen von der genannten baulichen Mindestanforderung gewährt, da dort nicht die sofortige Reduzierung der Belegungszahl gefordert, sondern eine schrittweise Reduzierung nach dem jeweiligen Auszug bzw. Ableben der Bewohnerinnen und Bewohner ermöglicht wird.
IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Soweit die Beteiligten den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt haben, war über die Kosten gemäß § 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO nach billigem Ermessen zu entscheiden. Billigem Ermessen entsprach es vorliegend, der Klägerin trotz Abhilfe durch den Beklagten die Kosten auch für den insoweit erledigten Teil des Verfahrens aufzuerlegen. Dabei war entsprechend § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO zu berücksichtigen, dass die Abhilfe des Beklagten nur einen geringen Teil des Rechtsstreits erfasst hat und die Klägerin im Übrigen unterlegen ist.
V. Die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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