Sozialrecht

Kostenheranziehung für Hilfe zur Erziehung bei Behinderung des Kindes

Aktenzeichen  W 3 K 18.646

Datum:
17.1.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 1510
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VIII § 32, § 35a, § 91
AGBGB Art. 71
BGB §§ 195 ff.

 

Leitsatz

1. Wird für ein wegen eines frühkindlichen Autismus seelisch behindertes Kind Hilfe zur Erziehung für den Besuch der Heilpädagogischen Tagesstätte erbracht, so ist für diese Hilfe wie für die Eingliederungshilfeleistung Schulbegleitung der örtliche Träger der Jugendhilfe sachlich zuständig.  (Rn. 21 – 20) (redaktioneller Leitsatz)
2. Auch wenn die Kosten für den Besuch einer heilpädagogischen Tagesstätte eines seelisch behinderten Kindes im Rahmen der Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII übernommen werden, müssen die Eltern gemäß § 91 Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII einen Kostenbeitrag leisten. Eine besondere Härte im Sinne des § 92 Abs. 5 SGB VIII ist nicht erkennbar, da eine vom Gesetzgeber gewollte Belastung, die aufgrund gesetzlicher Regelung eine Vielzahl von Einzelfällen betrifft, in der Regel keine besondere Härte im Einzelfall darstellt.  (Rn. 22 – 23) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Leistungsbescheid des Beklagten vom 7. Mai 2018 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Der Beklagte leistet für den Sohn F … des Klägers seit dem 13. Dezember 2011 Hilfe zur Erziehung nach § 32 des Achten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VIII). Hierfür wurden entsprechende Bewilligungsbescheide (7.9.2011, 19.9.2013, 15.1.2018) erlassen und dem Kläger jeweils zugestellt. Die entsprechenden Bewilligungsbescheide sind bestandskräftig.
Gemäß § 91 Abs. 2 Nr. 2 SGB VIII werden zu teilstationären Leistungen im Rahmen der Hilfe zur Erziehung in einer Tagesgruppe nach § 32 SGB VIII Kostenbeiträge erhoben. Die Heranziehung erfolgt durch Erhebung eines Kostenbeitrags, der durch Leistungsbescheid festgesetzt wird. Elternteile werden getrennt herangezogen (§ 92 Abs. 2 SGB VIII).
Ob im Rahmen der Erhebung eines Kostenbeitrags eine Inzidentprüfung der Rechtmäßigkeit der zugrundeliegenden Maßnahme zu erfolgen hat, ist in Rechtsprechung und Literatur umstritten. Teilweise wird vertreten, eine derartige Überprüfung der Rechtmäßigkeit müsse nie stattfinden (vgl. VG München, U.v. 12.11.2003 – M 18 K 02.3435 – juris). Im Gegensatz dazu gibt es Rechtsprechung, die in jedem Fall eine derartige Inzidentprüfung fordert (vgl. VG Ansbach, B.v. 27.6.2006 – AN 14 K 05.04505 – juris). Im Wege einer vermittelnden Ansicht wird argumentiert, eine Inzidentprüfung komme (nur) dann in Betracht, wenn der Verpflichtete am jugendhilferechtlichen Bewilligungsverfahren nicht beteiligt gewesen sei. Denn in dieser Konstellation habe er nicht die Möglichkeit gehabt, gegen die zugrundeliegenden Entscheidungen Rechtsbehelfe einzulegen. Wenn er dennoch die Kosten rechtswidrigen Verwaltungshandelns tragen müsste, verstieße dies gegen Art. 19 Abs. 4 GG (vgl. hierzu OVG Lüneburg, B.v. 27.8.2018 – 10 LA 7/18 -; VG Hannover, U.v. 14.12.2017 – 3 A 5368/15 -; VGH BW, U.v. 17.3.2011 – 12 S 2823/08 – alle: juris).
Grundsätzlich spricht aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit und des effektiven Rechtsschutzes tatsächlich einiges dafür, dem Beitragspflichtigen die Möglichkeit einer Überprüfung der Maßnahme dann zu eröffnen, wenn er bei Gewährung der Hilfe rechtlich oder tatsächlich nicht in der Lage gewesen ist, Rechtsbehelfe hiergegen einzulegen. Nur so kann vermieden werden, dass es zur unverschuldeten Heranziehung von Kostenbeiträgen bei Erbringung einer rechtswidrigen Maßnahme kommt.
Vorliegend war der Kläger von Beginn an am Verfahren beteiligt. Er hat entsprechende Anträge auf Übernahme der Kosten für die Heilpädagogische Tagesstätte gestellt und letztlich gegen die Bewilligungsbescheide über die Gewährung von Hilfe zur Erziehung keine Rechtsbehelfe ergriffen. Eine im Rahmen des Verfahrens W 3 K 11.76 erhobene Feststellungsklage wurde später wieder zurückgenommen.
Nach Aktenlage wird aber auch die „richtige Hilfe“ vom sachlich zuständigen Träger gewährt. Die Gewährung von Hilfe zur Erziehung nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch hat grundsätzlich durch den örtlichen Träger der Jugendhilfe zu erfolgen, dies ist der Beklagte.
Soweit der Kläger die Auffassung vertritt, dass anstelle der Hilfe zur Erziehung für den Besuch der Heilpädagogischen Tagesstätte Eingliederungshilfe zu gewähren wäre, ergäbe sich für diese Hilfe ebenfalls – wie für die Eingliederungshilfeleistung Schulbegleitung – die Zuständigkeit des Beklagten. Nach den bei den Akten befindlichen ärztlichen Gutachten ist sowohl die Schulbegleitung als auch der Besuch der Heilpädagogischen Tagesstätte nicht wegen der beim dem Sohn des Klägers vorliegenden Körperbehinderung (Hörbehinderung) erforderlich, sondern wegen des bei F … vorliegenden frühkindlichen Autismus und den damit verbundenen Beeinträchtigungen. F … ist nach den vorliegenden ärztlichen Gutachten dem Personenkreis der seelisch behinderten oder von einer seelischen Behinderung bedrohten Personen zuzuordnen. Für diesen Personenkreis ist Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII und nicht nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch zu gewähren. Der sachlich hierfür zuständige Träger ist ebenfalls der Beklagte. Auch wenn die Kosten für die Heilpädagogische Tagesstätte im Rahmen der Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII übernommen worden wären, müssten die Eltern gemäß § 91 Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII einen Kostenbeitrag leisten.
Eine besondere Härte im Sinne des § 92 Abs. 5 SGB VIII ist nicht erkennbar. Nach dieser Vorschrift kann von der Heranziehung zu einem Kostenbeitrag abgesehen werden, wenn sich aus der Heranziehung eine besondere Härte ergeben würde. Der Begriff der besonderen Härte ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, welcher einer vollen verwaltungsgerichtlichen Überprüfung unterliegt und setzt voraus, dass eine atypische Situation des Kostenschuldners nicht ausreichend im Rahmen der Ermittlung des Kostenbeitrags berücksichtigt werden kann. Dabei ist davon auszugehen, dass eine vom Gesetzgeber gewollte Belastung, die aufgrund gesetzlicher Regelung eine Vielzahl von Einzelfällen betrifft, in der Regel keine besondere Härte im Einzelfall darstellt, weil sie schon nicht den Leitvorstellungen, die den § 91 ff. SGB VIII zugrunde liegen, widerspricht (BayVGH, U.v. 24.6.2010 – 12 BV 09.2527 – FamRZ 2011, 331). Die Heranziehung der Eltern zu einem Kostenbeitrag im Falle des Besuches einer teilstationären Einrichtung durch das Kind ist im Rahmen des SGB VIII aber der Regelfall.
Der Kläger wurde über die Kostenbeitragspflicht und die Folgen für seine Unterhaltspflicht gegenüber dem jungen Menschen aufgeklärt (§ 92 Abs. 3 SGB VIII).
Der Kostenbeitrag ist auch nicht verjährt bzw. erloschen.
Hinsichtlich der Verjährung von Kostenbeitragsansprüchen nach §§ 91 ff. SGB VIII ist im Sozialgesetzbuch gesetzlich nichts geregelt. Somit ist auf den Kostenerstattungsanspruch grundsätzlich § 195 BGB entsprechend anwendbar (Kunkel/Kepert in LPK-SGB VIII, § 92 Rn. 14; Stähr in Hauck/Noftz § 92 SGB VIII Rn. 15). Für Bayern bestimmt die landesrechtliche Regelung des Art. 71 Abs. 1 Satz 1 AGBGB, dass die auf eine Geldzahlung gerichteten öffentlich-rechtlichen Ansprüche des Freistaates Bayern, einer bayerischen Gemeinde oder eines bayerischen Gemeindeverbandes in drei Jahren erlöschen, soweit nichts anderes bestimmt ist. Art. 71 AGBGB gilt für alle aus Rechtsverhältnissen des öffentlichen Rechts entstandenen Ansprüche, gleichgültig, ob sie auf Landesrecht, Reichsrecht oder Bundesrecht beruhen (BayVGH, B.v. 20.10.2003 – 12 B 02.2612 – juris Rn. 16 f. unter Verweis auf BayVGH, U.v. 29.9.2000 – 12 B 98.3649 – juris). Eine Regelung, die wie Art. 71 AGBGB die Auswirkungen des Zeitablaufs auf öffentlich-rechtliche Ansprüche betrifft, stellt regelmäßig nur einen Annex zu dem Sachgebiet dar, dem der jeweils betreffende Anspruch entspringt. Sie findet dann Anwendung, wenn der für den einschlägigen Regelungsbereich zuständige Gesetzgeber diese Frage nicht abschließend geregelt hat. In Ermangelung spezieller Verjährungsvorschriften gilt üblicherweise die regelmäßige Verjährungsfrist des Bürgerlichen Gesetzbuches. Hier geht jedoch Art. 71 AGBGB als speziellere Vorschrift vor (BayVGH, U.v. 26.11.2008 – 3 BV 07.1268 – juris Rn. 18). Die Regelungen des Art. 71 AGBGB stimmen hinsichtlich Beginn und Dauer mit den Regelungen über die Verjährung nach §§ 195, 199 Abs. 1 BGB überein (vgl. BVerwG, B.v. 20.8.2009 – 2 B 24/09 – juris Rn. 6).
Der Anspruch auf Leistung eines Kostenbeitrages durch den Kläger ist nicht nach Art. 71 AGBGB erloschen. Nach Art. 71 Abs. 1 Satz 2 AGBGB beginnt die Frist mit dem Schluss des Jahres, in dem der Berechtigte von den den Anspruch begründenden Umständen und der Person des Verpflichteten Kenntnis erlangt oder ohne grobe Fahrlässigkeit erlangen müsste, jedoch nicht vor dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist. Vorliegend hatte der Beklagte erst Anfang des Jahres 2018 Kenntnis von den „den Anspruch begründenden Umständen“, sprich den Einkommensverhältnissen des Klägers, die der Kostenbeitragsberechnung zugrunde liegen. Die Kenntnis über die anspruchsbegründenden Tatsachen hat der Beklagte nicht infolge grober Fahrlässigkeit erst im Jahre 2018 erlangt. Vielmehr hat der Kläger auf entsprechende Aufforderungen des Beklagten (Schreiben vom 29.9.2011, 23.12.2013 und 5.3.2018) nicht reagiert, obwohl er die entsprechenden Schreiben nach eigenem Vorbringen erhalten hat. Vielmehr hat der Kläger eine Auskunftserteilung aktiv verweigert und die Einkommensverhältnisse mussten vom Beklagten (durch Anfragen beim Arbeitgeber und den Sozialbehörden) ermittelt werden. Somit beginnt die Erlöschensfrist erst mit Ablauf des Jahres 2018 zu laufen. Im Zeitpunkt der Geltendmachung des Kostenbeitrages (7.5.2018) war der Anspruch nicht erloschen. Gleiches würde sich ergeben, wenn man anstelle des Art. 71 AGBGB die Vorschriften der §§ 195, 199 Abs. 1 BGB anwenden würde. Auch nach § 199 Abs. 1 BGB beginnt die Verjährungsfrist erst mit dem Schluss des Jahres, in dem der Gläubiger von den den Anspruch begründenden Umständen Kenntnis erlangt hat.
Ebenso wenig kann von einer Verwirkung des Kostenbeitrags ausgegangen werden. Das im Bürgerlichen Recht als Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben (§ 242) entwickelte Rechtsinstitut der Verwirkung ist ebenso im Sozialrecht anerkannt. Eine Verwirkung eines Anspruchs tritt unter der Voraussetzung ein, dass der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten darauf vertrauen durfte, dass dieser das Recht nach so langer Zeit nicht mehr geltend machen werde. Nach ständiger Rechtsprechung (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 28.11.1990 – 3 CB 40/90 – juris) darf ein Recht nicht mehr ausgeübt werden, wenn seit der Möglichkeit seiner Geltendmachung längere Zeit verstrichen ist (Zeitmoment) und wenn besondere Umstände hinzutreten, die eine verspätete Geltendmachung als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen lassen (Umstandsmoment). In der Rechtsprechung ist insbesondere anerkannt, dass sich aus der bloßen Untätigkeit einer Behörde keine Verwirkung eines Anspruchs ergeben kann. Vielmehr ist hierzu ein konkretes Verhalten des Gläubigers erforderlich, aus dem der Schluss gezogen werden kann, dass dieser von seinem Recht keinen Gebrauch mehr machen werde (vgl. BayVGH, U.v. 6.7.2005 – 12 B 01.1042 – juris Rn. 11; OVG Hamburg, U.v. 3.12.2008 – 5 Bv 259/06 – juris Rn. 33; VG Ansbach, U.v. 14.7.2011 – AN 14 K 10.00614 – juris Rn. 40). Auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass der Beklagte in den Jahren 2014 bis 2017 keine weiteren Schritte (z.B. zwangsweise Durchsetzung der Auskunftspflicht) unternommen hat, die Einkommensverhältnisse des Klägers zu ermitteln, fehlt jedenfalls das Umstandsmoment. Der Kläger war auf die Verpflichtung zur Leistung des Kostenbeitrags hingewiesen worden. Er hat eine entsprechende Bestätigung unterschrieben. Er hat die angeforderten Auskünfte nicht erteilt. Im Übrigen dürfte die „Untätigkeit“ des Beklagten nicht zuletzt auf diverse gerichtliche Verfahren zurück zu führen sein, die der Kläger in der Absicht angestrengt hatte, eine Kostentragungspflicht des überörtlichen Trägers (Bezirk Unterfranken) herbeizuführen.
Nachdem sich der Bescheid vom 7. Mai 2018 als rechtmäßig erweist, konnte die Klage keinen Erfolg haben und war mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1, § 188 Satz 2, 1. Halbsatz VwGO abzuweisen.


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