Sozialrecht

L 5 SB 1045/21 B

Aktenzeichen  L 5 SB 1045/21 B

Datum:
19.4.2022
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Thüringer Landessozialgericht 5. Senat
Dokumenttyp:
Beschluss
ECLI:
ECLI:DE:LSGTH:2022:0419.L5SB1045.21B.00
Spruchkörper:
undefined

Leitsatz

1. Die Möglichkeit, eine (nachträgliche) Gesundheitsverschlechterung im Rahmen des Verfahrens gegen den eine GdB-Erhöhung versagenden Bescheid geltend zu machen, entfällt nicht durch die bloße Möglichkeit eines entsprechenden Neufeststellungsverfahrens.2. Beide Verfahren sind eigenständig und schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern ergänzen sich funktions- und bereichsspezifisch (vgl. BSG, Urteil vom 24. September 2020 – B 9 SB 4/19 R – Rdnr. 26).3. Dementsprechend darf die Gewährung von Prozesskostenhilfe für ein Verfahren gegen den eine GdB-Erhöhrung ablehnenden Bescheid nicht mit der Begründung versagt werden, die nachträgliche Gesundheitsverschlechterung könne außergerichtlich in einem Neufeststellungsverfahren geltend gemacht werden.4. Zum Anspruch auf Prozesskostenhilfe, wenn das Gericht Prozesskostenhilfe ablehnt und „im selben Atemzug“ die Einholung eines Sachverständigengutachtens nach § 106 SGG anordnet.

Verfahrensgang

vorgehend SG Gotha, 15. November 2021, S 3 SB 2372/20, Beschluss

Tenor

Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Sozialgerichts Gotha vom 15. November 2021 aufgehoben.
Dem Kläger wird für das Verfahren vor dem Sozialgericht Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung und ohne Einsatz von Vermögen bewilligt. Zur Wahrnehmung seiner Rechte wird ihm … beigeordnet.
Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe

I.
Die Beschwerde richtet sich gegen einen Beschluss, mit dem das Sozialgericht die Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt hat. Im zugrundeliegenden Verfahren begehrt der Kläger einen höheren als den vom Beklagten zuerkannten Grad der Behinderung (GdB) sowie die Feststellung der Voraussetzungen einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr. Nach Erlass der ablehnenden Entscheidung hat das Sozialgericht mit Beweisanordnung vom 17. Dezember 2021 den Sachverständigen N nach § 106 Sozialgerichtsgesetz (SGG) mit der Erstattung eines orthopädischen Gutachtens über den Kläger beauftragt.
Gleichwohl hat es die Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt und zur Begründung ausgeführt, es könne dahingestellt bleiben, ob die Klage hinreichende Erfolgsaussichten habe. Die im Hinblick auf einen orthopädischen Befundbericht vom 25. Oktober 2021 geltend gemachte Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Klägers sei erst im Laufe des Klageverfahrens eingetreten. Die Verschlechterung des Gesundheitszustandes könne auch im Rahmen eines Neufeststellungsverfahrens geltend gemacht werden, daher sei für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe kein Raum.
Gegen den am 16. November 2021 zugestellten Beschluss richtet sich die Beschwerde des Klägers, die am 16. Dezember 2021 beim Landessozialgericht eingegangen ist und mit der der Kläger die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und die Bewilligung von Prozesskostenhilfe begehrt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten sowie auf das vom Sozialgericht übersandte Retent verwiesen. Die Verfahrensakten befinden sich beim Sachverständigen.
II.
Die nach § 172 Abs. 1 SGG statthafte und auch im Übrigen zulässige Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg. Das Sozialgericht hätte angesichts des Umstandes, dass zur Sachaufklärung die Einholung eines Gutachtens angeordnet wurde, die Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung bejahen müssen. Sofern anhand der bei den Akten befindlichen Gutachten und Befundberichte keine hinreichenden Erfolgsaussichten erkennbar sind, hätte es den Antrag aus diesem Grund ablehnen müssen. Die Einholung eines Gutachtens rechtfertigt die Annahme einer hinreichenden Erfolgsaussicht.
Der Kläger ist auch nicht darauf zu verweisen, bei dem Beklagten einen Neufeststellungsantrag anzubringen. Die Möglichkeit, eine (nachträgliche) Gesundheitsverschlechterung im Rahmen des Verfahrens gegen den eine GdB-Erhöhung versagenden Bescheid geltend zu machen, entfällt nicht durch die bloße Möglichkeit eines entsprechenden Neufeststellungsverfahrens. Denn beide Verfahren sind eigenständig: Das mit der Erhebung des Widerspruchs in Gang gesetzte Vorverfahren nach §§ 78 SGG und sich ggf. anschließendem Gerichtsverfahren einerseits und das mit einem Neufeststellungsantrag eingeleitete Neufeststellungsverfahren nach § 152 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) i. V. m. § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) als Verwaltungsverfahren nach §§ 8 ff. SGB X andererseits. Sie schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern ergänzen sich funktions- und bereichsspezifisch (vgl. Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 24. September 2020, Az.: B 9 SB 4/19 R, Rn. 26).
Im Übrigen wäre es dem Beklagten unbenommen gewesen, aufgrund des neuen Befundberichts ein (Teil-) Anerkenntnis abzugeben. Dies hat er nicht getan. Vielmehr ergibt sich aus der Tatsache, dass nach Vorlage des Befundberichts die Einholung eines Gutachtens angeordnet wurde, dass der Beklagte den Kläger gerade nicht klaglos gestellt, sondern vielmehr an seiner ablehnenden Entscheidung festgehalten hat. Etwas anderes wäre auch im Rahmen eines Neufeststellungsverfahrens nicht zu erwarten gewesen, sodass der Kläger gezwungen wäre, ein weiteres Widerspruchs- und Klageverfahren zu führen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 127 Abs. 4 Zivilprozessordnung (ZPO).
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).


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