Sozialrecht

Übernahme von Fahrtkosten für den Schulbesuch eines Behinderten als Leistung der Eingliederungshilfe

Aktenzeichen  L 18 SO 249/17

Datum:
12.7.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 27848
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
EinglhV § 12 Nr. 1
SGB XII § 19 Abs. 3
SGB XII § 53 Abs. 1 S. 1
SGB XII § 54 Abs. 1 S. 1 Nr. 1
SGB XII § 92 Abs. 2 S. 1 Nr. 2

 

Leitsatz

1. Als Eingliederungshilfemaßnahme in Betracht kommen grundsätzlich alle Maßnahmen, die im Zusammenhang mit der Ermöglichung einer geeigneten Schulbildung erforderlich sind, um die Behinderungsfolgen zu beseitigen oder zu mindern und so das im Gesetz formulierte Ziel der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu erreichen.
2. Die Übernahme von Fahrtkosten als Eingliederungshilfemaßnahme setzt aber eine Prüfung der Erforderlichkeit im konkreten Fall voraus. Der Fahrtkostenaufwand kann z.B. dann nicht erforderlich sein, wenn es andere wohnsitznähere geeignete Einrichtungen gibt, die eine angemessene Schulbildung sicherstellen, wenn der Fahrtkostenaufwand nicht behinderungsbedingt ist und wen es ein besseres, “geeigneteres” Mittel – etwa die Bewilligung eines Schulwegbegleiters – gibt, um die Erfüllung der Zwecke der Eingliederungshilfe zu erreichen.
3. Bei Fehlen der konkreten Erforderlichkeit ist eine Übernahme der Fahrtkosten auch nicht als “Annexleistung” zu sonstigen Eingliederungshilfemaßnahmen geboten.

Verfahrensgang

S 5 SO 114/17 2017-09-11 Urt SGNUERNBERG SG Nürnberg

Tenor

I. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 11.09.2017 aufgehoben und die Klage gegen den Bescheid vom 23.03.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.07.2017 abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.

Gründe

Die gemäß § 151 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) form- und fristgerecht eingelegte und auch ansonsten zulässige Berufung des Beklagten ist begründet.
Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid des Beklagten vom 23.03.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11.07.2017, mit dem der Beklagte den Antrag vom 28.09.2016 auf Übernahme der Beförderungskosten vom Hort zur Heimatadresse abgelehnt hat. Streitgegenstand ist ausweislich des erstinstanzlich gestellten Antrags des Klägers die endgültige Bewilligung der vom Beklagten vorläufig bewilligten Fahrtkosten für die Zeit vom 16.12.2016 bis 31.08.2018 (Ende des Schuljahres 2018). Begehrt werden nur die Kosten für die Fahrten von JH zum Wohnsitz des Klägers, Kosten für den Schulweg von zu Hause zu J sind nicht Gegenstand dieses Rechtsstreits (§ 123 SGG). Dies wurde in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat klägerseits nochmals ausdrücklich erklärt und ergibt sich im Übrigen aus dem erwähnten erstinstanzlich gestellten Antrag. Der Kläger verfolgt sein auf Übernahme von Beförderungskosten gerichtetes Begehren mit einer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und 4 SGG).
Der beklagte Bezirk Mittelfranken ist richtiger Gegner des Verfahrens. Er ist sachlich und örtlich zuständiger Träger für die sozialhilferechtliche Eingliederungshilfe (§ 97 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 1, § 98 Abs. 1 Satz 1 SGB XII i.V.m. § 3 Abs. 2 Satz 1 SGB XII, Art. 82 Abs. 1 Gesetz zur Ausführung der Sozialgesetze – AGSG – vom 08.12.2006).
Rechtsgrundlagen des klägerischen Begehrens auf Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung in Form der Gewährung von Schülerbeförderungskosten für die Zeit vom 16.12.2016 bis 31.08.2018 sind § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII (in der Fassung vom 27.12.2003), § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII (in der Fassung vom 23.12.2016) und § 12 Nr. 1 EinglHV (in der Fassung vom 27.12.2003) i.V.m. § 92 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB XII (in der Fassung des Gesetzes vom 24.03.2011) i.V.m. § 19 Abs. 3 SGB XII (in der Fassung in der Fassung vom 24.03.2011).
Danach erhalten Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 des Neunten Buches wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann (§ 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII). Leistungen der Eingliederungshilfe sind neben den Leistungen nach § 140 und neben den Leistungen nach den §§ 26 und 55 des Neunten Buches in der am 31. Dezember 2017 geltenden Fassung insbesondere Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung, insbesondere im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht und zum Besuch weiterführender Schulen einschließlich der Vorbereitung hierzu; die Bestimmungen über die Ermöglichung der Schulbildung im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht bleiben unberührt (§ 54 Abs. 1 Nr. 1 SGB XII). Die Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung umfasst auch heilpädagogische und sonstige Maßnahmen zugunsten körperlich und geistig behinderter Kinder und Jugendlicher, wenn die Maßnahmen erforderlich und geeignet sind, dem behinderten Menschen den Schulbesuch im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht zu ermöglichen oder zu erleichtern (§ 12 Nr. 1 Eingliederungshilfeverordnung – EinglhV -).
I.
Der Kläger erfüllt die personenbezogenen Voraussetzungen des § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII, was zwischen den Beteiligten auch unstreitig ist. Er gehört zu den Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX) wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt sind bzw. von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind und hat – was zwischen den Beteiligten ebenfalls unstreitig ist – dem Grunde nach Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe gemäß den §§ 53, 54 SGB XII. Die Beförderung durch einen Behindertenfahrdienst, um deren Kosten es vorliegend geht, war individuell geeignet, dem Kläger den Besuch von J und JH zu ermöglichen. Ein Einsatz von Einkommen und Vermögen der Eltern ist im Rahmen der hier streitigen Hilfe zur angemessenen Schulbildung nicht zu prüfen (§ 92 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII). Bei dem Besuch von J handelt es sich auch um eine angemessene Schulbildung im Sinne des § 12 EinglhV (vgl. zur angemessenen Schulbildung BSG vom 23.08.2012, B 8 SO 10/12 R juris Rn 21; vom 22.03.2012, B 8 SO 30/10 R juris Rn 21; zur angemessenen Schulbildung auch LSG Baden-Württemberg vom 29.06.2017, L 7 SO 5382/14 juris Rn 23; zum Verhältnis von pädagogischer Arbeit und Leistungen der Sozialhilfe BSG vom 15.11.2012, B 8 SO 10/11 R juris Rn 16 f). Mit Blick auf das Ganztagsangebot der J mit reformpädagogischem Konzept (vgl. dazu Schreiben der J vom 06.05.2014; https://www…org/) hat der Senat keine Zweifel, dass auch der Besuch des JH als Teil einer angemessenen Schulbildung im Sinne des § 12 EinglhV fungiert.
II.
Die dem vorliegenden Berufungsverfahren zugrunde liegende Klage war nicht schon deshalb unbegründet, weil der Beklagte die Schulbewegbegleitung abgelehnt hatte. Streit- und verfahrensgegenständlich ist vorliegend, wie ausgeführt, die vom Beklagten abgelehnte Bewilligung der Fahrtkosten zur Beförderung des Klägers von JH nach Hause als Leistung der Eingliederungshilfe für den Zeitraum ab 13.09.2016 (Regelungsgegenstand des verfahrensgegenständlichen Bescheids vom 23.03.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11.07.2017). Mit Bescheid vom 08.07.2015 (für die Schulbegleitung abgeändert mit Bescheid vom 15.09.2016, Widerspruchsbescheid vom 22.10.2015) hatte der Beklagte lediglich den Antrag auf Schulbewegbegleitung abgelehnt. Obwohl die genannten Bescheide (unter anderem) jeweils auf Hilfeleistungen abzielen, die den Schulweg betreffen, handelt es sich um verschiedene Maßnahmen der Eingliederungshilfe und damit auch um verschiedene Regelungen im Sinne des § 31 SGB X. Die mit Rücknahme der Klage im Verfahren S 5 SO 206/15 eingetretene Bestandskraft des Bescheides vom 08.07.2015 stand mithin einem Erfolg der vorliegenden Klage nicht entgegen. Entsprechendes gilt für den Bescheid vom 24.03.2017. Der Bescheid betraf nur den Schulweg, also den Weg zu J; ferner ging es auch hier um Leistungen für das Schulwegtraining im Sinne einer Schulwegbegleitung und nicht um die hier streitigen Beförderungskosten. Im Übrigen hatte der Kläger mit Schreiben vom 28.09.2016 die Kostenübernahme für die tägliche Beförderung durch einen Behindertenfahrdienst von JH nach Hause für die Zeit ab dem 13.09.2016 neu beantragt, so dass insofern auch eine neue, rechtsbehelfsfähige Entscheidung des Beklagten zu treffen war, die mit den hier verfahrensgegenständlichen Bescheiden vorliegt.
III.
Die Klage war aber unbegründet, weil die Übernahme der Fahrtkosten von JH nach Hause nicht erforderlich war, so dass dem Kläger kein Anspruch auf Übernahme der Fahrtkosten zusteht.
1. Bei der Prüfung der Erforderlichkeit gelten folgende Grundsätze: Durchzuführen ist eine Prüfung der Erforderlichkeit in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung aller Umstände des konkreten Falles (konkrete Erforderlichkeit). Denn dem Merkmal der Erforderlichkeit liegt ein individualisiertes Förderverständnis zugrunde, das eine am Einzelfall orientierte, individuelle Beurteilung verlangt (vgl. BSGE 110, 301 = SozR 4-3500 § 54 Nr. 8 jeweils Rn 21; BSG SozR 4-1500 § 130 Nr. 4 Rn 18; BSG SozR 4-3500 § 53 Nr. 5 Rn 26). In Betracht kommen grundsätzlich alle Maßnahmen, die im Zusammenhang mit der Ermöglichung einer geeigneten Schulbildung geeignet und erforderlich sind, die Behinderungsfolgen zu beseitigen oder zu mindern und so das im Gesetz formulierte Ziel der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu erreichen (vgl. Voelzke in Hauck/Noftz, SGB XII, 19. Erg.-Lfg. II/10, § 54 SGB XII Rn. 41, 44). Eine Eingliederungshilfemaßnahme ist erforderlich, wenn sie aufgrund der Behinderung im konkreten Fall geboten ist. Die Prüfung der Erforderlichkeit setzt voraus, dass die begehrte Maßnahme nicht alternativlos ist, d.h., dass es mehrere geeignete Maßnahmen gibt. Besteht nur eine geeignete Maßnahme, ist diese denknotwendig auch erforderlich, eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit kann dann nur noch auf der Stufe der Angemessenheit erfolgen (vgl. zur gestuften Verhältnismäßigkeitsprüfung statt vieler Tammen in Berlit / Conradis / Sartorius, Existenzsicherungsrecht, 2. Aufl. 2013, Kap. 14 Rn 16 ff).
2. Dies zugrunde gelegt ist die Übernahme der Kosten der Beförderung vorliegend nicht erforderlich. Deshalb besteht kein entsprechender Anspruch auf Eingliederungshilfe. Der Fahrtkostenaufwand von JH zum Wohnsitz des Klägers war nicht erforderlich im Sinne des § 12 Nr. 2 der EinglhV, weil es andere wohnsitznähere geeignete Einrichtungen gab, die eine angemessene Schulbildung des Klägers sichergestellt hätten (dazu unter a.), weil der Fahrtkostenaufwand nicht behinderungsbedingt war (b.) und weil es ein besseres, „geeigneteres“ Mittel gab, um den angestrebten Zweck – hier die Erfüllung der Zwecke der Eingliederungshilfe – zu erreichen (c.). Die Übernahme der Fahrtkosten war auch nicht als „Annexleistung“ (d.) geboten.
a. Der Fahrtkostenaufwand von JH zum Wohnsitz des Klägers war nicht erforderlich, weil es andere wohnsitznähere geeignete Einrichtungen gab, die eine angemessene Schulbildung des Klägers – auch mit Ganztagsangebot – sichergestellt hätten. Es steht zur vollen Überzeugung des Senats fest, dass es im Stadtgebiet A-Stadt zahlreiche geeignete und insbesondere auch wohnsitznähere Einrichtungen gab und gibt, die Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen mit dem Beklagten geschlossen haben oder hätten schließen können. Dies ergibt sich aus den nachvollziehbaren und vom Kläger nicht substantiiert angegriffenen Darlegungen des Beklagten sowie aus den Recherchen des Senats (vgl. z.B. https://www…; https://www.ganztagsschulen.org/de/ gts-finder.php). Der Anspruch des Klägers auf eine angemessene Schulbildung hätte durch den Besuch jeder dieser Einrichtungen, gegebenenfalls im Wege der inklusiven Beschulung, erfüllt werden können.
Eine schulbehördliche Zuweisung des Klägers liegt nicht vor (vgl. zur eingliederungshilferechtlichen Bedeutung einer schulbehördlichen Zuweisung LSG Baden-Württemberg vom 29.06.2017, L 7 SO 5382/14 juris Rn 24). Der Kreis der im Rahmen der Erforderlichkeitsprüfung zu berücksichtigenden Einrichtungen wurde auch nicht durch die dem Kläger erteilten Bescheide des Beklagten eingeschränkt. Denn diese beinhalten keine Beschränkung auf eine Schulbildung bei J. Die Bewilligung der Eingliederungshilfe diente nach dem Regelungsgehalt der Bewilligungsbescheide (Schulbegleitung; heilpädagogischer Betreuungsbedarf) nicht der Verwirklichung einer angemessenen Schulbildung im Sinne der Eingliederungshilfeverordnung gerade bei J. Die Bescheide nennen zwar im Rubrum die J bzw. den JH. Die Begründungen der dem Kläger erteilten Bewilligungsbescheide geben aber zu erkennen, dass die bewilligten Leistungen unabhängig von der gewählten Schule erfolgten. So wurde mit den Bescheiden vom 05.06.2014 und vom 08.07.2015 zunächst eine Schulwegbegleitung abgelehnt. Die Begleitung durch einen Integrationshelfer sollte ausweislich der Bescheide vom 19.09.2016 und 21.08.2017 durch einen externen Anbieter (V) sichergestellt werden, der auch an jeder anderen Schule tätig werden konnte. Der „Einrichtung“ J wurde mit Bescheid vom 19.09.2016 eine Erhöhung der Personalausstattung finanziert, „die der Erhöhung des Gewichtungsfaktors … nach Art. 21 Abs. 5 S. 2 BayKiBiG … entspricht“. Eine entsprechende Finanzierung hätte auch bei jeder anderen geeigneten Einrichtung und nicht nur bei J erfolgen können.
Der Kreis der im Rahmen der Erforderlichkeitsprüfung zu berücksichtigenden Einrichtungen wurde auch nicht durch das Wahlrecht nach § 9 Abs. 2 SGB XII eingeschränkt. Die Übernahme der Fahrtkosten war daher auch nicht aufgrund des Wahlrechts geboten. Der Kläger bzw. seine Eltern als gesetzliche Vertreter haben bezüglich des Schulplatzes ein Wahlrecht. Dieses vom Beklagten als Träger der sozialhilferechtlichen Eingliederungshilfe hinzunehmende (dazu BVerwG vom 26.10.2007, 5 C 35/06 juris Rn 21; LSG Baden-Württemberg vom 29.06.2017, L 7 SO 5382/14 juris Rn 24) Wahlrecht haben sie durch Auswahl der privaten Schuleinrichtung J als Grundschule für den Kläger ausgeübt. Der Wahl des Klägers hat der Beklagte dadurch Rechnung getragen, dass er die Eingliederungshilfemaßnahmen „Schulbegleitung“ und „heilpädagogischer Betreuungsbedarf“ in der J bewilligt hat. Aus diesem Wahlrecht folgt jedoch keine Pflicht des Sozialhilfeträgers zur Übernahme aller mit der getroffenen Wahl verbundenen Kosten. Insbesondere der durch den Besuch der gewünschten Privatschule entstehende konkrete Fahrtkostenaufwand kann vielmehr nur übernommen werden, wenn die entsprechende Beförderung erforderlich ist. Die Erforderlichkeit kann sich z.B. daraus ergeben, dass im konkreten Fall eine angemessene Schulbildung behinderungsbedingt nur bei einer Einrichtung erreicht werden kann. Das ist hier aber, wie sich aus dem Vorstehenden ergibt, nicht der Fall. Zur Inanspruchnahme der Eingliederungsmaßnahmen „Schulbegleitung“ und „erhöhter Betreuungsbedarf“ ist nicht der Besuch gerade der J erforderlich. Einen – mit der Verwendung des Begriffs Annexleistung (siehe dazu sogleich unten d.) allerdings suggerierten – Automatismus zwischen bewilligter Eingliederungshilfemaßnahme und Übernahme von Beförderungskosten gibt es nicht (ähnlich unter Berücksichtigung des Grundsatzes des Nachrangs von Sozialhilfeleistungen gemäß § 2 SGB XII LSG Hessen vom 22.11.2010, L 9 SO 7/09 juris Rn 31; zur Angemessenheit LSG Nordrhein-Westfalen vom 17. Mai 2010, L 20 B 168/08 SO ER juris 64 ff). Durchzuführen ist vielmehr stets die Prüfung der konkreten Erforderlichkeit der jeweiligen Maßnahme, also auch der Beförderung und der Übernahme der dadurch entstehenden Kosten. Die Schulauswahl durch die Eltern (vgl. auch Art. 41 Abs. 1 S. 3 BayEUG: „die Erziehungsberechtigten entscheiden, an welchem der im Einzelfall rechtlich und tatsächlich zur Verfügung stehenden schulischen Lernorte ihr Kind unterrichtet werden soll“) ersetzt nicht die Prüfung der gesetzlichen Voraussetzungen der Eingliederungshilfe (LSG Bayern vom 02.11.2011, L 8 SO 165/11 B ER juris Rn 29).
Gründe dafür, dass für den Kläger gerade der Besuch der J zur Erlangung einer angemessenen Schulbildung erforderlich gewesen wäre, sind nach alledem nicht ersichtlich. Vielmehr steht zur vollen Überzeugung des Senats fest, dass Eingliederungshilfemaßnahmen bei J nicht alternativlos waren, d.h. mehrere Schulen zur Verfügung standen, an denen jeweils die dem Kläger bewilligten Eingliederungshilfemaßnahmen (Schulbegleiter; heilpädagogischer Betreuungsbedarf) durchgeführt hätten werden können. Daraus folgt, dass die Bewilligung der Übernahme der Fahrtkosten vorliegend nicht schon deshalb erforderlich war, weil dem Kläger eine Schulbegleitung und eine heilpädagogische Betreuung bewilligt worden waren (zur Möglichkeit der Bewilligung von Fahrtkosten als sog. Annexleistung siehe unten d.).
b. Der hier fragliche Fahrtkostenaufwand stellt auch deshalb keinen erforderlichen Aufwand im Sinne des § 12 Nr. 2 der EinglhV dar, weil dieser Aufwand nicht behinderungsbedingt war. Denn nach Einschätzung des Senats wäre auch ein nichtbehindertes Kind gleichen Alters auf die Beförderung durch Dritte angewiesen gewesen. Vorliegend geht es um die individuelle Beförderung des Klägers vom Hort der J nach Hause. Zurückzulegen ist ein Weg von 5,8 km durch den Stadtverkehr von A-Stadt (Falk-Routenplaner, https://www.falk.de/routenplaner?data). Mit öffentlichen Verkehrsmitteln kann die Strecke nur nach einem Fußweg von ca. 0,5 km und mit Umsteigen, entweder von Bus zu Bus, oder von Bus zu U-Bahn, zurückgelegt werden, wie die aktenkundige Übersicht über die von der Verkehrsgesellschaft A-Stadt zur Verfügung gestellten Verbindungen zeigt. Der zurückzulegende Weg beansprucht eine Dauer von einer knappen halben Stunde mit knappen Anschlusszeiten. Der im Jahre 2007 geborene Kläger war im hier fraglichen Zeitraum ca. 9-10 Jahre alt. Es ist nach Auffassung des Senats offensichtlich, dass auch ein gleichaltriges nichtbehindertes Kind im Regelfall auf die Beförderung durch Dritte angewiesen wäre und den beschriebenen, nicht einfach zu bewältigenden Weg nicht alleine mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurücklegen könnte. Die infrage stehende Beförderung von JH nach Hause war mithin nicht behinderungsbedingt.
c. Die Bewilligung von Fahrtkosten von JH zum Wohnsitz als Eingliederungshilfemaßnahme war auch deshalb nicht erforderlich, weil es ein besseres, „geeigneteres“ Mittel gab, um die Erfüllung der Zwecke der Eingliederungshilfe zu erreichen. Mit der die Beförderung betreffenden Maßnahme soll die optimale Integration des Klägers in den Schulalltag erreicht werden. Im Vordergrund der Maßnahme steht daher das Ziel, dass der Kläger nach entsprechendem Training den zurückzulegenden Weg mit öffentlichen Verkehrsmitteln selbst bewältigen kann. Dieses Ziel wäre im Fall des Klägers am besten durch die Bewilligung eines Begleiters erreicht worden. Die Eltern des Klägers hatten ausweislich ihres Schreibens vom 14.07.2015 dementsprechend ursprünglich auch die Schulwegbegleitung und ausdrücklich nicht die Kostenübernahme eines individuellen Fahrdienstes beantragt. Auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat wiederholte die Mutter des Klägers die Einschätzung, dass die Schulwegbegleitung die beste Hilfemaßnahme gewesen wäre. Aus welchen Gründen die Bewilligung der Begleitung von JH nach Hause von Seiten des Klägers nicht weiter betrieben wurde, bleibt offen. Die Vorzugswürdigkeit der Wegbegleitung wird auch durch die Stellungnahme des sozialpädagogischen Dienstes vom 12.07.2016 belegt, die dann allerdings aus nicht nachvollziehbaren Gründen nur die Schulwegbegleitung am Morgen empfahl. Auch der Aktenvermerk des Beklagten vom 27.01.2017, der das schlüssige Konzept für die Schulwegbegleitung im Sinne einer ausgearbeiteten Förderplanung zum Schulwegtraining hervorhebt, zeigt, dass die Schulwegbegleitung die am besten geeignete Maßnahme der Eingliederungshilfe darstellt. Erforderlich im oben dargestellten Sinne war nach alledem auch für den Nachmittag allenfalls eine Wegbegleitung und eben nicht die Übernahme von Fahrtkosten.
d. Die Übernahme der Fahrtkosten war auch nicht als „Annexleistung“ geboten. Der Senat weist darauf hin, dass der auch im vorliegenden Verfahren immer wieder auftauchende Begriff der Annexleistung vom Gesetzgeber nicht verwendet wird. Er ist gesetzlich nicht definiert. Was mit diesem Begriff genau gemeint ist, bleibt auch nach der erstinstanzlichen Entscheidung unklar. Eine Begriffsklärung nimmt das SG nicht vor. Nach Auffassung des Senats soll der Begriff Annexleistung nur den vom Bundesverwaltungsgericht – BVerwG – entwickelten Gedanken zusammenfassen, nach dem Fahrtkosten, die entstehen, weil anders eine Eingliederungshilfemaßnahme im Sinne des § 40 Abs. 1 BSHG nicht durchgeführt werden kann, notwendiger Bestandteil dieser Maßnahme seien (vgl. BVerwG vom 14.10.1994, 5 B 114/93 juris Orientierungssatz). Das SG, das das vorgenannte Urteil des BVerwG zur Begründung seiner Entscheidung in Bezug nimmt, übersieht, dass auch das BVerwG eine Prüfung der konkreten Erforderlichkeit vornimmt (vgl. BVerwG, aaO, Rn 8: „Fahrten .., die im Zusammenhang mit der Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung .. notwendig wurden“). Vor diesem Hintergrund bringt der Begriff der Annexleistung im Zusammenhang mit dem zu prüfenden Anspruch auf Fahrtkostenübernahme nach Auffassung des Senats nur zum Ausdruck, dass zwischen einer Eingliederungshilfemaßnahme und der Bewilligung von Fahrtkosten eine ursächliche Verknüpfung besteht in dem Sinne, dass eine bewilligte Eingliederungshilfemaßnahme im konkreten Fall ohne die Übernahme der Beförderungskosten zum Ort der Maßnahme nicht durchgeführt werden kann. Entsprechende Fallkonstellationen hält auch der Senat für denkbar. Die Frage, ob eine Annexleistung vorliegt, lässt sich aber immer nur für den konkreten Fall nach Prüfung der Erforderlichkeit beantworten. Diese Prüfung (siehe oben a – c) hat vorliegend ergeben, dass die Übernahme der Kosten für die Beförderung von JH zum Wohnsitz des Klägers nicht erforderlich ist und sich daher auch nicht als Annex zu den bewilligten Maßnahmen der Eingliederungshilfe darstellt. Wie sich aus dem Vorstehenden ergibt, steht dieses Ergebnis auch mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Einklang.
Sonstige Umstände, die im oben dargestellten Sinn eine Erforderlichkeit der Bewilligung von Fahrtkosten von J zum Wohnsitz des Klägers begründen könnten, sind nicht ersichtlich.
Da die Übernahme der Fahrtkosten von JH nach Hause bereits nicht erforderlich war, stellt sich die Frage nach einer Angemessenheit des Kostenaufwands für die Schülerbeförderung, insbesondere nach einer Angemessenheit vor dem Hintergrund eines etwaigen Wunsch- und Wahlrechts im Sinne des § 9 Abs. 2 SGB XII und damit entstandener Kosten, nicht (vgl. dazu LSG Hessen vom 22.11.2010, L 9 SO 7/09 juris).
IV.
Durch die hier vorgenommene Auslegung des § 54 Abs. 1 Satz Nr. 1 SGB XII, § 12 EinglhV wird das Elternrecht nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz (GG) nicht verletzt. Die Vorschrift begründet das Recht der Eltern, staatliche Maßnahmen abzuwenden, die beeinträchtigend in den grundrechtlich geschützten Bereich der Erziehung hineinwirken (vgl. BVerwG, FEVS 44, 4 ff). Der Schutzbereich dieser Vorschrift umfasst auch die freie Wahl zwischen den vom Staat zur Verfügung gestellten oder zugelassenen Schulformen einschließlich Privatschulen (vgl. BVerwGE 112, 263, 269f.); er schließt das Recht ein, Maßnahmen abzuwehren, die darauf abzielen, dieses Wahlrecht mehr als notwendig zu begrenzen (vgl. BVerfGE 34, 165, 183 ff). Eine andere Frage ist es, welche konkreten Sozialleistungen nach Ausübung des Wahlrechts zustehen. Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG beinhaltet keinen unmittelbaren Leistungsanspruch und auch keinen Leistungsanspruch kraft Ausstrahlung über sozialhilferechtliche Vorschriften (vgl. dazu LSG Hessen vom 22.11.2010, L 9 SO 7/09 juris Rn 38 m.w.N.). An der Verfassungsmäßigkeit der vorliegend zur Anwendung gekommenen sozialrechtlichen Vorschriften hat der Senat keine Zweifel.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 und 4 SGG.
Die Revision wurde vom Senat zugelassen, weil die zur Erforderlichkeit der Übernahme von Fahrtkosten als Maßnahme der Eingliederungshilfe aufgeworfenen Fragen – auch mit Blick auf die Entscheidungen des BVerwG vom 14.10.1994, 5 B 114/93 und des LSG Baden-Württemberg vom 29.06.2017, L 7 SO 5382/14 – grundsätzliche Bedeutung haben und nach Auffassung des Senats einer höchstrichterlichen Klärung bedürfen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).


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