Steuerrecht

erweiterte Gewerbeuntersagung wegen Unzuverlässigkeit, Online-Handel mit Tierbedarf und Haushaltswaren, Unzuverlässigkeit wegen strafrechtlich relevanten Verhaltens, diverse strafrechtliche Verurteilungen, zeitliche Grenze der Verwertbarkeit strafrechtlich relevanten Verhaltens, Bindungswirkung des Strafurteils, keine Berücksichtigung bloßer Einträge auf einer polizeilichen „Erkenntnisliste“ (INPOL bzw. IGVP) im Rahmen der Zuverlässigkeitsprognose, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, keine Zurechnung des Verschuldens einer Hilfsperson

Aktenzeichen  W 6 K 20.1883

Datum:
7.7.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 21434
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
GewO § 35 Abs. 1 S. 1
GewO § 35 Abs. 1 S. 2
GewO § 35 Abs. 3
BZRG § 51 Abs. 1
BtMG § 35
VwGO § 60

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Bescheid des Landratsamts H. vom 27. Oktober 2020 wird aufgehoben.
II. Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu vollstreckenden Kosten abwenden, wenn nicht der Kläger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Gründe

Die Anfechtungsklage ist zulässig und auch begründet. Der Bescheid des Landratsamts Haßberge vom 27. Oktober 2020 ist rechtswidrig, verletzt den Kläger in seinen Rechten und war daher aufzuheben, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
1. Die Klage ist zulässig.
Zwar wurde die am 1. Dezember 2020 erhobene Anfechtungsklage gegen den am 31. Oktober 2020 beim Bevollmächtigten des Klägers per Postzustellungsurkunde zugestellten und mit einer ordnungsgemäßen Rechtsbehelfsbelehrung:versehenen Bescheid nach Maßgabe des § 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO verfristet erhoben. Dem Kläger war jedoch auf seinen bereits am 1. Dezember 2021 gestellten Antrag hin sowie wegen der rechtzeitigen Nachholung der versäumten Handlung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 60 VwGO zu gewähren.
Der Kläger hat die Gründe, die zur Wiedereinsetzung führen, hinreichend vortragen und glaubhaft gemacht (§ 60 Abs. 2 Satz 2 VwGO, § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 294 ZPO). Ihn trifft kein Verschulden an der verfristeten Klageerhebung. Das Versäumnis der Sekretärin als bloßer Hilfsperson seines Bevollmächtigten bei der fehlerhaften Eingangsstempelung des Bescheids sowie der daran anschließenden falschen Fristberechnung ist dem Kläger nicht als eigenes Verschulden zuzurechnen. Es liegt insoweit auch kein Organisationsverschulden des bevollmächtigten Rechtsanwalts vor, das dem Kläger gemäß § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnen wäre. Ein Anwalt darf die Notierung, Berechnung und Kontrolle der üblichen Fristen in Rechtsmittelsachen, die in seiner Praxis häufig vorkommen und deren Berechnung keine Schwierigkeiten macht, gut ausgebildetem und sorgfältig beaufsichtigtem Büropersonal überlassen (stRspr, vgl. BVerwG, B.v. 7.3.1995 – 9 C 390/94 – NJW 1995, 2122). Hierzu zählt regelmäßig die Klagefrist des § 74 VwGO. Ausweislich der vorliegenden eidesstattlichen Versicherung der Frau S. arbeitet diese bereits seit über 20 Jahren als Rechtsanwaltsfachangestellte in der Kanzlei des Klägerbevollmächtigten. Entsprechend dessen anwaltlicher Versicherung waren diesem in den letzten Jahren keine Fehler seiner Mitarbeiterin erinnerlich. Für das vorliegende Versehen der bisher zuverlässigen, qualifiziert ausgebildeten und erfahrenen Büroangestellten hat der Rechtsanwalt deshalb nicht im Sinne eines Organisationsverschuldens einzustehen, und demzufolge ebenso wenig der Kläger (vgl. allgemein Czybulka/Kluckert in NK-VwGO, 5. Aufl. 2018, § 60 Rn. 69).
2. Die Klage ist auch begründet.
Der Kläger war zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Bescheids (grundlegend BVerwG, U.v. 2.2.1982 – 1 C 146.80 – BVerwGE 65, 1; fortführend etwa BVerwG, U.v. 15.4.2015 – 8 C 6/14 – GewArch 2015, 366) nicht unzuverlässig im Sinne von § 35 Abs. 1 Satz 1 GewO. Ihm durften deshalb weder die Ausübung seines Gewerbes „Online-Handel mit Tierbedarf, Kleidung und Schmuck“ sowie seines unter dem Dach der MCP E.-Commerce GbR betriebenen Gewerbes „Online-Handel mit Tierbedarf und Haushaltswaren“ untersagt werden (dazu 2.1), noch erweist sich die Untersagung gemäß § 35 Abs. 1 Satz 2 GewO der selbstständigen Ausübung aller stehenden Gewerbe sowie entsprechender Vertretungs- und Leitungstätigkeiten als rechtmäßig (dazu 2.2).
2.1 Gemäß § 35 Abs. 1 Satz 1 GewO ist die Ausübung eines Gewerbes von der zuständigen Behörde ganz oder teilweise zu untersagen, wenn Tatsachen vorliegen, welche die Unzuverlässigkeit des Gewerbetreibenden in Bezug auf dieses Gewerbe dartun, sofern die Untersagung zum Schutze der Allgemeinheit oder der im Betrieb Beschäftigten erforderlich ist.
Nicht zuverlässig ist, wer nach dem Gesamtbild seines Verhaltens keine Gewähr dafür bietet, dass er sein Gewerbe künftig ordnungsgemäß betreiben wird (st. Rspr., vgl. zuletzt BVerwG, U.v. 15.4.2015 – 8 C 6.14 – juris Rn. 14; BayVGH, B.v. 20.7.2016 – 22 ZB 16284 – juris Rn. 9). Entscheidend ist, ob der Betreffende unter Würdigung aller mit seinem Betrieb zusammenhängenden Umstände willens und in der Lage ist, in Zukunft seinen beruflichen Pflichten nachzukommen und die im öffentlichen Interesse liegende einwandfreie Führung seines Gewerbes zu gewährleisten. Die Feststellung der Unzuverlässigkeit erfordert anhand festgestellter Tatsachen eine Gesamtbetrachtung aller relevanten Umstände, die eine Prognose hinsichtlich der ordnungsgemäßen Ausübung des Gewerbes für die Zukunft erlauben (vgl. Marcks in Landmann/Rohmer, GewO, Stand September 2020, § 35 Rn. 31 ff. m.w.N.). Die Gewerbeuntersagung nach § 35 Abs. 1 Satz 1 GewO steht nicht im Ermessen der Behörde, sondern ist bei Vorliegen der Voraussetzungen zwingend. Beim Begriff der Unzuverlässigkeit handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der vom Gericht in vollem Umfang nachgeprüft wird (Ennuschat in Ennuschat/Wank/Winkler, GewO, 9. Aufl. 2020, § 35 Rn. 27 m.w.N.).
Unter diesen Voraussetzungen liegen zur Überzeugung des Gerichts keine tragfähigen Tatsachen vor, die die Annahme rechtfertigen, dass der Kläger im Zeitpunkt des Bescheiderlasses für die Ausübung seiner Gewerbe „Online-Handel mit Tierbedarf, Kleidung und Schmuck“ sowie „Online-Handel mit Tierbedarf und Haushaltswaren“ im Sinne des § 35 Abs. 1 Satz 1 GewO unzuverlässig war.
2.1.1 Soweit das Landratsamt in seinem Bescheid vom 27. Oktober 2020 Bezug nimmt auf die rechtskräftigen Verurteilungen des Klägers durch das AG Bamberg vom 14. Mai 2009 wegen schwerer räuberischer Erpressung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung, durch das AG Neuburg/Donau vom 5. Oktober 2010 wegen falscher uneidlicher Aussage, durch das AG Würzburg vom 30. Juli 2015 wegen vorsätzlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Bedrohung in Tateinheit mit Beleidigung sowie durch das LG Bamberg vom 29. April 2019 wegen Beihilfe zum vorsätzlichen unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, kann daraus eine Unzuverlässigkeit des Klägers für die von ihm ausgeübten Gewerbe nicht abgeleitet werden.
Grundlage der Feststellung einer gewerberechtlichen Unzuverlässigkeit im Sinne des § 35 Abs. 1 Satz 1 GewO sind stets vergangene oder gegenwartsbezogene Tatsachen, die Grundlage sind für eine in die Zukunft gerichtete Prognose, ob daraus eine Unzuverlässigkeit in Bezug auf das ausgeübte Gewerbe dargetan ist. Die Unzuverlässigkeit kann auch aus Tatsachen abgeleitet werden, die nicht im Rahmen der gewerblichen Betätigung oder vor Beginn der Gewerbeausübung eingetreten sind. Entscheidend ist stets, ob die festgestellten Tatsachen im Rahmen einer Gesamtwürdigung unter Einschluss der Entwicklung der Persönlichkeit des Gewerbetreibenden für die Einschätzung seines künftigen Verhaltens im Hinblick auf das konkret ausgeübte Gewerbe von Bedeutung sind (vgl. Ennuschat in Ennuschat/Wank/Winkler, GewO, 9. Aufl. 2020, § 35 Rn. 28).
Nach diesen Maßstäben ist die der Begründung des angegriffenen Bescheids zu entnehmende Zuverlässigkeitsprüfung des Landratsamts bereits unzureichend, weil sie eine Würdigung der rechtskräftig abgeurteilten und noch im Führungszeugnis vom 16. Januar 2020 eingetragenen Straftaten des Klägers im Hinblick auf deren spezifische Bedeutung für die ausgeübten Gewerbe vermissen lässt. Vielmehr behauptet das Landratsamt lediglich, die Unzuverlässigkeit sei „in Hinsicht auf die Straftaten zu bejahen“, ohne das den Straftaten zugrunde liegende Verhalten des Klägers aufzuzeigen und der erforderlichen Prüfung zuzuführen. Insoweit wird verkannt, dass bei einer Gewerbeuntersagung nach § 35 Abs. 1 GewO im Zusammenhang mit strafrechtlichem Verhalten nicht das Strafurteil selbst die Tatsache darstellt, die eine gewerberechtliche Unzuverlässigkeit dartut, sondern das zu Tage tretende Verhalten des Betroffenen (vgl. BVerwG, B.v. 23.5.1995 – 1 B 78.95 – juris Rn. 5; OVG NW, B.v. 23.4. 2015 – 4 A 955/13 – juris Rn. 13; OVG SH, B.v. 9.11.2020 – 5 MB 29/20 – NVwZ-RR 2021, 619 Rn. 7). Will die Gewerbebehörde strafrechtlich relevantes Verhalten des Gewerbetreibenden in eine Zuverlässigkeitsprognose nach § 35 Abs. 1 Satz 1 GewO einbeziehen, muss sie stets die genauen Umstände des jeweiligen Vorfalls in Erfahrung bringen – insbesondere durch Beiziehung der Verfahrensakten. Die so gewonnenen Erkenntnisse muss sie anschließend mit Blick auf das künftig zu erwartende Verhalten des Gewerbetreibenden im ausgeübten Gewerbe würdigen (vgl. BayVGH, B.v. 20.7.2016 – 22 ZB 16.284 – juris Rn. 10 m.w.N.; VG Würzburg, U.v. 22.7.2020 – 6 K 20.380 – BeckRS 2020, 21019 Rn. 19). Die Gewerbebehörde muss sich selbst davon überzeugen, welcher Sachverhalt einer Bestrafung zugrunde gelegen hat – wobei sie i.d.R. von den tatsächlichen Feststellungen des Strafgerichts ausgehen darf – und in eigener Verantwortung prüfen, ob die der Bestrafung zugrundeliegenden Tatsachen eine Verneinung der Zuverlässigkeit für das ausgeübte Gewerbe rechtfertigen (BVerwG, B.v. 26.2.1997 – 1 B 34.97 – GewArch 1997, 242; vgl. auch BayVGH, B.v. 20.7.2016 – 22 ZB 16.284 – BeckRS 2016, 50123 Rn. 10).
Dafür, dass eine solche Würdigung des Verhaltens des Klägers seitens des Landratsamts nicht bzw. zumindest nicht ausreichend sorgfältig vorgenommen wurde, spricht die nur rudimentär auf den konkreten Fall des Klägers eingehende Begründung des Bescheids. Insbesondere erfolgt hinsichtlich der angeführten rechtskräftigen und noch im Führungszeugnis eingetragenen Straftaten des Klägers weder im Bescheid eine deduktive und differenzierende Herleitung der Unzuverlässigkeit, noch lässt die vorliegende Behördenakte eine solche erkennen. Die überwiegend textbausteinartigen Darlegungen des Landratsamts in der Begründung des Bescheids werden der grundrechtlichen Bedeutung der erheblich in die Berufsfreiheit des Betroffenen (Art. 12 Abs. 1 GG) eingreifenden (erweiterten) Gewerbeuntersagung nicht gerecht.
Allerdings zeigen sich auch dann, wenn man die rechtskräftig abgeurteilten und noch im Führungszeugnis vom 16. Januar 2020 eingetragenen vier Straftaten des Klägers mit Blick auf sein künftig zu erwartendes Verhalten in den konkret ausgeübten Gewerben prüft, keine überzeugenden Gründe für die Annahme seiner Unzuverlässigkeit im Sinne des § 35 Abs. 1 Satz 1 GewO. Dazu im Einzelnen:
2.1.1.1 Der Verurteilung des Klägers durch das LG Bamberg vom 29. April 2019 (Az. 33 KLs 2101 Js 11332/18) wegen Beihilfe zum vorsätzlichen unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu zwei Jahren und vier Monaten Freiheitsstrafe lag ausweislich der Feststellungen des Strafgerichts zugrunde, dass der Kläger seinen Bruder am 5. Juli 2018 bei einem Betäubungsmittelgeschäft begleitete. Dabei unterstützte er seinen Bruder als „Verkaufs- und Schutzgehilfe“, ohne zuvor an den Verkaufsverhandlungen teilgenommen zu haben. Der Tatbeitrag des Klägers stellte den Feststellungen des LG Bamberg zufolge eine unterordnete Hilfstätigkeit dar. Der Kläger hatte – unwiderlegbar – kein eigenes Interesse am Umsatz der Betäubungsmittel. Das Strafgericht stellte ferner eine psychische Abhängigkeit des Klägers von synthetischen psychoaktiven Substanzen, Cannabinoiden und Amphetaminen (ICD-10 F 19.2) fest und bejahte die Voraussetzungen einer Zurückstellung der Strafvollstreckung gemäß § 35 BtMG.
Zulasten des Klägers kann im Untersagungsverfahren von den obigen Feststellungen des LG Bamberg nicht abgewichen werden (§ 35 Abs. 3 Satz 1 GewO).
Weshalb der Kläger bereits wegen der einmaligen Unterstützung seines Bruders als „Verkaufs- und Schutzgehilfe“ bei dessen Betäubungsmittelgeschäft für die erst nach seiner vorzeitigen Haftentlassung auf Bewährung angemeldeten Gewerbe „Online-Handel mit Tierbedarf, Kleidung und Schmuck“ sowie „Online-Handel mit Tierbedarf und Haushaltswaren“ unzuverlässig sein soll, vermag das Gericht nicht zu erkennen. Ein Bezug der bloßen Gehilfenleistung beim Betäubungsmittelgeschäft zur Ausübung der Gewerbe im Bereich des Online-Handels mit legalen Konsumgütern liegt jedenfalls nicht auf der Hand. Soweit das Landratsamt die Gefahr sieht, dass im Online-Handel die Versuchung groß sei, schnelle Geschäfte bzw. Gewinne zu erzielen, weshalb die Allgemeinheit vor weiteren „Handelstätigkeiten“ des Klägers zu schützen sei, ist dem entgegenzuhalten, dass dem Kläger vom LG Bamberg keine täterschaftliche Begehung eines illegalen „Drogengeschäfts“ mit entsprechender Gewinnerzielungsabsicht angelastet wurde. Dem Kläger darf im Untersagungsverfahren allerdings nicht unterstellt werden, dass ein besonderes Gewinnstreben das tragende Motiv seiner Gehilfenleistung war. Einer derartigen Schlussfolgerung steht der Umstand entgegen, dass das LG Bamberg in seinem Urteil vom 29. April 2019 die Voraussetzungen des § 35 BtMG bejaht hat. Damit kommt die aus der Hauptverhandlung gewonnene Überzeugung des Strafgerichts zum Ausdruck, dass die beim Kläger festgestellte Betäubungsmittelabhängigkeit kausale Ursache seiner Straffälligkeit war (vgl. Kornprobst in MüKoStGB, 3. Aufl. 2018, § 35 BtMG Rn. 44). Aufgrund der Vorrangbestimmung des § 35 Abs. 3 Satz 1 GewO kann die Anwendung des § 35 BtMG im Gewerbeuntersagungsverfahren nicht zuungunsten des Klägers übergangen werden. Die der Verurteilung des Klägers durch das LG Bamberg zugrunde liegende Straftat lässt nach alldem nicht die auf Tatsachen gestützte, hinreichend wahrscheinliche Besorgnis zu, der Kläger werde der Versuchung erliegen und sich im Rahmen seines Online-Handels mittels „schneller Geschäfte“ rechtswidrig bereichern.
2.1.1.2 Auch die rechtskräftige Verurteilung des Klägers durch das AG Würzburg vom 30. Juli 2015 (Az. 103 Ds 916 Js 21268/14) wegen vorsätzlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Bedrohung in Tateinheit mit Beleidigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 7 Monaten führt nicht zur Unzuverlässigkeit des Klägers.
Nach den Feststellungen des AG Würzburg schlug der Kläger – damals 22 Jahre alt – am 6. Oktober 2014 seine damals 16-jährige Freundin im Rahmen eines Beziehungsstreits mit der Hand auf das Ohr und ein weiteres Mal gegen die Schulter. Diese erlitt dadurch eine Schädelprellung, Kopf- und Ohrenschmerzen sowie ein Hämatom an der Schulter. Anschließend bedrohte der Kläger seine Freundin verbal und beleidigte ihren zwischenzeitlich mit der Polizei hinzugekommenen Vater. Das AG Würzburg berücksichtigte im Rahmen der Strafzumessung zugunsten des Klägers dessen Geständnis sowie den Umstand, dass die Straffälligkeit im Rahmen einer konfliktreichen Beziehung stattfand. Ausweislich des Geständnisses des Klägers, welches das AG Würzburg als glaubhaft wertete, waren offenbar Textnachrichten, die der Kläger von einer anderen Frau empfing, Ausgangspunkt des in die Gewalttätigkeit des Klägers mündenden Streits. Zulasten des Klägers wurden u.a. das jugendliche Alter des Opfers sowie die psychischen Tatfolgen, die die Geschädigte zu tragen hatte, berücksichtigt.
Die der Verurteilung des Klägers durch das AG Würzburg vom 30. Juli 2015 zugrundeliegenden Tatsachen rechtfertigen nicht die Annahme, dass der Kläger künftig nicht die Gewähr dafür bietet, seinen Online-Handel ordnungsgemäß auszuüben. Das gegenüber seiner jüngeren Partnerin gezeigte Verhalten zeigt zwar, dass ein hohes Gewaltpotential sowie eine gesteigerte und zum Kontrollverlust führende Impulsivität der Persönlichkeit des Klägers entsprachen. Schon aufgrund des spezifischen, nämlich von besonderen Gefühlsempfindungen geprägten Kontextes einer konfliktreichen Liebesbeziehung, in welchem sich diese Charakterzüge des Klägers damals in strafbarer Weise zeigten, kann jedoch nicht per se darauf geschlossen werden, dass von ihm mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein ähnlich gewalttätiges oder impulsives Fehlverhalten auch in Konfliktsituationen zu erwarten ist, die bei der Führung seines Gewerbes etwa im Kontakt mit Geschäftspartnern, Kunden oder Behörden auftreten können.
In zeitlicher Hinsicht ist überdies zu berücksichtigen, dass die abgeurteilte Tat vom 6. Oktober 2014 zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses bereits sechs Jahre zurücklag. Zwar war die Verurteilung durch das AG Würzburg weiterhin im Führungszeugnis eingetragen und auch nicht tilgungsreif, sodass die äußere Grenze der Verwertbarkeit des § 51 Abs. 1 BZRG noch nicht erreicht war. Unterhalb dieser Verwertungsgrenze sind Straftaten bei der Ermittlung der Zuverlässigkeit nach § 35 Abs. 1 GewO zu berücksichtigen, wobei sich ihr Gewicht jedoch mit fortschreitender Zeit verringern kann. Die Untersagungsbehörde und das Gericht sind nicht gehindert, die Zuverlässigkeit des Gewerbetreibenden schon vor Ablauf der Tilgungsfrist wieder anzunehmen. Die Beantwortung der Frage, ob länger zurückliegende Straftaten einem Gewerbetreibenden im Rahmen eines Untersagungsverfahrens noch entgegengehalten werden dürfen, hat auf Grundlage einer Gesamtwürdigung zu erfolgen, in die unter anderem die Entwicklung der Persönlichkeit des Betroffenen einzubeziehen ist (BayVGH, B.v. 5.3.2014 – 22 ZB 12.2174 – BeckRS 2014, 100035). Dabei ist vorliegend anzuerkennen, dass der Kläger – ausweislich der vorliegenden „Erkenntnisliste“ der PI Haßfurt (Stand 16.9.2020) sowie des Führungszeugnisses vom 16. Januar 2020 – nach der Verurteilung durch das AG Würzburg vom 30. Juli 2015 bis zum Bescheiderlass im Oktober 2020 nicht mehr aufgrund von Delikten polizeilich in Erscheinung getreten ist, die wie etwa Körperverletzungen oder Bedrohungen typischerweise durch ein hohes Gewalt- und Konfliktpotential geprägt sind. Führt man sich zudem vor Augen, dass die „Erkenntnisliste“ der PI Haßfurt für die Zeit vor der Verurteilung vom 30. Juli 2015 für den Kläger gehäufte Ereignismeldungen wegen Körperverletzung aufführt, deutet das anschließende Fehlen neuerer polizeilicher Vorgänge auf eine Weiterentwicklung der Persönlichkeit hin, wonach der Kläger inzwischen wohl nicht mehr in Konfliktsituationen zu impulsiven und gewalttätigen Grenzüberschreitungen neigt.
Schließlich kommt es für die Prüfung der Zuverlässigkeit im Sinne des § 35 Abs. 1 Satz 1 GewO auf das jeweilige Gewerbe an. Nach dem glaubhaften Vortrag des Klägers in der mündlichen Verhandlung näht der Kläger die feilgebotenen Hundebetten, deren Ausgangsmaterialien zugeliefert werden, in einer eigenen Betriebsstätte; die Betten werden anschließend über den vor allem vom Bruder des Klägers betreuten Webshop verkauft. Die dem Kläger untersagten Gewerbe „Online-Handel mit Tierbedarf, Kleidung und Schmuck“ sowie „Online-Handel mit Tierbedarf und Haushaltswaren“ setzen damit gerade keinen körperlichen Kontakt mit Kunden voraus. Auch handelt es sich beim Gewerbe des Klägers um keine Gewerbeart, die mit Blick auf eine besondere Konfliktträchtigkeit oder „Nähe“ des Gewerbes zur Ausübung von körperlicher oder psychischer Gewalt eine spezifische Zuverlässigkeit des Gewerbetreibenden erfordern würde (vgl. etwa OVG SH, B.v. 9.11.2020 – 5 MB 29/20 – NVwZ-RR 2021, 619 Rn. 5 zum Bewachungsgewerbe). Vom Kläger kann deshalb keine über das übliche und gegenüber jedermann anzulegende Maß hinausgehende Gewähr verlangt werden, dass er sich im Rahmen seiner gewerblichen Betätigung – sollten sich einmal Konflikte auftun – stets besonders besonnen verhalten wird. Im Lichte des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes genügen daher selbst gewisse Restzweifel, dass der Kläger möglicherweise doch im Rahmen seiner gewerblichen Betätigung durch impulsives Verhalten auffällig werden könnte, nicht für die in die Berufsfreiheit erheblich eingreifende Untersagung des Gewerbes.
2.1.1.3 Darüber hinaus trägt auch die rechtskräftige Verurteilung des Klägers durch das AG Bamberg vom 14. Mai 2009 (12 Ls 109 Js 16523/08) wegen schwerer räuberischer Erpressung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung zu 3 Jahren Jugendstrafe nicht die Annahme der gewerblichen Unzuverlässigkeit des Klägers.
Nach den Feststellungen des AG Bamberg überfiel der Kläger am 14. Dezember 2008 im Alter von 16 Jahren und 7 Monaten gemeinsam mit einem befreundeten Mittäter eine Spielothek. Nach dem gemeinsamen Tatplan betrat zunächst der Kläger die Spielothek, um zu abklären, wie viele Leute sich darin noch befinden. Daraufhin verließ der Kläger das Geschäft und hielt Wache, während sein Komplize vermummt und mit einer geladenen Gaspistole eintrat und die anwesende Servicekraft unter wortlosem Vorhalten der Waffe erfolgreich zur Herausgabe des Kassengeldes (Wert ca. 630,00 EUR) zwang. Anschließend flüchteten der Kläger und sein Komplize und teilten das erbeutete Geld gleichmäßig auf. Die Servicekraft erlitt infolge der Bedrohung mit der für sie echt aussehenden Waffe psychische Probleme, war 12 Tage arbeitsunfähig und musste Medikamente einnehmen. Der Kläger wurde aufgrund des Umfangs seiner Tatbeteiligung (insb. gemeinsame Absprache der Tat, Auskundschaften der Spielothek, „Schmierestehen“, Teilen der Beute) als Mittäter der schweren räuberischen Erpressung sowie der vorsätzlichen Körperverletzung verurteilt.
Zwar war die Verurteilung des Klägers durch das AG Bamberg zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses noch im Führungszeugnis eingetragen und nicht tilgungsreif, sodass die äußerste Grenze der Verwertbarkeit des § 51 Abs. 1 BZRG noch nicht erreicht war. Ferner handelt es sich bei der (räuberischen) Erpressung um ein gegen die persönliche Entscheidungsfreiheit gerichtetes Vermögensdelikt (BGH, U.v. 3.6.1964 – 2 StR 143/64 – NJW 1964, 1865), dessen Begehung die gewerberechtliche Zuverlässigkeit generell in Frage stellen kann. Denn die Respektierung des von §§ 255, 253 StGB geschützten und vom Kläger im Zuge der Tat vom 14. Mai 2009 missachteten Rechtsguts „fremdes Vermögen“ ist unabdingbare Voraussetzung für die ordnungsgemäße Ausübung eines jeden Gewerbes (vgl. BayVGH, U.v. 20.2.2014 – 22 BV 13.1909 – juris Rn. 28; VG Würzburg, U.v. 22.7.2020 – W 6 K 20.380 – BeckRS 2020, 21019 Rn. 31).
Jedoch bietet die zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses schon fast 12 Jahre zurückliegende Straftat des damals jugendlichen Klägers zur Überzeugung des Gerichts heute keine hinreichende Grundlage mehr für die Befürchtung, der inzwischen erwachsene Kläger werde künftig im Rahmen seines Gewerbes die Rechtsgüter Eigentum- und Vermögen Anderer nicht respektieren. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass der Kläger seitdem nicht mehr wegen Eigentums- oder Vermögensdelikten in Erscheinung getreten ist. Einer im Juli 2020 gegen ihn erhobenen Anzeige wegen Tankbetrugs lag nach der überzeugenden Schilderung des Klägers in der mündlichen Verhandlung ein Missverständnis seitens des ihm bekannten Inhabers der Tankstelle zugrunde. Der Vertreter des Landratsamts gab dazu auf Nachfrage des Gerichts an, man habe die entsprechenden Unterlagen beigezogen, es hätten sich daraus jedoch keine näheren Erkenntnisse ergeben.
Ferner ist der unbestimmte Rechtsbegriff der Unzuverlässigkeit im Lichte des Art. 12 Abs. 1 GG sowie des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auszulegen (vgl. BVerwG, B.v. 26.2.1997 – 1 B 34.97 – GewArch 1997, 242; Ennuschat in Ennuschat/Wank/Winkler, GewO, 9. Aufl. 2020, § 35 Rn. 27). Ihm liegt ein differenzierter Prognosemaßstab zugrunde, der sich insbesondere nach der Wertigkeit der bedrohten Schutzgüter und dem zu erwartenden Schadensausmaß bemisst: Je größer der zu befürchtende Schaden ist, desto niedriger ist das erforderliche Wahrscheinlichkeitsmaß und umgekehrt.
Der Kläger vertreibt über einen eigens eingerichteten Webshop („…“) gemeinsam mit seinem Bruder Hundebetten und weitere Haustierartikel im Einzelhandel für nicht mehr als ca. 70,00 EUR je Stück. Das Ausmaß etwaiger täuschungsbedingter Vermögensschäden bei einzelnen Kunden dürfte sich somit in Grenzen halten. Der abstrakten Gefahr, dass der Kläger sein Gewerbe generell auf Betrug auslegen könnte, wirken zudem im Online-Handel mit Konsumgütern die im Internet verbreiteten Bewertungsportale sowie der bei den gängigen und vom Kläger angebotenen digitalen Zahlungsdienstleistern (etwa PayPal) verfügbare Käuferschutz entgegen. Soweit der Kläger seine Waren über bekannte Online-Marktplätze (z.B. Amazon, Facebook Marketplace, Ebay) vertreibt, droht ihm im Falle von Kundenbeschwerden die Sperrung seines Händlerzugangs, was sich disziplinierend auf die dort gewerblich tätigen Anbieter auswirkt.
Vom Gewerbe des Klägers geht mithin nur ein geringes potentielles Schadensausmaß sowie mit Blick auf den Wahrscheinlichkeitsmaßstab eine niedrigschwellige Gefahr aus. Die deshalb zu fordernden gewichtigen Anknüpfungstatsachen dafür, dass der Kläger durch betrügerisches Verhalten seine Kunden schädigen könnte, kann das Gericht in der bereits 12 Jahre zurückliegenden räuberischen Erpressung – sowie in den Übrigen rechtskräftig abgeurteilten Straftaten des Klägers – nicht mit der erforderlichen Überzeugungsgewissheit erkennen.
2.1.1.4 Ferner sind im Zusammenhang mit der noch im Führungszeugnis eingetragenen rechtskräftigen Verurteilung des Klägers durch das Amtsgericht Neuburg/Donau vom 5. Oktober 2010 (2 Ls 33 Js 1607/10) wegen falscher uneidlicher Aussage zu 3 Jahren 6 Monaten Jugendstrafe (unter Einschluss des Urteils des AG Bamberg vom 14. Mai 2009) keine Tatsachen ersichtlich, die für die Unzuverlässigkeit des Klägers sprechen.
Über nähere Erkenntnisse zu der der Verurteilung wegen falscher uneidlicher Aussage zugrundeliegenden Tat des Klägers verfügt das Landratsamt offenbar nicht, jedenfalls lassen sich der vorliegenden Behördenakte keine entsprechenden Informationen entnehmen. Einen konkreten Bezug zum ausgeübten Gewerbe weist die gegen die wahrheitsgemäße Tatsachenfeststellung in – zumeist gerichtlichen – Beweisverfahren gerichtete Straftat der falschen uneidlichen Aussage nicht auf. Überdies lag die Verurteilung zum Zeitpunkt der Gewerbeuntersagung bereits 10 Jahre zurück. Es war deshalb im gerichtlichen Verfahren anzunehmen, dass sich insoweit keine handfesten Erkenntnisse mehr für die heutige Prognose der Zuverlässigkeit des Klägers ergeben. Eine weitere Sachaufklärung hat sich dem Gericht diesbezüglich nicht aufgedrängt.
2.1.1.5 Schließlich lassen die vier noch im Führungszeugnis eingetragenen rechtskräftigen Verurteilungen des Klägers auch bei einer Gesamtschau der Verfehlungen nicht die Annahme zu, dass gerade die Häufung der Straftaten auf einen generellen Hang zur Missachtung geltender Vorschriften schließen lässt. Es besteht deshalb nicht die Besorgnis, der Kläger werde sich als Gewerbetreibender nicht ordnungsgemäß verhalten, weil er die Allgemeinheit schützende Normen im Bereich seiner gewerblichen Betätigung missachten wird.
Bei der Prüfung, ob der Kläger möglicherweise generell einen Hang zur Delinquenz besitzt, ist zu beachten, dass die abgeurteilten Taten – namentlich der Überfall auf die Spielothek und die falsche uneidliche Aussage – teilweise über 10 Jahre zurückliegen. Der Kläger hat diese Straftaten noch in jugendlichem Alter und überdies lange Zeit vor Aufnahme seiner gewerblichen Betätigung begangen. Bei der Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Klägers kann diesen keine maßgebende Bedeutung für die zukunftsgerichtete Frage der heutigen Zuverlässigkeit mehr beigemessen werden. Die bereits fünf Jahre zurückliegende Verurteilung wegen vorsätzlicher Körperverletzung, Bedrohung und Beleidigung erfolgte im Zusammenhang mit einer konfliktreichen Beziehung. Was die jüngste Verurteilung des Klägers wegen Beihilfe zum vorsätzlichen unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge anbelangt, so hat das LG Bamberg in seinem Urteil mit der Anwendung des § 35 BtMG implizit festgestellt, dass eine beim Kläger vorhandene Betäubungsmittelabhängigkeit ursächlich für die Begehung der Tat war. Die zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses bereits erfolgte Überwindung der Sucht muss daher bei der gewerberechtlichen Prognose Berücksichtigung finden. Dabei ist zu beachten, dass der Kläger bereits vom 5. August 2019 bis zum 31. Januar 2020 eine stationäre Entwöhnungsbehandlung durchlaufen und erfolgreich abgeschlossen hatte (vgl. den ärztlichen Entlassbericht der bwlv -Fachklinik Schloss Eichelsdorf). Die Vollstreckung des Strafrests der verhängten Freiheitsstrafe des Klägers wurde deshalb mit Beschluss des LG Bamberg vom 10. September 2020 zur Bewährung ausgesetzt, und zwar mit dem Hinweis, dass der Kläger die Fähigkeit zur Abstinenz von Drogen erworben hat. Zwar kommt der dem Bewährungsbeschluss zugrundeliegenden günstigen Prognose nach § 36 Abs. 1 Satz 3 BtMG keine Bindungswirkung für die Prüfung der gewerberechtlichen Zuverlässigkeit zu (vgl. BayVGH, B.v. 24.11.2016 – 22 ZB 16.1784 – GewArch 2017, 162 zu § 56 Abs. 1 Satz 1 StGB). Die Aussetzung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung ist für die gewerberechtliche Zuverlässigkeitsprognose jedoch von tatsächlichem Gewicht (vgl. BayVGH, B.v. 2.7.2014 – 22 CS 14.1186 – juris Rn. 16 m.w.N.). Insoweit überschneiden sich vorliegend die in die strafvollstreckungsrechtliche und gewerberechtliche Prognose einzustellenden Erwägungen. Da der Kläger – wie es auch das LG Bamberg konstatiert – dank seiner Therapie die für seine Straffälligkeit ursächliche Drogensucht überwunden hat (was – ohne dass es hierauf tragend ankommt – durch nach Bescheiderlass im Rahmen der Bewährungskontrolle eingeholte Haaranalysen vom 18.12.2020 und vom 30.3.2021 bestätigt wird), war der nach dem Urteil des LG Bamberg maßgebliche Antrieb für die vom Kläger begangene Beihilfe zum Betäubungsmittelhandel entfallen.
Wenngleich das Gericht nicht verkennt, dass der Kläger in der Vergangenheit aufgrund mehrfacher gravierender Delikte strafrechtlich in Erscheinung getreten ist, bestehen dennoch letztlich keine überzeugenden Gründe, dass ihm zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses aufgrund der noch im Führungszeugnis eingetragenen Verurteilungen ein genereller und sich damit auf die gewerberechtliche Zuverlässigkeit auswirkender Hang zur Missachtung von Vorschriften anzulasten war.
2.1.2 Die übrigen Einträge des Klägers auf der im Untersagungsverfahren eingeholten „Erkenntnisliste“ der PI Haßfurt vom 16. September 2020 mit Auskünften über den Kläger aus der Vorgangsverwaltung der Bayerischen Polizei (IGVP) sowie dem Informationssystem der Polizei (INPOL) stellen für sich genommen keine Tatsachen dar, die eine gewerberechtliche Unzuverlässigkeit begründen können.
Die von der PI H. dem Landratsamt im Rahmen des Gewerbeuntersagungsverfahrens auf Anfrage übermittelte „Erkenntnisliste“ stützt weder ergänzend noch tragend die Besorgnis, der Kläger werde sein Gewerbe in Zukunft nicht ordnungsgemäß ausüben. Da nach dem ausdrücklichen Hinweis der PI Haßfurt der Ausgang der aufgeführten Ermittlungsverfahren nicht bekannt ist, kann den Vorgangsmitteilungen (allenfalls) der Tatsachengehalt entnommen werden, dass der Kläger nach entsprechender Anzeige in der Vergangenheit im Rahmen diverser polizeilicher und staatsanwaltschaftlicher Verfahren als Beschuldigter geführt wurde. Eine gewerberechtliche Unzuverlässigkeit des Gewerbetreibenden kann daraus jedoch per se noch nicht folgen. Zwar setzt eine Berücksichtigung strafrechtlich relevanten Verhaltens im Gewerbeuntersagungsverfahren nicht notwendig voraus, dass Strafanzeigen gegen den Gewerbetreibenden tatsächlich von der Staatsanwaltschaft verfolgt werden oder dass diese schließlich gar zu einer Verurteilung führen. Indes ist im Rahmen des § 35 Abs. 1 GewO im Zusammenhang mit strafrechtlichen Vorwürfen schon nicht lediglich das Strafurteil die Tatsache, die eine gewerberechtliche Unzuverlässigkeit dartut, sondern stets das Verhalten des Betroffenen (vgl. BVerwG, B.v. 23.5.1995 – 1 B 78.95 – juris Rn. 5; OVG NW, B.v. 23.4. 2015 – 4 A 955/13 – juris Rn. 13; OVG SH, B.v. 9.11.2020 – 5 MB 29/20 – NVwZ-RR 2021, 619 Rn. 7). Genügt demnach für die Annahme einer Unzuverlässigkeit von vorneherein nicht der bloße Verweis auf eine oder mehrere Verurteilungen, genügt erst Recht nicht eine pauschale Bezugnahme auf Einträge des Gewerbetreibenden auf einer polizeilichen Vorgangsliste (hier: IGVP oder INPOL).
Will die Gewerbebehörde strafrechtlich relevantes Verhalten des Gewerbetreibenden, das auf einer polizeilichen Verfahrensliste dokumentiert wurde, einer Zuverlässigkeitsprognose nach § 35 Abs. 1 Satz 1 GewO zugrunde legen, muss sie stets die genauen Umstände des jeweiligen Vorfalls in Erfahrung bringen – insbesondere durch Beiziehung der Verfahrensakten. Die so gewonnenen Erkenntnisse muss sie anschließend mit Blick auf das künftig zu erwartende Verhalten des Gewerbetreibenden im konkret ausgeübten Gewerbe würdigen (vgl. BayVGH, B.v. 20.7.2016 – 22 ZB 16.284 – juris Rn. 10 m.w.N.; VG Würzburg, U.v. 22.7.2020 – 6 K 20.380 – BeckRS 2020, 21019 Rn. 19). Bringt die Gewerbebehörde die den Einträgen zugrundeliegenden Lebenssachverhalte, das dabei jeweils zu Tage getretene Verhalten des Gewerbetreibenden sowie den Ausgang der Verfahren nicht in Erfahrung, kann alleine der anhand einer polizeilichen „Erkenntnisliste“ festgestellte Umstand, dass mehrfach und gehäuft Strafverfahren gegen den Betroffenen geführt wurden, nicht zu der Schlussfolgerung führen, der Gewerbetreibende weise einen Hang zur Missachtung der Rechtsordnung auf und verstoße beharrlich gegen geltendes Recht.
Hinzu kommt, dass die „Erkenntnisliste“ der PI H. zum Teil zeitlich bereits sehr weit zurückreichende Vorgänge aufführt, sodass sich der Gewerbebehörde die im Bescheid nicht näher erörterte Frage der Verwertbarkeit der älteren Einträge hätte aufdrängen müssen. Das Landratsamt wies im Rahmen der Klageerwiderung zwar richtigerweise darauf hin, dass sich § 35 GewO keine explizite Frist für die Verwertbarkeit strafrechtlichen Verhaltens entnehmen lässt und im Einzelfall auch länger zurückliegendes strafrechtliches Fehlverhalten Eingang in die Prüfung der Unzuverlässigkeit finden kann. Eine äußerste zeitliche Grenze für die Heranziehung von Straftaten bei der Beurteilung der Zuverlässigkeit des Gewerbetreibenden begründet jedoch das für eine Gewerbeuntersagung nach § 35 Abs. 1 Satz 1 GewO uneingeschränkt zu beachtende Verwertungsverbot des § 51 Abs. 1 Bundeszentralregistergesetz – BZRG (vgl. Heß in Friauf, GewO, Stand Juni 2021, § 35 Rn. 177; Ennuschat in Ennuschat/Wank/Winkler, GewO, 9. Aufl. 2020, § 35 Rn. 42, jeweils m.w.N.). Danach dürfen die Tat und die Verurteilung dem Betroffenen im Rechtsverkehr nicht mehr vorgehalten und nicht zu seinem Nachteil verwertet werden, wenn die Eintragung über eine Verurteilung im Register getilgt worden oder zu tilgen ist.
Zwar setzt das Verwertungsverbot des § 51 Abs. 1 BZRG im Bundeszentralregister getilgte oder tilgungsreife Eintragungen von Verurteilungen voraus. Soweit den älteren Einträgen des Klägers auf der „Erkenntnisliste“ der PI Haßfurt – was anzunehmen ist – nicht nur Strafverfahren zugrunde liegen, die mit einer Eintragung im Bundezentralregister endeten, sondern auch solche, die zu Verfahrenseinstellungen führten, ist es für die Zulässigkeit der Verwertung der Verfehlungen gleichwohl nicht bedeutungslos, ob bei letzteren bereits Tilgungsreife eingetreten wäre, wenn eine ihretwegen erfolgte Ahndung in das Bundeszentralregister hätte eingetragen werden können. Dem Schutzzweck des § 51 Abs. 1 BZRG, die Eingliederung des Betroffenen in die Gesellschaft nicht unnötig zu gefährden, entspricht es nämlich, auch eine Straftat, die nicht zu einer Verurteilung geführt hat und nicht mehr zu einer Verurteilung führen kann, grundsätzlich unberücksichtigt zu lassen, wenn die Verfehlung länger zurückliegt und im Falle einer Verurteilung aller Voraussicht nach bereits Tilgungsreife eingetreten wäre. Daher ist es gerechtfertigt, solchen nicht rechtskräftig geahndeten strafrechtlichen Verfehlungen bei der Beurteilung der gewerberechtlichen Zuverlässigkeit aus Gründen der Bewährung regelmäßig kein Gewicht mehr beizumessen, sobald sie länger zurückliegen, wobei eine Orientierung an den mutmaßlichen Ablauf von Tilgungsfristen des Bundeszentralregistergesetzes als äußere Grenze sachgerecht erscheint (vgl. zum Ganzen BVerwG, U.v. 26.3.1996 – 1 C 12/95 – NJW 1997, 336 hinsichtlich des Widerrufs einer waffenrechtlichen Erlaubnis; siehe jüngst OVG SH, B.v. 9.11.2020 – 5 MB 29/20 – NVwZ-RR 2021, 619 Rn. 9).
Selbst wenn den älteren Einträgen des Klägers auf der „Erkenntnisliste“ ab 2008 (auch) Verfahren zugrunde liegen, die ehedem zu einer oder mehreren inzwischen gelöschten Eintragung im Bundeszentralregister geführt haben, waren diese zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses aufgrund zwischenzeitlicher Tilgung nicht mehr verwertbar. Entsprechendes dürfte in Anlehnung an § 51 Abs. 1 BZRG aufgrund mutmaßlich eingetretener hypothetischer Tilgungsreife gelten, soweit die auf der „Erkenntnisliste“ aufgeführten „Altverfahren“ zu keiner Eintragung im Bundeszentralregister führten.
2.1.3 Für sich genommen genügt schließlich auch die vom Landratsamt in Bezug genommene Mitteilung des Jobcenters Haßberge vom 28. September 2020 nicht für die Annahme der Unzuverlässigkeit des Klägers.
Das Jobcenter teilte dem Landratsamt im genannten Schreiben auf Rückfrage im Wesentlichen mit, der Kläger habe seine seit 1. Mai 2020 begonnene Selbstständigkeit erst am 10. Juni 2020 auf Nachfrage mitgeteilt. Das bereits seit 2. Januar 2020 begonnene Gewerbe sei nachträglich durch das Gewerbeamt bekannt geworden. Nachweise und Belege zur Selbstständigkeit sowie der Gesellschaftervertrag seien trotz Aufforderung nicht vorgelegt worden, weshalb der Antrag auf Weiterbewilligung zur Zahlung von Arbeitslosengeld II abgelehnt worden sei.
Es bestehen darüber hinaus keine Erkenntnisse, wonach das Jobcenter den Kläger aufgrund unberechtigt gezahlter Sozialleistungen in Anspruch genommen oder gar angezeigt hätte. Selbst wenn dem Kläger nach Maßgabe der Mitteilung des Jobcenters vorzuwerfen ist, dass er seine Selbstständigkeit nicht rechtzeitig angezeigt und Nachweise auf Aufforderung nicht erbracht hat, fallen die im Schreiben vom 28. September 2020 geschilderten Versäumnisse nicht im Ansatz derart gravierend ins Gewicht, dass der Kläger schon deswegen als unzuverlässig für eine gewerbliche Betätigung anzusehen wäre und ihm das Gewerbe untersagt werden müsste.
2.2 Da die in Nr. 1 des Bescheids vom 27. Oktober 2020 gemäß § 35 Abs. 1 Satz 1 GewO ausgesprochene Untersagung der vom Kläger ausgeübten Gewerbe mithin rechtswidrig ist, kann auch die in Nr. 2 des Bescheids verfügte Erweiterung der Untersagung gemäß § 35 Abs. 1 Satz 2 GewO auf sämtliche stehende Gewerbe sowie entsprechende Leitungs- und Vertretungstätigkeiten nicht aufrechterhalten werden. Denn die erweiterte Untersagung nach § 35 Abs. 1 Satz 2 GewO setzt im Sinne einer Akzessorietät eine rechtmäßige Untersagung des ausgeübten Gewerbes nach § 35 Abs. 1 Satz 1 GewO voraus (vgl. Marcks in Landmann/Rohmer, GewO, Stand September 2020, § 35 Rn. 88 f. m.w.N.).
3. Der Bescheid vom 27. Oktober 2020 erweist sich mithin insgesamt als rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Er war somit gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO aufzuheben und der Klage war mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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