Steuerrecht

Rücknahme der Genehmigung zur Ist-Versteuerung

Aktenzeichen  14 K 2375/16

Datum:
25.10.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
EFG – 2019, 485
Gerichtsart:
FG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Finanzgerichtsbarkeit
Normen:
UStG § 1 Abs. 1 Nr. 1, 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a S. 4, § 16 Abs. 1 Satz 1, § 20 Abs. 1 S. 1 Nr. 1
FGO § 135 Abs. 1

 

Leitsatz

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Die Revision wird zugelassen.

Gründe

I.
Die Klägerin ist eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts, die am 20. September 2011 durch zwei Gesellschafter gegründet wurde. Einer der Gesellschafter ist laut dem Gesellschaftsvertrag alleinvertretungsberechtigter Geschäftsführer.
Mit Vertrag vom 15. September 2011 erwarb die Klägerin von einer GmbH die Projektrechte einer Fotovoltaikanlage in X.
Im Fragebogen zur steuerlichen Erfassung, den ihr Geschäftsführer am 27. September 2011 unterschrieb und der am 10. Oktober 2011 beim Beklagten (dem Finanzamt – FA -) einging, gab sie u.a. eine geschätzte Summe der Umsätze für das Jahr der Betriebseröffnung in Höhe von 30.000 € und im Folgejahr in Höhe von 100.000 € an; ferner beantragte sie die Besteuerung nach den vereinnahmten Entgelten (Ist-Versteuerung), weil sie von der Verpflichtung, Bücher zu führen und aufgrund jährlicher Bestandsaufnahmen regelmäßig Abschlüsse zu machen nach § 148 der Abgabenordnung (AO) befreit sei. Das FA bat mit Schreiben vom 20. Oktober 2011 unter anderem um die Unterschrift des 2. Gesellschafters auf dem Fragebogen.
Am 28. Oktober 2011/2. November 2011 schloss die Klägerin mit einer Aktiengesellschaft (AG) einen Vertrag über die Errichtung eines Fotovoltaik-Parks in X ab, wonach sich die AG verpflichtete, den Park zu errichten. Nach dem vereinbarten Bauzeitenplan sollte die Konstruktion der Fotovoltaikanlage im Jahr 2011 abgeschlossen sein und weitere Arbeiten im Jahr 2012 durchgeführt werden.
Außerdem vereinbarten die Klägerin und die G GmbH am 15. November 2011 einen Vertrag über die Errichtung und den Kauf einer Fotovoltaikanlage. Darin verpflichtete sich die Klägerin als Generalunternehmerin u.a. dazu, die Fotovoltaikanlage entsprechend dem Angebot schlüsselfertig zu errichten. Vereinbart wurde eine Gesamtvergütung in Höhe von 1.258.000 € zuzüglich Umsatzsteuer. Dabei sollte der Vergütungsanspruch nach Abschluss von Teilleistungen entstehen, nämlich nach der Montage aller Module auf den Modultischen in Höhe von 450.000 €, nach der Installation der Wechselrichterstation mit Vorbereitung für den Netzanschluss in Höhe von weiteren 450.000 € und nach einem Probebetrieb von 10 Monaten in Höhe von 358.000 €. Die Ansprüche sollten jeweils nur insoweit zur Zahlung fällig werden, als sie vom Besteller aus den laufenden Einnahmen der Stromeinspeisung beglichen werden könnten; die Fälligkeit wurde im Weiteren näher konkretisiert. Als spätester Zeitpunkt für die Inbetriebnahme der Fotovoltaikanlage war der 31. Dezember 2011 festgelegt. Im Falle des von der Klägerin zu vertretenden Überschreitens dieser Frist sollte derjenige Schaden, der durch eine Verringerung der Einspeisevergütung entstünde, pauschal durch eine Herabsetzung der Gesamtvergütung abgegolten werden.
Am 9. Dezember 2011 ging die nunmehr vom 2. Gesellschafter unterschriebene Kopie des Fragebogens zur steuerlichen Erfassung beim FA ein; der Geschäftsführer unterzeichnete nicht erneut.
Mit Bescheid vom 15. Dezember 2011 gestattete das FA unter dem Vorbehalt des jederzeitigen Widerrufs die Umsatzsteuer für ab dem 11. Oktober 2011 getätigte Umsätze nach vereinnahmten Entgelten zu berechnen. Zu Begründung führte es aus, es gehe davon aus, dass der Gesamtumsatz (§ 19 Abs. 3 des Umsatzsteuergesetzes in der Fassung der Streitjahre – UStG -) im vergangenen Kalenderjahr nicht mehr als 500.000 € betragen habe bzw. im Falle der Betriebseröffnung der voraussichtliche, auf einen Jahresbetrag umgerechnete Gesamtumsatz des laufenden Kalenderjahres diese Grenze voraussichtlich nicht überschreiten werde. Bei Unternehmern, die nach § 148 AO von der Verpflichtung, Bücher zu führen und aufgrund jährlicher Bestandsaufnahmen regelmäßig Abschlüsse zu machen, befreit seien, sei die Umsatzgrenze von 500.000 € unbeachtlich.
Die Klägerin stellte der G GmbH am 19. Dezember 2011 für die Montage aller Module auf den Modultischen eine Rechnung in Höhe von 450.000 € zzgl. 85.500 € Umsatzsteuer. Danach sei der Baufortschritt am 15. Dezember 2011 erreicht worden. Am gleichen Tag unterzeichneten die Vertragsparteien ein Abnahmeprotokoll, nach dem der Baufortschritt am 15. Dezember 2011 erzielt worden sei. Am 21. Dezember 2011 ging auf dem Konto der Klägerin eine Gutschrift der G GmbH in Höhe von 77.350 € auf die Rechnung ein. Die abgerechnete Leistung wurde tatsächlich jedenfalls noch im Jahr 2011 ausgeführt.
Am 27. März 2012 und am 11. Juni 2012 reichte die Klägerin Umsatzsteuererklärungen für das Jahr 2011 ein, in denen sie (vereinnahmte) Umsätze zu 19% in Höhe von 65.000 € angab; diesen Erklärungen stimmte das FA nicht zu.
Aufgrund einer Außenprüfung (Bericht vom 8. August 2012) nahm das FA mit Bescheid vom 8. August 2012 die Genehmigung der Ist-Versteuerung nach § 130 Abs. 2 Nr. 3 und 4 AO rückwirkend zurück.
Das FA setzte mit Bescheid vom 23 August 2012 die Umsatzsteuer auf 66.499,96 € fest. Dabei nahm es als Bemessungsgrundlage nicht die vereinnahmten Entgelte in Höhe von 65.000 €, sondern vereinbarte Entgelte in Höhe von 450.000 € an.
Gegen die Rücknahme der Ist-Versteuerung und den Bescheid über die Umsatzsteuer 2011 legte die Klägerin Einspruch ein.
In ihrer Umsatzsteuererklärung für das Jahr 2012 berücksichtigte sie Umsätze zu 19% in Höhe der vereinnahmten Entgelte (52.000 €) und berechnete eine Umsatzsteuer in Höhe eines Negativbetrags von 869,13 €. Das FA setzte entsprechend der zugleich vorgelegten Erklärung nach den vereinbarten Entgelten (808.000 €) die Umsatzsteuer für 2012 mit Bescheid vom 21. März 2014 auf 142.770,87 € fest. Hiergegen legte die Klägerin Einspruch ein.
Mit Einspruchsentscheidung vom 13. Juli 2016 wies das FA die Einsprüche als unbegründet zurück. Es führte näher aus, dass die Voraussetzungen gemäß § 130 Abs. 2 Nr. 4 AO vorlägen. Widerrufe das FA einen rechtswidrigen Verwaltungsakt, so genüge es im Allgemeinen, wenn der Widerruf mit der Rechtswidrigkeit begründet werde. Die Finanzbehörden seien dazu verpflichtet, unter Ausnutzung der verfahrensrechtlichen Möglichkeiten rechtswidrige oder rechtswidrig gewordene Verwaltungsakte zurückzunehmen bzw. zu widerrufen. Das FA habe demgemäß ermessensgerecht gehandelt. Diese Gestattung der Ist-Versteuerung sei rechtswidrig gewesen, weil der nach § 19 Abs. 3 UStG zu berechnende Gesamtumsatz im Jahr 2011 mehr als 500.000 € betragen habe. Im Streitfall könne dahinstehen, ob die Voraussetzungen des § 130 Abs. 2 Nr. 3 AO vorlägen, weil jedenfalls § 130 Abs. 2 Nr. 4 AO einschlägig sei.
Am 18. August 2016 erhob die Klägerin Klage. Sie ist der Auffassung, die Gestattung der Ist-Versteuerung sei rechtmäßig. Zum Zeitpunkt der Antragstellung (27. September 2011) sei noch nicht klar gewesen, ob und inwieweit die vertraglich vereinbarte Leistung überhaupt im Kalenderjahr 2011 erbracht werden könne. Ihr Geschäftsführer habe am 27. September 2011 davon ausgehen müssen, dass es im Jahr 2011 lediglich zu einer Anzahlung in Höhe von 30.000 € kommen werde. Zum Zeitpunkt der Gestattung sei an dieser Einschätzung festzuhalten gewesen. Insbesondere seien die von der Klägerin geschuldeten Leistungen am 15. Dezember 2011 nachweislich noch nicht erbracht gewesen; erst am 19. Dezember 2011 habe dem Netzbetreiber die Inbetriebsetzung der Module gemeldet werden können. Darüber hinaus sei im Rahmen des § 20 UStG im Jahr der Betriebsgründung der Umsatz nicht nach den vereinbarten Entgelten, sondern nach den vereinnahmten Entgelten zu berechnen; dies werde im Schrifttum einhellig vertreten; die gegenteilige Auffassung des Finanzgerichts – FG – Brandenburg in seinem Urteil vom 13. Januar 2004 1 K 3045/02 (Entscheidungen der Finanzgerichte – EFG – 2004, 857) sei nicht überzeugend. Selbst bei Annahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes lägen die Voraussetzungen des § 130 Abs. 2 AO nicht vor. Nr. 3 dieser Vorschrift sei nicht einschlägig, weil der Geschäftsführer zum Zeitpunkt der Antragstellung am 27. September 2011 von einem Gesamtumsatz in Höhe von 30.000 € habe ausgehen dürfen. Die Voraussetzungen des § 130 Abs. 2 Nr. 4 AO seien nicht erfüllt, weil dem Geschäftsführer allenfalls ersichtlich gewesen sei, dass der tatsächliche Gesamtumsatz des Jahres 2011 nicht lediglich 30.000 €, sondern auf Grundlage vereinnahmter Entgelte auf insgesamt 65.000 € beziffert werden könne. Um eine eventuelle Rechtswidrigkeit der erteilten Gestattung zu erkennen, hätte der Geschäftsführer darüber hinaus über umfassende und tiefgreifende steuerliche Fachkenntnisse verfügen müssen. Die Umsatzsteuer für 2011 und 2012 sei zu verringern, weil die Steuer nach den vereinnahmten Entgelten zu berechnen sei.
Die Klägerin beantragt,
1.den Bescheid über die Rücknahme der Ist-Besteuerung vom 15. Dezember 2011 und insoweit die Einspruchsentscheidung vom 13. Juli 2016 aufzuheben, sowie
2.den Bescheid über Umsatzsteuer für 2011 vom 23. August 2012 und den Bescheid über Umsatzsteuer für 2012 vom 21. März 2014 sowie insoweit die Einspruchsentscheidung vom 13. Juli 2016 dahingehend abzuändern, dass die Umsatzsteuer für 2011 auf einen Negativbetrag von 6.650,04 € und die Umsatzsteuer für 2012 auf einen Negativbetrag von 869,13 € festgesetzt wird.
Das FA beantragt,
die Klage abzuweisen.
Es verweist auf die Einspruchsentscheidung.
In der mündlichen Verhandlung am 25. Oktober 2018 erklärte der Geschäftsführer der Klägerin, er habe in seinem Fragebogen vom 27. September 2011 als Summe der Umsätze 30.000 € eingetragen, um eine von 0 € verschiedene Zahl anzugeben. Es habe keine konkrete Grundlage für diese Angabe gegeben. Die Klägerin habe zwar von Anfang an angestrebt, die Anlage bis zum 31. Dezember 2011 zu erstellen. Dies sei jedoch bei weitem nicht sicher gewesen, vor allem wegen der Bedingungen auf dem Grundstück, der Liefermöglichkeiten der Module und der Verfügbarkeit der Monteure.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die eingereichten Schriftsätze, die vorgelegten Behördenakten sowie die Niederschrift zur mündlichen Verhandlung am 25. Oktober 2018 Bezug genommen.
II.
Die Klage ist unbegründet.
1. Die rückwirkende Rücknahme der Gestattung der Ist-Versteuerung vom 15. Dezember 2011 ist rechtmäßig.
a) Die ursprüngliche Gestattung der Ist-Versteuerung vom 15. Dezember 2011 war bereits bei ihrem Erlass am 15. Dezember 2011 bzw. 19. Dezember 2011 rechtswidrig, so dass für deren Änderung § 130 AO maßgeblich ist.
Gemäß § 130 Abs. 1 AO kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Rechtswidrigkeit liegt vor, wenn bei seinem Erlass von einem tatsächlich nicht gegebenen Sachverhalt ausgegangen oder das im Zeitpunkt seines Erlasses geltende Recht unrichtig angewandt worden ist; eine nachträgliche Änderung der Sach- oder Rechtslage hingegen macht einen ursprünglich rechtmäßigen Verwaltungsakt grundsätzlich nicht im Sinne des § 130 AO rechtswidrig (Urteil des Bundesfinanzhofs – BFH – vom 9. Dezember 2008 VII R 43/07, BStBl II 2009, 344).
Die Voraussetzungen für eine Ist-Versteuerung waren von Anfang an nicht gegeben.
aa) Grundsätzlich hat der Unternehmer seine Steuer nach vereinbarten Entgelten zu berechnen (§ 16 Abs. 1 Satz 1 UStG, sog. Soll-Versteuerung). Gem. § 20 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 2 UStG kann das Finanzamt auf Antrag einem Unternehmer gestatten die Steuer nicht nach den vereinbarten Entgelten, sondern nach den vereinnahmten Entgelten zu berechnen, wenn dessen Gesamtumsatz (§ 19 Abs. 3 UStG) im vorangegangenen Kalenderjahr nicht mehr als 500.000 € betragen hat.
bb) Der Gesamtumsatz gemäß § 19 Abs. 3 UStG ist die Summe der vom Unternehmer ausgeführten steuerbaren Umsätze im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG abzüglich bestimmter dort genannter – hier nicht vorliegender – steuerfreier Umsätze. Soweit der Unternehmer die Steuer nach vereinnahmten Entgelten berechnet (§ 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a Satz 4 UStG oder § 20 UStG), ist auch der Gesamtumsatz nach diesen Entgelten zu berechnen (§ 19 Abs. 3 Satz 2 UStG). Hat der Unternehmer seine gewerbliche oder berufliche Tätigkeit nur in einem Teil des Kalenderjahres ausgeführt, so ist der tatsächliche Gesamtumsatz in einen Jahresumsatz umzurechnen (§ 19 Abs. 3 Satz 3 UStG). Angefangene Kalendermonate sind bei der Umrechnung als volle Kalendermonate zu behandeln, es sei denn, dass die Umrechnung nach Tagen zu einem niedrigeren Jahresgesamtumsatz führt.
cc) Hat der Unternehmer seine unternehmerische Tätigkeit erst im laufenden Jahr begonnen, so kommt es nicht auf die Verhältnisse des vorangegangenen Jahres, sondern auf die voraussichtlichen Verhältnisse des aktuellen Jahres an (FG Brandenburg in EFG 2004, 857; Umsatzsteuer-Anwendungserlass in der Fassung des Jahres 2011 – UStAE – 20.1 Abs. 4 Satz 2; Friedrich-Vache in Reiß/Kraeusel/Langer, UStG, Stand: 1. September 2018, § 20 Rz 11; Schüler-Täsch in Sölch/Ringleb, UStG, 83. Ergänzungslieferung Juni 2018, § 20 Rz 34; Müller in Weymüller, UStG, Stand: 17. September 2018, § 20 Rz 46.1; vgl. BFH-Beschluss vom 2. April 2009 V B 15/08, BFH/NV 2009, 1284 zu § 19 UStG).
dd) In diesem Fall sind die Umsätze nach den Grundsätzen der Soll-Besteuerung zu schätzen (FG Brandenburg in EFG 2004, 857; Michel in Birkenfeld/Wäger, Das große Umsatzsteuer-Handbuch, 81. Lieferung August 2018, § 224 Rz 38, Fußnote 3; a.A. Frye in Rau/Dürrwächter, UStG, 169. Lieferung Oktober 2018, § 20 Rz 161; Radeisen in Schwarz/Widmann/Radeisen, UStG, Stand: 16. August 2018, § 20 UStG Rz 54; Stadie, UStG, 3. Auflage 2015, § 20 Rz 13). Denn nach § 19 Abs. 3 Satz 2 UStG finden die Grundsätze der Ist-Versteuerung nur in den Fällen der Anzahlung (§ 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a Satz 4 UStG) und bei bereits erteilter Gestattung gem. § 20 Abs. 1 UStG Anwendung. Letztere liegt aber bei einem Antrag auf Ist-Versteuerung gerade noch nicht vor (vgl. FG Brandenburg in EFG 2004, 857). Eine von Friedrich-Vache in Reiß/Kraeusel/Langer, UStG, § 20 UStG Rz. 11 angenommene Benachteiligung des Neugründers gegenüber dem Unternehmer, der bereits im Vorjahr tätig war, liegt nicht vor; denn auch bei Letzterem ist bei einem Antrag auf Ist-Versteuerung der Gesamtumsatz grundsätzlich nach der Soll-Versteuerung zu berechnen. Beide Fälle unterscheiden sich nur dadurch, dass es bei dem Neugründer mangels Vorjahres auf die Verhältnisse des laufenden Jahres ankommt. Systematische Gründe sprechen hier nicht – wie Radeisen in Schwarz/Widmann/Radeisen, UStG, Stand: 16. August 2018, § 20 UStG Rz 54 annimmt – gegen eine Schätzung nach der Soll-Versteuerung, sondern aus den genannten Gründen und deswegen dafür, weil ansonsten die mögliche Rechtsfolge der Ist-Versteuerung bereits bei der Prüfung von deren Voraussetzungen berücksichtigt würde.
ee) Nach der hier anzustellenden Prognose zum Zeitpunkt des Erlasses der Gestattung für die Ist-Vesteuerung am 15. Dezember 2011 bzw. 19. Dezember 2011 war ein höherer Gesamtumsatz als 500.000 € für das Jahr 2011 zu erwarten. Denn gem. dem Vertrag vom 15. November 2011 war als spätester Zeitpunkt für die Inbetriebnahme der Photovoltaikanlage der 31. Dezember 2011 festgelegt. Bereits für die erste Teilleistung (Montage der Module auf den Modultischen) war ein Entgelt in Höhe von 450.000 € vereinbart. Dementsprechend stellte die Klägerin der G GmbH am 19. Dezember 2011 eine Rechnung über 450.000 € aus. Ob die Leistung – wie dort und in der Abnahmeverpflichtung ausgeführt – bereits am 15. Dezember 2011 ausgeführt wurde, ist ohne Bedeutung. Denn maßgeblich ist, dass die Klägerin plante, diese im Jahr 2011 zu erbringen.
Mithin ist von einem voraussichtlichen Umsatz von September bis Dezember 2011 mit einer Bemessungsrundlage in Höhe von mindestens 450.000 € auszugehen. Umgerechnet auf das Gesamtjahr beträgt demnach der maßgebliche Gesamtumsatz mindestens 1.350.000 €.
ff) Zudem sind auch die weiteren Gestattungstatbestände für die Ist-Versteuerung nicht einschlägig. Das FA kann die Ist-Versteuerung gem. § 20 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 UStG demjenigen gestatten, der von der Verpflichtung Bücher zu führen und aufgrund jährlicher Bestandsaufnahmen regelmäßig Abschlüsse zu machen, nach § 148 AO befreit ist. Die Vorschrift findet keine Anwendung auf Unternehmen, die gem. § 141 AO gar nicht der Buchführungspflicht unterliegen (BFH-Urteil vom 11. Februar 2010 V R 38/08, BStBl II 2010, 873). Die Klägerin hat hier keine Befreiung nach § 148 AO. Darüber hinaus übt sie keinen freien Beruf aus, so dass auch eine Gestattung nach § 20 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UStG ausscheidet.
b) Die Voraussetzungen für die rückwirkende Rücknahme gemäß § 130 Abs. 2 AO liegen vor.
Ein Verwaltungsakt, der – wie die Gestattung der Ist-Versteuerung – ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), darf unter anderem dann zurückgenommen werden, wenn ihn der Begünstigte durch Angaben erwirkt hat, die in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig waren (§ 130 Abs. 2 Nr. 3 AO).
Die Angaben des Begünstigten müssen lediglich objektiv unrichtig oder unvollständig sein. Auf ein vorsätzliches oder fahrlässiges Handeln kommt es nicht an. Allerdings muss anzunehmen sein, dass das FA bei vollständiger Kenntnis des Sachverhalts den begünstigten Verwaltungsakt nicht bzw. so nicht erlassen hätte. Deshalb müssen die unrichtigen oder unvollständigen Angaben für den Erlass des begünstigenden Verwaltungsaktes von entscheidungserheblicher Bedeutung sein (BFH-Urteil vom 2. August 2006 XI R 57/04, BFH/NV 2007, 858, unter II.3.a).
Im Streitfall machte der Geschäftsführer am 27. September 2011 in dem Fragebogen zur steuerlichen Erfassung die unrichtige Angabe, dass die geschätzte Summe der Umsätze für das Jahr der Betriebseröffnung 30.000 € sei.
Dieser Betrag war jedenfalls unzutreffend, weil es für ihn – wie der Geschäftsführer in der mündlichen Verhandlung einräumte – keine Grundlage gegeben hat. Der Geschäftsführer hat erklärt, er habe diesen Betrag eingetragen, um eine von 0 € verschiedene Zahl anzugeben.
Darüber hinaus hätte die Klägerin die Umsätze entsprechend ihrer Planung angeben müssen. Sie hatte nach den Einlassungen ihres Geschäftsführers in der mündlichen Verhandlung vom 25. Oktober 2018 von vornherein vor, die Anlage bis spätestens 31. Dezember 2011 zu errichten. Hierzu verpflichtete sie sich auch später im Vertrag vom 15. November 2011. Demgegenüber ist nicht entscheidend, dass nach der Einlassung des Geschäftsführers vor allem wegen der Bedingungen auf dem Grundstück, der Liefermöglichkeiten der Module und der Verfügbarkeit der Monteure keineswegs sicher war, dass der Termin eingehalten werden könne. Denn unternehmerischen Tätigkeiten wohnt stets das Risiko inne, dass sie sich nicht verwirklichen lassen. Entscheidend für die Prognose sind vielmehr die konkreten unternehmerischen Planungen.
Diese falschen Angaben waren für die Gestattung der Ist-Versteuerung auch kausal, weil sie das FA bei vollständiger Kenntnis des Sachverhalts nicht erteilt hätte. In seinem Bescheid vom 15. Dezember 2011 führte es aus, es gehe davon aus, der Gesamtumsatz von 500.000 € werde nicht überschritten.
c) Unerheblich ist, dass das FA die Rücknahme in seiner Einspruchsentscheidung – anders als noch im Bescheid vom 8. August 2012 – nur auf § 130 Abs. 2 Nr. 4 AO gestützt hat und das Vorliegen der Voraussetzungen nach § 130 Abs. 2 Nr. 3 AO offen ließ. Zwar ist die Entscheidung nach § 130 Abs. 2 AO eine Ermessensentscheidung. Im Falle des § 130 Abs. 2 Nr. 3 AO handelt es sich aber dann um einen Fall des sog. intendierten Ermessens, wonach die Rücknahme grundsätzlich geboten ist, wenn der Begünstigte von der Unrichtigkeit seiner Angaben wusste oder zumindest hätte wissen können und müssen (vgl. BFH-Urteil vom 27. Oktober 2009 VII R 51/08, BStBl II 2010, 382, Rz 30; von Wedelstädt, Gosch, AO, 141. Lieferung 1. August 2018, § 130 Rz 58). Dies ist hier der Fall. Wie bereits ausgeführt, hat der Geschäftsführer eingeräumt, für die angegebene Höhe von 30.000 € keine Grundlage gehabt zu haben. Vielmehr hatte er geplant, bis Ende des Jahres die Anlage zu errichten. Er hat auch nicht – ohne darauf hinzuweisen – lediglich die voraussichtlichen Umsätze nach den vereinnahmten Entgelten angeben dürfen. Denn die Richtlinien der Verwaltung enthalten keinen Hinweis darauf, dass abweichend von § 19 Abs. 3 Satz 2 UStG die Ist-Versteuerung maßgeblich sein soll. Im Zweifel hätte sich der Geschäftsführer beim steuerlichen Berater der Klägerin erkundigen müssen.
Demnach hatte das FA – wovon es in seiner Einspruchsentscheidung vom 13. Juli 2016 auch ausging – die Gestattung zur Ist-Versteuerung grundsätzlich und so auch im Streitfall zurückzunehmen. Auf das Vorliegen der Voraussetzungen des § 130 Abs. 2 Nr. 4 AO kommt es nicht an.
2. Da die Steuer mithin für die Jahre 2011 und 2012 nach den vereinbarten Entgelten zu berechnen war, sind die Festsetzungen des FA für diese Jahre rechtmäßig.
3. Die Kostentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO).
4. Die Revision wird gem. § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zugelassen, weil die Frage, ob im Rahmen des § 20 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG auch im Gründungsjahr der Gesamtumsatz grundsätzlich nach vereinbarten Entgelten zu bestimmen ist, höchstrichterlich noch nicht entschieden ist.


Ähnliche Artikel

Steuererklärung für Rentner

Grundsätzlich ist man als Rentner zur Steuererklärung verpflichtet, wenn der Grundfreibetrag überschritten wird. Es gibt allerdings Ausnahmen und Freibeträge, die diesen erhöhen.
Mehr lesen

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen


Nach oben