Strafrecht

Ausweisung, Bewährung außerhalb des Maßregelvollzugs

Aktenzeichen  W 7 K 20.1267

Datum:
19.4.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 41781
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 53 Abs. 1
AufenthG § 54 Abs. 1 Nrn. 1, 1a

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Bescheid vom 28. August 2020 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Der Beklagte hat den Kläger zu Recht aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen (1.) und die Wirkungen der Ausweisung auf sechs Jahre, für den Fall der Nichterfüllung der Bedingung einer nachweislichen Straffreiheit auf acht Jahre befristet (2.).
1. Die Ausweisung des Klägers aus dem Bundesgebiet (Ziffer 1) ist rechtmäßig und der Kläger wird dadurch nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Maßgeblicher Zeitpunkt für die verwaltungsgerichtliche Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder der Entscheidung des Tatsachengerichtes (vgl. BVerwG, U.v. 30.7.2013 – 1 C 9/12, InfAuslR 2013, 418, Rn. 8; U.v. 10.7.2012 – 1 C 19/11, BVerwGE 143, 277, Rn. 12 m. w. N.).
1.1. Nach § 53 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer ausgewiesen, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt. Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Die in § 53 Abs. 1 AufenthG tatbestandlich vorausgesetzte Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ist beim Kläger gegeben.
Für die Feststellung der Wiederholungsgefahr gilt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ein differenzierender Wahrscheinlichkeitsmaßstab, wonach an die Wahrscheinlichkeit des Schadeneintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11, juris Rn. 16; U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11, juris Rn. 18). Bei dieser Prognose sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsgutes sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (BVerwG, U.v. 4.5.1990 – 1 B 82.89, juris Rn. 5; BayVGH, B.v. 25.5.2010 – 19 ZB 09.1988, AuAS 2010, 161 ff.). Für die Annahme einer Wiederholungsgefahr muss dem Ausweisungsanlass ein besonderes Gewicht zukommen, das sich bei Straftaten aus ihrer Art, Schwere und Häufigkeit ergibt. Zum anderen müssen Anhaltspunkte dafür bestehen, dass neue strafrechtliche Verfehlungen des Ausländers ernsthaft drohen und damit von ihm eine bedeutsame Gefahr für ein wichtiges Schutzgut ausgeht. Sind durch das Verhalten des Ausländers Rechtsgüter von erheblicher Bedeutung verletzt worden, reicht wegen des möglichen Schadensausmaßes bei einer erneuten strafrechtlichen Verfehlung vergleichbarer Art eine geringe Eintrittswahrscheinlichkeit für die Bejahung der Wiederholungsgefahr aus (vgl. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10/12, NVwZ-RR 2013, 435 ff.; BayVGH, U.v. 3.2.2015 – 10 BV 13.421, BeckRS 2015, 43077).
Bei Straftaten, die auf einer Suchterkrankung des Ausländers beruhen, kann nach der ständigen Rechtsprechung des Bayer. Verwaltungsgerichtshofs von einem Wegfall der für die Ausweisung erforderlichen Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen hat und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat (siehe z.B. BayVGH, B.v. 16.2.2018 – 10 ZB 17.2063 – juris Rn. 10; BayVGH, B.v. 7.2.2018 – 10 ZB 17.1386 – juris Rn. 10; BayVGH, U.v. 3.2.2015 – 10 B 14.1613 – juris Rn. 32 m.w.N.). Denn solange sich der Ausländer nicht außerhalb des Straf- bzw. Maßregelvollzugs bewährt hat, kann nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung geschlossen werden, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen würde (BayVGH, B.v. 13.10.2017 – 10 ZB 17.1469 – juris Rn. 12; BayVGH, B.v. 6.5.2015 – 10 ZB 15.231 – juris Rn. 11).
Gemessen daran besteht nach Auffassung der Kammer eine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger weitere schwere Straftaten begehen wird. Angesichts der vom Kläger begangenen Delikte, die auf Alkohol- und Drogenabhängigkeit des Klägers zurückzuführen sind, und die in erheblicher Weise die besonders schutzwürdigen Rechtsgüter der körperlichen Unversehrtheit Dritter und der sexuellen Selbstbestimmung (vgl. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) beeinträchtigen, genügt bereits eine geringe Wiederholungsgefahr. Zwar sieht die Kammer durchaus die positive Entwicklung des Klägers im Maßregelvollzug, aus dem der Kläger mittlerweile entlassen ist. Mit Beschluss des Landgerichts Würzburg – Strafvollstreckungskammer – vom 9. November 2020, mit dem die weitere Vollstreckung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt und der Rest der Gesamtfreiheitsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts Würzburgs vom 7. Dezember 2017 zur Bewährung ausgesetzt werden, ist ausgeführt, dass zu erwarten ist, dass der Betroffene außerhalb des Maßregelvollzugs keine erheblichen rechtswidrigen Taten mehr begehen werde. Gleichwohl wurde der Kläger für die Dauer von fünf Jahren der Führungsaufsicht unterstellt; die Weisungen, sich unter anderem regelmäßigen Alkohol- und Suchtmittelkontrollen zu unterziehen und sich mindestens einmal pro Monat im Bezirkskrankenhaus L … … vorzustellen, sollen nach den Ausführungen im Beschluss „den Betroffenen dabei unterstützen, die Ziele der Führungsaufsicht verlässlicher zu erreichen und ihn insbesondere vor der Begehung neuer Straftaten abhalten und ihn in seiner Lebensführung unterstützen“. Weiter wird ausgeführt, dass die Abstinenz und Kontrollweisung das bestehende Rückfallrisiko reduzieren solle, da aufgrund der Vorgeschichte des Klägers sowie der Anlasstaten auch nach fachpsychiatrischer Einschätzung die Wahrscheinlichkeit bestehe, dass es erneut zu strafbaren Handlungen im Zusammenhang mit dem Konsum von Rauschmitteln kommen könne. Auch die Therapieweisung sei erforderlich, um die Therapieerfolge der Unterbringung zu konservieren und Rückfällen vorzubeugen.
Bereits diese Ausführungen belegen, dass die Wiederholungsgefahr zwar reduziert ist, aber keineswegs entfallen ist. Vielmehr sollen die genannten Maßnahmen gerade dazu führen, dass der Kläger keine weiteren Straftaten begeht; eine Prognose dahingehend, dass eine Alkohol- und Drogenabstinenz zu erwarten ist und die Wiederholungsgefahr damit entfällt, enthalten diese Ausführungen gerade nicht, zumal die in der Rechtsprechung (s.o.) geforderte Bewährung außerhalb des Maßregelvollzugs noch nicht gegeben ist. Maßgeblich für die Prognose außerhalb des Maßregelvollzugs ist nach Auffassung der Kammer der Bericht des Krankenhauses für Psychiatrie, Psychotherapie und psychosomatische Medizin L … … vom 4. März 2021. Darin ist ausgeführt, dass die therapeutischen Kontakte derzeit ein- bis zweimal pro Monat stattfinden, ebenso wie die pflegerischen Kontakte und Drogenscreenings. Um den Kläger in Bezug auf seine Störung zu stabilisieren und so die Rückfallwahrscheinlichkeit in eigen- und fremdgefährdendes Verhalten gering zu halten, würden mit ihm seine in der stationären Therapie erarbeiteten Rückfallpräventionsstrategien rekapituliert, weiter implementiert und gegebenenfalls lebenspraktisch erweitert. Die Legalprognose sei unter der Bedingung einer weiteren strengen Alkohol- und Drogenabstinenz in Kombination mit einer regelmäßigen therapeutischen Anbindung günstig. Durch eine veränderte Wohnsituation mit der Möglichkeit, einer sinnstiftenden Tätigkeit/Arbeit nachzugehen, könnte der Kläger in Bezug auf seine Störungen zusätzlich stabilisiert und das Risiko delikthaften Verhaltens weiter reduziert werden. Diese Ausführungen belegen, dass das Risiko delikthaften Verhaltens gerade weiterbesteht. Alkohol- und Drogenabstinenz werden als Voraussetzung für ein straffreies Verhalten genannt; gleichwohl ist keine Aussage dazu getroffen, ob von einer künftigen Alkohol- und Drogenabstinenz ausgegangen werden kann. Ebenso wenig ist davon auszugehen, dass es in absehbarer Zukunft zu einer veränderten Wohnsituation mit der Möglichkeit einer sinnstiftenden Tätigkeit/Arbeit kommen wird, was als wünschenswert erachtet wird, um das Risiko delikthaften Verhaltens weiter zu reduzieren. Denn es ist weder ersichtlich, weswegen ein Umzug aus der Gemeinschaftsunterkunft in K …, die der Kläger derzeit bewohnt, veranlasst werden sollte bzw. dass es dem Kläger möglich sein wird, einer Arbeit nachzugehen. Wie von der Beklagtenvertreterin in der Sitzung ausgeführt wurde, liegt der Ablehnung der Beschäftigungserlaubnis für den Kläger insbesondere die Tatsache zugrunde, dass der Kläger über keine Papiere verfügt und keine Anhaltspunkte für die Beschaffung der Papiere in der Vergangenheit oder auch aktuell zu erkennen sind. Nachdem der Kläger in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat, bezüglich der Passbeschaffung gebe es noch „viele Probleme“, ist nicht ersichtlich, dass ihm demnächst eine Erwerbstätigkeit erlaubt werden kann (vgl. auch § 60b Abs. 5 Satz 2 AufenthG). Hierzu hat der Kläger ausgeführt, er würde gerne arbeiten, denn er „sitze den ganzen Tag in seinem Zimmer“. Diese Umstände erhöhen aus Sicht der Kammer wiederum das – ohnehin schon bestehende – Risiko, dass es beim Kläger wieder zu Alkohol- oder Drogenkonsum und damit zu weiteren Straftaten kommen kann. Nachdem auch im persönlichen Umfeld des Klägers keine stabilisierenden Faktoren, wie etwa eine feste Beziehung, vorgetragen oder ersichtlich sind, ist nach wie vor prognostisch von einer Wiederholungsgefahr auszugehen.
Generalpräventive Erwägungen tragen ebenfalls die Ausweisung des Klägers. Nach der Rechtsprechung ist es grundsätzlich zulässig, eine Ausweisung mit generalpräventiven Erwägungen zu begründen (vgl. BVerwG, U.v. 9.5.2019 – 1 C 21/18 – juris m.w.N.), sofern nicht die Voraussetzungen von § 53 Abs. 3, 3a und 3b AufenthG vorliegen, was vorliegend nicht der Fall ist. Die Ausweisung eines Ausländers kann auch ausschließlich auf generalpräventive Gründe gestützt werden. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass jedes generalpräventive Ausweisungsinteresse mit zunehmendem Zeitabstand an Bedeutung verliert und ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr herangezogen werden kann. Sofern eine Ausweisung an strafrechtlich relevantes Handeln anknüpft, bieten die strafrechtlichen Verjährungsfristen (§§ 78 ff. StGB) einen geeigneten Rahmen zur Konkretisierung. Bei abgeurteilten Straftaten stellen die Fristen für ein Verwertungsverbot nach § 51 BZRG die Obergrenze dar (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2018 – BVerwG 1 C 16.17, NVwZ 2019, 486). Voraussetzung einer generalpräventiven Ausweisung ist, dass von der Ausweisung eine mögliche und angemessene generalpräventive Wirkung tatsächlich zu erwarten ist und dies in einer kontinuierlichen Ausweisungspraxis Ausdruck findet (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, § 53 Rn. 132 [Stand: Januar 2020]).
Im Falle der vom Kläger begangenen Verstöße von erheblicher Häufigkeit gegen gewichtige Rechtsgüter des Einzelnen, wie sie insbesondere der Verurteilung durch das Landgericht Würzburg vom 7. Dezember 2017 zugrunde liegen, besteht ein besonderes Bedürfnis, durch die Ausweisung andere Ausländer von der Begehung solcher Straftaten (hier insbesondere versuchte Vergewaltigung, gefährliche Körperverletzung und Bedrohung) abzuhalten. Die Ausweisung dient daher auch dem Zweck, verhaltenslenkend auf andere Ausländer einzuwirken, indem diesen die aufenthaltsrechtlichen Nachteile eines pflichtwidrigen Verhaltens aufgezeigt werden. Gerade in Fällen, in denen ein Ausländer so massiv straffällig wird wie der Kläger, besteht ein besonderes Bedürfnis hierfür.
1.2. Die bei Vorliegen einer tatbestandsmäßigen Gefährdungslage nach § 53 Abs. 1 AufenthG unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles (§ 53 Abs. 2 AufenthG) vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise des Klägers mit den Interessen an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an einer Ausreise des Klägers überwiegt.
§ 53 Abs. 1 AufenthG verlangt ein Überwiegen des Interesses an der Ausreise, das unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles im Rahmen einer umfassenden Verhältnismäßigkeitsprüfung festzustellen ist, wobei in die hierbei vorzunehmende Abwägung des Interesses an der Ausreise mit dem Bleibeinteresse die in § 53 Abs. 2 AufenthG niedergelegten Umstände in wertender Gesamtbetrachtung einzubeziehen sind. Diese sind nach den Umständen des Einzelfalles insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Ausländers, seine persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat sowie die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner, wobei die in Absatz 2 aufgezählten Umstände weder abschließend zu verstehen sind, noch nur zu Gunsten des Ausländers ausfallen müssen. Zudem sind stets die grund- und konventionsrechtliche Stellung des Ausländers und seiner Familie, die sich insbesondere aus Art. 2, Art. 6 GG und Art. 8 EMRK ergibt, und die sich daraus ergebenden Gewichtungen in den Blick zu nehmen. Umstände im Sinne des § 53 Abs. 2 AufenthG prägen den Einzelfall insoweit, als sie über die den vertypten Interessen zugrundeliegenden Wertungen hinausgehen oder diesen entgegenstehen. Insbesondere ist an dieser Stelle der Frage nachzugehen, ob und in welchem Maße die konkreten Umstände des Einzelfalles von vertypten gesetzlichen Wertungen abweichen. Sind im konkreten Fall keine Gründe – etwa auch solche rechtlicher Art – ersichtlich, die den gesetzlichen Wertungen der §§ 54, 55 AufenthG entgegenstehen, wird regelmäßig kein Anlass bestehen, diese Wertungen einzelfallbezogen zu korrigieren (zum Vorstehenden: VGH Mannheim, U.v. 13.1.2016 – 11 S 889/15, BeckRS 2016, 41711). Eine schematische und alleine den gesetzlichen Typisierungen und Gewichtungen verhaftete Betrachtungsweise, die einer umfassenden Bewertung der den Fall prägenden Umstände, jeweils entsprechend deren konkretem Gewicht, zuwiderlaufen würde, verbietet sich ebenso (BVerfG, B.v. 10.5.2007 – 2 BvR 304/07, NVwZ 2007, 946) wie eine „mathematische“ Abwägung im Sinne eines bloßen Abzählens von Umständen, die das Ausweisungsinteresse einerseits und das Bleibeinteresse andererseits begründen.
Gemessen an diesen Grundsätzen erweist sich die Ausweisung des Klägers als rechtmäßig. Das Ausweisungsinteresse überwiegt das Bleibeinteresse des Klägers unter Berücksichtigung sämtlicher den Einzelfall prägender Umstände.
Aufgrund der Verurteilung mit Urteil des Landgerichts Würzburg vom 7. Dezember 2017 zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten liegt beim Kläger das besonders schwerwiegende Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG und, da es sich bei den abgeurteilten Taten um Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit und die sexuelle Selbstbestimmung handelt, zudem das besonders schwerwiegende Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1a Buchst. b) und c) AufenthG vor.
Diesen nach gesetzlicher Wertung besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteressen steht kein vertyptes Bleibeinteresse nach § 55 AufenthG gegenüber, insbesondere liegen die Voraussetzungen des § 55 Abs. 2 Nr. 3 AufenthG (Ausübung des Umgangsrecht für einen im Bundesgebiet sich rechtmäßig aufhaltenden Minderjährigen) nicht vor. Auch wenn aus dem Vortrag des Klägers in der mündlichen Verhandlung nicht abschließend klar wurde, welche Regelungen vor dem Familiengericht in der Verhandlung vom 15. März 2021 getroffen wurden, so ist, auch wenn dem Kläger grundsätzlich ein Umgangsrecht mit seiner minderjährigen Tochter zustehen sollte, nach eigenen Angaben des Klägers nicht ersichtlich, dass er dieses – sei es nun wegen äußerer Umstände oder entsprechender Bedenken des Jugendamts – in absehbarer Zeit ausüben wird. Die Tatsache, dass der Kläger nunmehr in zweimonatigen statt dreimonatigen Abständen Bilder an seine Tochter schicken darf und solche von ihr erhält, ist in Bezug auf das Umgangsrecht irrelevant.
Ebenso wenig sind die Belange oder das Wohl eines Kindes i.S.d. § 55 Abs. 2 Nr. 5 AufenthG zu berücksichtigen. Denn nach eigenen Angaben des Klägers hat dieser keinen direkten Kontakt zu seiner Tochter. Nach dem Bericht des Landratsamts Würzburg – Amt für Jugend und Familie – vom 6. April 2021 kennt die Tochter des Klägers diesen nicht und hat keinerlei Bezug zu ihm. Wie aus dem genannten Bericht hervorgeht, ist daher nicht zu erwarten, dass sich eine Trennung auf das Kindeswohl negativ auswirken wird bzw. andere Belange des Kindes tangiert sind; zu berücksichtigen ist auch, dass sich die Straftaten des Klägers auch gegen die Mutter des Kindes gerichtet haben.
Zwar ist im Rahmen des (einfachen) Bleibesinteresse zu berücksichtigen, dass der Kläger schon seit 2001 in der Bundesrepublik Deutschland ist und sich sowohl im Maßregelvollzug als auch danach um Arbeit bemüht hat, was für eine gewisse wirtschaftliche Integration spricht. Allerdings ist angesichts der Vielzahl vom Kläger begangener Straftaten insgesamt nicht von einer sozialen Integration auszugehen. Nachdem der im Jahr 1974 geborene Kläger seine prägenden Jahre in Pakistan verbracht hat und fast täglich Kontakt zu seiner in Pakistan lebenden Familie hat, ist nicht davon auszugehen, dass ihm eine Rückkehr nach Pakistan vor unverhältnismäßige wirtschaftliche oder soziale Schwierigkeiten stellen wird. Im Gegensatz sind keine vertieften sozialen Kontakte oder sonstige Bindungen im Bundesgebiet – abgesehen von der Tochter (s.o.) – ersichtlich. Zwar ist im Rahmen des Bleibeinteresses die positive Entwicklung des Klägers im Maßregelvollzug zu berücksichtigen; für eine Ausweisung sprechen neben der Wiederholungsgefahr jedoch vor allem die Art und Schwere der begangenen Taten. Diesen kommt ein besonderes Gewicht zu, da sie sich gegen die körperliche Unversehrtheit richten. Die Ausweisung dient insbesondere dem öffentlichen Interesse, das Leben und die Gesundheit der Bevölkerung vor weiteren Straftaten des Klägers zu schützen. Dem kommt angesichts des hohen Ranges dieser Rechtsgüter ein bedeutsames Gewicht zu; durch das persönliche Verhalten des Klägers ist somit auch ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.
Somit überwiegt das öffentliche Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse des Klägers; Ziffer 1 des Bescheides vom 28. August 2020 ist damit rechtmäßig.
2. Auch die Befristung der Wirkungen der Ausweisung auf sechs bzw. acht Jahre bei Nichtnachweis der Straffreiheit (Ziffer 2 des angefochtenen Bescheides) ist nicht zu beanstanden. Gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG ist gegen einen Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Die Länge der allein unter präventiven Gesichtspunkten festzusetzenden Frist liegt gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG im Ermessen des Beklagten, darf aber gemäß § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG fünf Jahre nur in den Fällen der Absätze 5 bis 5b überschreiben. Nach § 11 Abs. 5 AufenthG soll die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbotes zehn Jahre nicht überschreiten, wenn der Ausländer aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht.
Bei der Bestimmung der Länge der Frist sind das Gewicht des Ausweisungsgrundes und der mit der Ausweisung verfolgte Zweck zu berücksichtigen. Es bedarf der prognostischen Einschätzung im jeweiligen Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das der zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. Die sich an der Erreichung des Ausweisungszwecks orientierende Höchstfrist muss sich aber an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) und den Vorgaben aus Art. 8 EMRK messen und ggf. relativieren lassen. Dieses normative Korrektiv bietet der Ausländerbehörde und den Verwaltungsgerichten ein rechtsstaatliches Mittel, um die fortwirkenden einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen zu begrenzen. Dabei sind insbesondere die in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten schutzwürdigen Belange des Ausländers in den Blick zu nehmen (BVerwG, U.v. 6.3.2014 – 1 C 2.13, BeckRS 2014, 49495, Rn. 12; U.v. 10.7.2012 – 1 C 19/1, BeckRS 2012, 56736, Rn. 42).
Gemessen hieran ist die Befristungsentscheidung nicht zu beanstanden. Der Beklagte hat die aus § 11 AufenthG resultierenden Vorgaben beachtet, das ihm hinsichtlich der Länge der Frist eingeräumte Ermessen erkannt und bei seiner Ausübung weder die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten, noch von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht (vgl. § 114 Satz 1 VwGO). Der Beklagte hat insbesondere die Schwere und Häufigkeit der vom Kläger begangenen Straftaten, die in der Person des Klägers vorliegende Wiederholungsgefahr sowie die fehlenden sozialen Strukturen berücksichtigt und auch die (fehlende) Vater-Kind-Beziehung gewertet. Andererseits wurde das positive Verhalten während der Unterbringung in die Entscheidung mit einbezogen. Die für die Ausübung des Ermessens wesentlichen Gesichtspunkte wurden damit berücksichtigt und angemessen gewichtet.
3. Auch die Abschiebungsandrohung in Ziffer 3 des streitgegenständlichen Bescheides begegnet keinen rechtlichen Bedenken.
Gemäß § 59 Abs. 5 Satz 1 AufenthG bedarf die Abschiebungsandrohung in den Fällen des § 58 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG keiner Fristsetzung; der Ausländer wird direkt aus der Haft oder dem öffentlichen Gewahrsam heraus abgeschoben. Nachdem sich der Kläger zur Verbüßung einer Freiheitsstrafe mit Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB im BKH L … befand, bedurfte es nach § 59 Abs. 5 Satz 1 AufenthG i.V.m. § 58 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG keiner Fristsetzung.
Auch die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung in Ziffer 3 Satz 2 des angegriffenen Bescheides für den Fall, dass die Abschiebung aus dem Maßregelvollzug bzw. aus der Haft heraus nicht möglich sein sollte, ist rechtmäßig. Rechtsgrundlage der Abschiebungsandrohung ist insofern § 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 59 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG. Die Länge der eingeräumten Ausreisefrist von 30 Tage wahrt den in § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG vorgegebenen Rahmen zwischen sieben und dreißig Tagen.
Die Klage war daher abzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO; die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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