Aktenzeichen 1 WNB 5/21
Leitsatz
Ein Wehrdienstgericht ist an der Durchführung eines schriftlichen Verfahrens unter Verwertung behördlich protokollierter Zeugenaussagen im Urkundenbeweis gehindert, wenn eine mündliche Verhandlung und die gerichtliche Vernehmung der Zeugen ordnungsgemäß beantragt sind.
Verfahrensgang
vorgehend Truppendienstgericht Süd, 4. Mai 2021, Az: S 1 BLa 1/19 und S 1 RL 1/21, Beschluss
Tenor
Der Beschluss des Truppendienstgerichts Süd vom 4. Mai 2021 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Truppendienstgericht Süd zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Gründe
1
Die fristgerecht eingelegte und begründete Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Rechtsbeschwerde in dem Beschluss des Truppendienstgerichts Süd vom 4. Mai 2021 ist zulässig und begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Truppendienstgericht (§ 23a Abs. 2 Satz 1 WBO i.V.m. § 133 Abs. 6 VwGO).
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1. Soweit der Antragsteller eine fehlerhafte Besetzung der Kammer wegen der Mitwirkung eines befangenen Richters rügt, liegt ein Verfahrensmangel im Sinne von § 22a Abs. 2 Nr. 3 WBO nicht vor.
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Grundsätzlich kann die Revision und – entsprechend – die mit einer Verfahrensrüge begründete Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Rechtsbeschwerde nicht auf das behauptete Vorliegen eines erst nachträglich bekannt gewordenen Befangenheitsgrundes gestützt werden; nur wenn der Richter der Vorinstanz tatsächlich und so eindeutig die gebotene Distanz und Neutralität hat vermissen lassen, dass jede andere Würdigung als die einer Besorgnis der Befangenheit willkürlich erschiene, begründet dies einen Besetzungsfehler im Sinne von § 138 Nr. 1 VwGO, der auch nach Beendigung der Vorinstanz noch mit Erfolg gerügt werden kann (BVerwG, Beschluss vom 16. Mai 2018 – 1 WNB 4.17 – juris Rn. 11).
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Der Antragsteller sieht den Anschein einer Voreingenommenheit und Parteilichkeit der Richter der Vorinstanz, weil diese ihn in den Entscheidungsgründen als Fanatiker bezeichnet hätten. Dies trifft aber schon in tatsächlicher Hinsicht nicht zu. In der vom Antragsteller in Bezug genommenen Textstelle heißt es ausdrücklich, er vertrete seine Ansichten “fast schon fanatisch”. Damit hat ihm das Truppendienstgericht nicht attestiert, er gehe mit blindem Eifer, rücksichtslos und intolerant gegenüber jeder abweichenden Meinung vor. Vielmehr sieht es die Schwelle zum Fanatismus noch nicht überschritten und beschreibt in plakativer Weise das Ergebnis seiner Auswertung schriftlicher Äußerungen des Antragstellers als Teil der Beweiswürdigung. Die gerügte Wortwahl verdeutlicht den von der Kammer festgestellten “missionarischen Eifer” des Antragstellers und begründet die Überzeugung der Kammer, der Antragsteller habe durch die damit einhergehende Störung des lebenskundlichen Unterrichts ein Dienstvergehen begangen. Dessen Umschreibung bringt sachnotwendig Kritik am Antragsteller zum Ausdruck. Diese Kritik ist bei objektiver Betrachtung zwar überspitzt, aber nicht polemisch oder distanzlos. Es liegt damit kein Fall vor, bei dem zwingend auf eine mangelnde Neutralität der Kammer geschlossen werden müsste und bei dem jede andere Würdigung als die einer Besorgnis der Befangenheit willkürlich erschiene.
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2. Ein Verfahrensmangel, auf dem die Entscheidung beruhen kann (§ 22a Abs. 2 Nr. 3 WBO, liegt aber in der unzureichenden Sachaufklärung durch das Truppendienstgericht, das trotz eines entsprechenden ausdrücklichen Antrages weder eine mündliche Verhandlung durchgeführt, noch die zur Beweiserhebung angebotenen Zeugen angehört hat (§ 18 Abs. 2 Satz 1, 2 und 3 WBO, § 23a Abs. 2 Satz 1 WBO i.V.m. § 86 Abs. 1 VwGO).
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Gemäß § 18 Abs. 2 Satz 1 WBO hat das Truppendienstgericht von Amts wegen den nach seiner Rechtsauffassung maßgeblichen Sachverhalt aufzuklären. Der Amtsermittlungsgrundsatz fordert insbesondere, dass das Truppendienstgericht bei der Ermittlung der nach seinem materiell-rechtlichen Standpunkt entscheidungserheblichen Tatsachen die erforderlichen Beweise erhebt. Ein Tatsachengericht verletzt seine Pflicht zur umfassenden Sachverhaltsaufklärung, wenn sich ihm auf der Grundlage seiner Rechtsauffassung eine weitere Sachverhaltserforschung aufdrängen müsste (BVerwG, Urteil vom 21. November 2017 – 1 C 39.16 – BVerwGE 161, 1 Rn. 22 m.w.N.). Es bestimmt den Umfang der Beweisaufnahme und die Art der Beweismittel grundsätzlich nach seinem Ermessen. Insbesondere darf es sich auch auf den Inhalt beigezogener Akten stützen und etwaige Protokolle über Zeugenaussagen auch ohne Zustimmung der Beteiligten im Wege des Urkundenbeweises verwerten. Anderes gilt, wenn ein Beteiligter die Vernehmung des Zeugen ausdrücklich beantragt oder sich sonst die Vernehmung aufdrängen muss. Insoweit findet die Verwertung im Wege des Urkundenbeweises bei förmlich beantragter Zeugenvernehmung ihre Grenze (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 13. September 1988 – 1 B 22.88 – Buchholz 402.24 § 24 AuslG Nr. 12 und vom 13. Februar 2019 – 2 WNB 5.18 – Buchholz 450.1 § 18 WBO Nr. 7 Rn. 10).
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Nach diesen Maßstäben hätte das Truppendienstgericht nicht ohne mündliche Verhandlung und Anhörung der benannten Zeugen entscheiden dürfen. Vielmehr musste es sich ihm auch im Lichte des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK aufdrängen, dass eine mündliche Verhandlung geboten war, um der Beweiswürdigung den unmittelbaren Eindruck von den Zeugen zugrunde legen zu können (vgl. BVerwG, Beschluss vom 28. September 2021 – 2 WNB 2.21 – Rn. 11).
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Nach der Rechtsauffassung des Truppendienstgerichts kam es für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der gegenüber dem Antragsteller verhängten erzieherischen Maßnahme darauf an, ob er den lebenskundlichen Unterricht vom 29. März 2017 – wie vorgeworfen – absichtlich oder zumindest vorsätzlich gestört hat. Der Antragsteller hat dies bestritten und am 24. September 2019 zum Beweis die Vernehmung der unterrichtenden Militärpfarrerin und von vier Teilnehmern des Unterrichts als Zeugen beantragt. Das Truppendienstgericht ist nach Auswertung der schriftlichen Aussagen dieser Zeugen im Urkundenbeweis ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu der Beweiswürdigung gelangt, dass es zur vorgeworfenen Störung des Unterrichts gekommen sei. Zwar habe der Oberstleutnant L. dies in Abrede gestellt und der Oberstleutnant K. nur von einer energisch geführten Diskussion berichtet. Die Kammer folge aber der Sachdarstellung der Militärpfarrerin …, die durch die Aussage des Oberstleutnant M. bestätigt werde. Dafür sprächen diverse Begleitumstände und die vom Antragsteller selbst eingeräumten Aussagen. Die Durchführung der beantragten Beweisaufnahme sei nicht erforderlich, da die Kammer den weiterreichenden Vorwürfen des Oberstabsgefreiten H. nicht gefolgt sei.
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Der Bevollmächtigte des Antragstellers rügt mit Recht, dass sich angesichts der grundlegend unterschiedlichen Darstellung des Unterrichtsablaufs durch die Militärpfarrerin …, den Oberstleutnant M. und den Oberstabsgefreiten H. einerseits und der Oberstleutnante L. und K. andererseits deren gerichtliche Vernehmung als Zeugen von Amts wegen aufdrängen musste. Denn der Urkundenbeweis lässt eine Überprüfung der Vollständigkeit und Glaubwürdigkeit der Aussagen durch Rückfragen nicht zu. Darüber hinaus musste sich dem Truppendienstgericht die förmliche Vernehmung der Zeugen auch deswegen aufdrängen, weil eine mündliche Verhandlung ausdrücklich beantragt und mit Beweisangeboten zu entscheidungserheblichem Tatsachenvortrag verbunden war.
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Vorliegend hat der Antragsteller mit Schriftsatz vom 24. September 2019 nicht nur ausdrücklich die Durchführung der mündlichen Verhandlung beantragt. Mit gleichem Schriftsatz hat er die Vernehmung der fünf Zeugen beantragt. Er hat die Beweisanträge mit konkreten Tatsachenbehauptungen verbunden. Hiernach hat er bestritten, die Bibel als “Schwachsinn” und den Propheten Mohammed als “Vollidioten” bezeichnet, die Militärpfarrerin während der einleitenden Worte mehrmals unterbrochen und die Äußerung getätigt zu haben, die Bibel bestehe nur aus Lügen und Schwachsinn. Er hat in Abrede gestellt, sich über die Inhalte des Christentums und des Islams beschwert und sich in Rage geredet zu haben. Außerdem hat er behauptet, dass durch ihn keine Störung des lebenskundlichen Unterrichts erfolgt sei und die Militärpfarrerin ihn nicht ermahnt habe, mehr Respekt zu zeigen.
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Zwar hat das Truppendienstgericht nicht festgestellt, dass sich der Antragsteller bei seinen Wortmeldungen in Rage geredet oder dass er die Bibel als “Schwachsinn” und den Propheten Mohammed als “Vollidioten” bezeichnet hat. Insoweit bedurfte es daher der vom Antragsteller beantragten Zeugenvernehmungen nicht. Die Vorinstanz hat aber festgestellt, dass es durch das Verhalten des Antragstellers objektiv zu einer Störung des lebenskundlichen Unterrichts gekommen sei. Diese liege in der Art und Weise seines Auftretens und Verhaltens während des Unterrichts und in seinen Äußerungen, nach denen die Bibel und der Koran “Märchenbücher” seien und in der Geschichte von der Sintflut einen Massenmord darstellen würden. Der Antragsteller trage seine Aussagen vehement, provokant und mit Nachdruck vor und vertrete sie fast schon fanatisch und mit missionarischem Eifer. Daher sei seine Einlassung, er habe durchweg sachlich argumentiert und zu keiner Zeit versucht, den Unterricht nach seinen Vorstellungen umzuleiten, widerlegt.
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Da der Antragsteller die Störung des Unterrichts in Abrede gestellt hatte, konnte die zum Beweis dafür beantragte Zeugenvernehmung nicht unterbleiben. Denn eine Verwertung der zur Begründung des Vorwurfs jedenfalls mit herangezogenen Zeugenvernehmungen im Urkundenbeweis war nicht mehr zulässig. Auch wenn aus der Sicht des Truppendienstgerichts die vorgeworfene Unterrichtsstörung bereits aufgrund des vom Antragsteller eingeräumten Vergleichs der Bibel und des Korans mit “Märchenbüchern” wahrscheinlich war, durfte es die Würdigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme nicht vorwegnehmen (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 22. September 1992 – 7 B 40.92 – Buchholz 11 Art. 33 Abs. 5 GG Nr. 71 und vom 12. März 2010 – 8 B 90.09 – juris Rn. 25).
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3. Der Senat macht von der nach § 23a Abs. 2 Satz 1 WBO i.V.m. § 133 Abs. 6 VwGO eröffneten Möglichkeit Gebrauch, den Rechtsstreit unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung an das erstinstanzlich zuständige Truppendienstgericht zurückzuverweisen (BVerwG, Beschlüsse vom 17. Mai 2018 – 1 WNB 2.18 – Buchholz 450.1 § 23a WBO Nr. 6 Rn. 8 und vom 3. Mai 2019 – 1 WNB 3.18 – juris Rn. 6). Da die Beschwerde bereits im Hinblick auf eine Verfahrensrüge Erfolg hat, kommt es auf die Rechtsfragen, die der Antragsteller als grundsätzlich klärungsbedürftig bezeichnet hat (§ 22a Abs. 2 Nr. 1 WBO), nicht an.