Strafrecht

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Aktenzeichen  12 Qs 20/21

Datum:
4.5.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 10321
Gerichtsart:
LG
Gerichtsort:
Nürnberg-Fürth
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
§ 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO
Art. 4 Abs. 4 Buchstabe b der Richtlinie (EU) 2016/1919 vom 26. Oktober 2016

 

Leitsatz

Die Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO liegen auch vor, wenn gegen den Beschuldigten Auslieferungshaft in anderer Sache im Ausland zum Zwecke der Überstellung ins Inland vollzogen wird.

Verfahrensgang

53 Cs 834 Js 26796/18 2021-03-25 Bes AGNUERNBERG AG Nürnberg

Tenor

1. Auf die sofortige Beschwerde des Angeklagten wird der Beschluss des Amtsgerichts Nürnberg vom 25. März 2021 – 53 Cs 834 Js 26796/18 – aufgehoben.
2. Dem Angeklagten wird für das Strafverfahren vor dem Amtsgericht Nürnberg Rechtsanwalt D. als Verteidiger beigeordnet.
3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Angeklagten diesbezüglich entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.

Gründe

I.
Am 23. November 2018 erließ das Amtsgericht Nürnberg gegen den Angeklagten einen Strafbefehl wegen Erschleichens von Leistungen. Dieser wurde – nach erfolglosen Versuchen der Zustellung an der angegebenen Wohnadresse – am 22. Mai 2019 an den von ihm benannten Zustellungsbevollmächtigten zugestellt.
Innerhalb der gesetzlichen Frist legte der Angeklagte keinen Einspruch gegen den Strafbefehl ein, sodass das Amtsgericht Nürnberg am 7. Juni 2019 dort einen Rechtskraftvermerk anbrachte. Sodann wurde die Vollstreckung eingeleitet.
Mit Schreiben vom 15. Februar 2021 zeigte sich Rechtsanwalt D. unter Vollmachtsvorlage als Wahlverteidiger des Angeklagten an und beantragte Akteneinsicht. Mit weiterem Schreiben vom 9. März 2021 beantragte er die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und legte Einspruch gegen den Strafbefehl ein, da dieser dem Angeklagten nicht zugestellt worden sei und er keine Kenntnis hiervon gehabt habe. Zugleich beantragte der Rechtsanwalt seine Beiordnung als Pflichtverteidiger, da sich der Angeklagte in Haft befinde.
Mit Beschluss vom 25. März 2021 lehnte das Amtsgericht Nürnberg den Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung ab. Gegen den ihm am 29. März 2021 zugestellten Beschluss legte der Rechtsanwalt mit Schreiben vom 30. März 2021, eingegangen beim Amtsgericht Nürnberg am selben Tag, namens und in Vollmacht des Angeklagten sofortige Beschwerde ein. Das Amtsgericht half der Beschwerde nicht ab.
Die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth hat beantragt, die sofortige Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.
Die Kammer hat ergänzende Erhebungen zur vom Rechtsanwalt behaupteten aktuell vollzogenen Haft des Beschwerdeführers in Serbien durchgeführt.
II.
Die zulässige Beschwerde hat in der Sache Erfolg.
1. Die sofortige Beschwerde ist statthaft (§ 142 Abs. 7 Satz 1 StPO) und auch im Übrigen zulässig eingelegt worden. Der Verteidiger selbst hat zwar kein eigenes Beschwerderecht, wenn der Antrag auf Beiordnung als Pflichtverteidiger abgelehnt wird (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 143 Rn. 62). Rechtsanwalt D. hat die sofortige Beschwerde indessen ausdrücklich im Namen und mit Vollmacht des Angeklagten angebracht. Hierzu war er aufgrund nachgewiesener Strafprozessvollmacht des Beschwerdeführers auch befugt.
2. Dem Angeklagten war Rechtsanwalt D. als Pflichtverteidiger beizuordnen, weil ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO vorliegt.
a) Nach der genannten Vorschrift ist ein Fall notwendiger Verteidigung gegeben, wenn sich der Angeklagte auf Grund richterlicher Anordnung oder mit richterlicher Genehmigung in einer Anstalt befindet. Der Begriff der „Anstaltsunterbringung“ ist weit auszulegen und umfasst neben der Straf- und Untersuchungshaft auch die Auslieferungshaft (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 140 Rn. 16).
aa) Unerheblich ist, ob die Pflichtverteidigerbestellung für die Sache, in der die Freiheitsentziehung vollzogen wird, oder für ein anderes Strafverfahren erfolgen soll. Denn die Verteidigungsmöglichkeiten des Angeklagten sind durch die vollzogene Freiheitsentziehung in beiden Fällen gleichermaßen eingeschränkt (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 30. August 1999 – 1 Ws 411/99, juris Rn. 11; LG Nürnberg-Fürth, Beschluss vom 29. Mai 2012 – 5 Qs 53/12, juris Rn. 3).
Soweit aufgrund systematischer Erwägungen zu früherer Rechtslage im Hinblick auf das Verhältnis von § 140 Abs. 1 Nr. 4 und 5 StPO a.F. vertreten wurde, § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO a.F. erfasse nicht den Fall einer in anderer Sache vollzogenen Freiheitsentziehung (dazu etwa LG Dresden, Beschluss vom 23. Mai 2018 – 14 Qs 16/18; LG Osnabrück, Beschluss vom 6. Juni 2016 – 18 Qs 526 Js 9422/16 (17/16), je in juris), ist diese Auffassung durch die Änderung des § 140 StPO aufgrund des Gesetzes zur Regelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019 (BGBl. 2019 Teil I, 2128) überholt.
bb) Nichts anderes gilt, wenn sich der Angeklagte im Ausland in Haft befindet (OLG Koblenz, Beschluss vom 30. Mai 1984 – 1 Ws 411/84, NStZ 1984, 522; SSW/Beulke, StPO, 4. Aufl., § 140 Rn. 25; vgl. auch den 21. Erwägungsgrund der Richtlinie (EU) 2016/1919 vom 26. Oktober 2016, ABl. L 297/1 vom 4. November 2016 für den Fall eines EuHB). So liegen die Dinge hier: Der Angeklagte befindet sich zur Überzeugung der Kammer derzeit in serbischer Auslieferungshaft. Das ergibt sich aus der Mitteilung des Bayerischen LKA vom 12. Februar 2021, wonach der Angeklagte aufgrund der internationalen Fahndung in Serbien festgenommen worden sei und einer dies bestätigenden weitergeleiteten Mail von Interpol Belgrad. Zwar verfügte die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth am 29. April 2021 auf Nachfrage der Kammer über keine gesicherten Erkenntnisse darüber, dass sich der Angeklagte in Serbien (weiterhin) in Auslieferungshaft befindet; das Auslieferungsersuchen an die serbischen Behörden sei gestellt worden. Diese tatsächliche Unsicherheit steht nach Auffassung der Kammer einer Pflichtverteidigerbeiordnung aber nicht entgegen, weil es jedenfalls keine Erkenntnisse gibt, die der gesicherten Festnahme des Angeklagten am 12. Februar 2021 widersprechen oder eine Beendigung der Auslieferungshaft belegen.
Eine Bewertung dahin, auf eine im Ausland vollzogene Freiheitsentziehung käme es nicht an, wäre mit dem Gesetzeswortlaut des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO nicht zu vereinbaren. Diese Vorschrift enthält keine räumliche Einschränkung im Hinblick auf den Ort der Anstaltsunterbringung. Auch nach Art. 4 Abs. 4 Buchstabe b der zitierten Richtlinie (EU) 2016/1919, deren Umsetzung § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO n.F. dient (BT-Drs. 19/13829, 34), ist es für die Gewährung von Prozesskostenhilfe in jedem Fall ausreichend, dass sich der Angeklagte in Haft befindet, ohne dass diese Voraussetzung nach Ort oder Anlass des Vollzugs der Freiheitsentziehung näher eingegrenzt würde (vgl. auch BT-Drs. 19/13829, 37).
b) Da § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO dem Gericht kein Ermessen einräumt, war beim Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen die Beiordnung des Pflichtverteidigers anzuordnen.
Der Beiordnung steht nicht entgegen, dass Rechtsanwalt D. vom Beschwerdeführer bereits als Wahlverteidiger mandatiert worden ist. Der Antrag auf Bestellung eines Pflichtverteidigers enthält nämlich die implizite Erklärung, die Wahlverteidigung werde mit der Beiordnung enden (OLG München, Beschluss vom 6. März 1992 – 1 Ws 161/92, wistra 1992, 237; KG, Beschluss vom 19. September 2011 – (2) 1 Ss 361/11 (53/11), juris Rn. 7; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 142 Rn. 40).
Der beantragten Beiordnung steht ebenso wenig entgegen, dass der Beschwerdeführer keinen ortsansässigen Rechtsanwalt beigeordnet sehen will. Denn das ist nach allgemeiner Ansicht kein wichtiger Grund im Sinne des § 142 Abs. 5 Satz 3 StPO, der einer Bestellung entgegenstünde (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 142 Rn. 51 f. m.w.N.).
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung von § 467 Abs. 1 StPO.


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